Wir saßen um den runden Mahagonitisch beim Nachmittagskaffee; von der Hängelampe mit dem grünen Schirm fiel ein warmes Licht auf den zierlich gedeckten Tisch mit seinen Kristalltellern und Sahnennäpfchen und seinen alten, weißen, wappengeschmückten Porzellantassen; die dickbauchige silberne Kaffeekanne blitzte, und der große Napfkuchen duftete sonntäglich. Mit lustigem Prasseln übertönten die brennenden Holzscheite im Kamin die grämliche Herbststimme des Novemberregens draußen.
»Doktor Hugo Meyer,« meldete der Diener und öffnete die Tür vor dem Erwarteten. Mein Vater stand auf. »Dein Erziehungsapparat,« flüsterte er mir lächelnd zu. Ich war wenig neugierig. Sie waren bisher einander alle ähnlich gewesen: grauhaarige Männer mit krummen Rücken und schmutzigen Fingernägeln, ältliche, bebrillte Fräuleins mit blutleeren Lippen – wirklich: nur gleichmäßig funktionierende »Erziehungsapparate«, aber keine Erzieher.
Pflichtschuldigst erhob ich mich, als Papa mich dem neuen Lehrer vorstellte, den er nach vielem Suchen für mich gefunden hatte. »Hier ist unsere Alix, Herr Doktor! Ein großes Mädel, nicht wahr? Sie werden sich tüchtig anstrengen müssen, damit der Geist sich streckt, wie der Körper.« Ich reichte ihm die Hand; sein warmer, kräftiger Händedruck ließ mich erstaunt zu ihm aufsehen, – meine früheren Lehrer hatten mir immer nur die Fingerspitzen berührt, was mich von vornherein hatte frösteln lassen.
Ein großer, breitschultriger Mann stand vor mir; ein Paar gute Augen von einem so reinen Blau, wie es mir noch bei keinem Menschen begegnet war, sahen mich forschend an. Und doch konnte ich nur schwer ein Lächeln verbergen: wie schlecht paßte der Mann, dachte ich, in den langen korrekten schwarzen Rock. Eines Arminius Lederwams und Panzer hätte ihm besser gestanden, und unter einem Büffelhelm würde der breite Germanenkopf mit dem gelockten rötlichen Haar und dem dichten Bart nie den Gedanken an einen preußischen Gymnasiallehrer haben aufkommen lassen. Er errötete unter meinem Blick und setzte sich mit einer ungeschickt verlegenen Bewegung, den Zylinder immer noch in der Hand, auf den Rand des ihm angebotenen Stuhles. Es bedurfte der ganzen gesellschaftlichen Geschicklichkeit meiner Mutter und der jovialen Liebenswürdigkeit meines Vaters, um eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Erst als das Gespräch sich ausschließlich auf des Besuchers eigentlichstes Gebiet konzentrierte, wurde er lebendig, und je mehr er den schwarzen Rock und das Zeremoniell der Salonkonversation vergaß, desto stärker trat seine Natur hervor: die eines Menschen voll Jugendkraft und Enthusiasmus. Ich empfand sie, wie ich den schäumenden Gießbach und die dunkeln, schattenden Bäume in dem kühlen, grünen Grund der Maxklamm empfand, wenn ich von den sommerschwülen Wiesen Grainaus dorthin flüchtete. Ein tiefes Aufatmen ging durch meine Seele. Ich öffnete den Mund nicht während des ganzen Besuchs, und er richtete nie das Wort an mich. Daß ich seinen Händedruck beim Abschied herzhaft erwiderte, war das einzige Zeichen meines Willkommens.
Am Abend desselben Sonntags war es; die Stunde, in der mein Vater für Wünsche am zugänglichsten, für Widerspruch am wenigsten empfindlich war. Dann pflegte Mama mit gekreuzten Armen tief in der Sofaecke seines Zimmers zu sitzen, der Patience zuschauend, die er, als bestes Nervenberuhigungsmittel, wie er meinte, allabendlich zu legen pflegte. Ich las währenddessen oder träumte vor mich hin.
»Wir hätten Alix doch in die Schule schicken sollen,« begann Mama.
»Damit sie mit fünfzig Cohns und Goldsteins in einer Klasse sitzt! Na, Gottlob, ist das Thema seit heute erledigt,« antwortete er.
»Und daß er ihr keine Religionsstunde geben will, ist doch auch bedenklich,« fuhr sie fort.
»Das ist's grade, was mir paßt,« sagte er mit etwas erhobener Stimme, »den Katechismus kann sie am Schnürchen, die Kirchenlieder auch, alles übrige läßt sich nicht lehren und nicht lernen, wenn man's nicht erfährt. Und zu dieser Religionserziehung sind die Herren Eltern da.«
»Ich freue mich auf die Stunden,« unterbrach ich das Gespräch, in der Angst, es könne sich zu einer Szene steigern.
»Jedenfalls muß ich immer dabei sein,« seufzte darauf Mama.
Ich erschrak. Vor niemandem vermochte ich so wenig aus mir herauszugehen wie vor ihr. Lähmend wirkte ihre Kühle auf mich. Wie eine stumme Geige war ich in ihrer Nähe: gehorsam geben die Saiten dem Spiel der Finger nach, aber mit keinem Ton antworten sie ihnen.
»Warum denn, Mama?« frug ich mit zuckenden Lippen, die Augen bittend auf sie gerichtet, »ich werde sicher gut aufpassen und immer fleißig sein.«
»Glaubst du vielleicht, ich tu's aus Vergnügen?!« Ihre Stimme wurde schärfer: »Es schickt sich einfach nicht, euch allein zu lassen!«
Eine unklare Empfindung, als habe mich etwas Unreinliches berührt, trieb mir die Schamröte in die Wangen.
Wir verstummten alle. Tiefer senkte ich den Kopf auf mein Buch, aber ich sah die Worte nicht; ich hörte auf den Regen, der eintönig gegen die Fensterscheiben schlug. Das Kaminfeuer nebenan war erloschen.
Am nächsten Nachmittag begann der Unterricht. Mama saß richtig mit einer Handarbeit dabei. Ihre Gegenwart schien auch der Lehrer peinlich zu empfinden, er kam nicht in die Stimmung, die mich an ihm mit so viel Hoffnung erfüllt hatte, und wir waren schließlich sichtlich enttäuscht voneinander. Wochenlang blieb alles beim alten, und ich sagte mir mit altkluger Bitterkeit, daß ich mich eben wieder einmal umsonst gefreut hätte. Aber mit dem nahenden Winter nahm die Geselligkeit zu, und schließlich war sie dermaßen ausgedehnt, daß ich meine Eltern fast nur zu Tisch noch sah. Besuche, Diners, Bälle, Wohltätigkeitsvorstellungen folgten einander auf dem Fuß. Meine Mutter hatte nur noch Zeit, die pflichtgemäße Mittagspromenade mit mir zu machen und meinen Lehrer zu begrüßen, wenn er kam. Täglich wiederholte sich dabei dieselbe Szene: mit linkischer Verbeugung und verlegenem Hüsteln, das sein gewaltiger Brustkasten Lügen strafte, trat er ein. »Sind Sie zufrieden mit Alix?« frug Mama. »O sehr,« antwortete er. Ihm freundlich zunickend, mir rasch die Stirne küssend, verabschiedete sie sich, und mit einem Gefühl der Erleichterung nahmen wir einander gegenüber Platz. Der Diener brachte den Kaffee, der, wie Papa gemeint hatte, eine Unterhaltung und damit ein näheres Bekanntwerden von Lehrer und Schülerin herbeiführen sollte. Aber es kam nie dazu. Dr. Meyer schluckte hastig den gebotnen braunen Trank herunter und zerbröckelte schweigsam den Kuchen zwischen den Fingern, während er meine Hefte durchsah. Erst durch den Lehrstoff, den er vortrug, taute er auf, und je mehr die Zeit vorrückte, desto heller leuchteten seine Augen, desto reicher strömten ihm alle Mittel eindrucksvoller Rede zu. War mein ganzer bisheriger Unterricht nichts als eine Anhäufung von Regeln, Versen, Namen, Zahlen und Daten gewesen, so leblos und reizlos für mich, wie das Spielzeug, mit dem Onkels und Tanten meine Schubläden füllten, so strömte jetzt mit ihm das Leben selbst mir zu, dessen Fülle ich in atemloser Aufmerksamkeit, in herzklopfender Erregung zu fassen und zu halten versuchte. Die toten Helden der Geschichte wurden lebendig vor mir; alle, die um der Freiheit und der Gerechtigkeit willen geblutet hatten – von Leonidas und Tiberius Gracchus bis zu den Amerikanern, den Griechen, den Polen der Neuzeit – zeigten mir ihre Narben und Wunden, und meine Begeisterung entflammte sich an ihren Taten und Leiden. Die Dichter sprachen zu mir, und die Lehrer und die Propheten der Menschheit brachten dem kleinen Mädchen die unvergänglichsten ihrer Schätze. Wenn sie auch ihren Wert noch nicht zu würdigen verstand, so erkannte sie doch mit inbrünstigem Schauern ihren Reichtum, und die Welt, bisher für sie nur erfüllt mit den Nebelgestalten ihrer eignen Schöpfung, sah sie nun aus tausend lebendigen Augen an.
Mündlich und schriftlich hatte ich Gelesenes und Gehörtes nicht nur automatisch wiederzugeben, sondern meine eignen Eindrücke und Gedanken daran zu knüpfen. Stets verteidigte ich leidenschaftlich meine Helden, und um ihre Widersacher zu malen, war mir das tiefste Schwarz nicht schwarz genug. Suchte der Lehrer meine Engel in Menschen zu verwandeln, so bäumte sich meine Empfindung feindselig gegen ihn auf; und geschah es, daß mein Verstand ihm recht geben mußte, so trauerte ich verzweifelt vor dem gestürzten Heros, als wäre mir ein Freund gestorben.
Ein hoher hölzerner Fußschemel war meine Rednertribüne. Ich konnte nicht zusammenhängend sprechen, wenn ich am Tische saß oder stand; ich bedurfte eines merkbaren räumlichen Abstands zwischen mir und dem Zuhörer und war daher instinktiv auf diesen Ausweg verfallen. Nur in Mamas Gegenwart half auch der Fußschemel nichts, seitdem sie einmal zugehört und über mein Pathos...