Einleitung
Am Morgen des 28. Mai 1937 brach auf einer Straße der schottischen Universitätsstadt ein rundlicher, älterer Mann zusammen – kurz danach verschied er an einem Herzanfall. Eine zahlreiche Hörergemeinde, die zu einem Sommerkurs über ›Individualpsychologie‹ zusammengekommen war, wartete an jenem Tag umsonst auf ihren Lehrer: Alfred Adler war nicht mehr. Mit 67 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolges in Amerika, wo er seit 1930 gelebt hatte, schied Adler als erster der drei großen Begründer moderner Tiefenpsychologie aus dem Leben. Zweieinhalb Jahre später sollte ihm der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, in den Tod folgen (1939). C. G. Jung überlebte beide bis 1961.
War Alfred Adler eigentlich ein ›Tiefenpsychologe‹? Seine jetzt wieder in der ganzen Welt zunehmende Gemeinde ist sich darüber nicht einig und die Frage wurde zum Generalthema der 1966 in Holland stattfindenden Tagung des ›Internationalen Vereins für Individualpsychologie‹ gewählt.
»Mensch sein heißt, sich minderwertig zu fühlen und nach Überlegenheit zu trachten.« »Es gibt keine absolute Wahrheit, was aber einer solchen noch am nächsten kommt, ist die Gemeinschaft.« »Sexualität ist keine Privatsache.« »Gefühle sind keine Argumente.« »Neurose ist eine Fiktion; der Neurotiker läuft ständig seinen Ohrfeigen nach.«: All diese typischen Aussprüche Adlers scheinen aus einer ganz anderen Gedankenwelt zu stammen, als die Lehre von der Libido, vom Unbewußten, von der Verdrängung und dem Widerstand, oder von den Archetypen und von Extra- und Introversion, wie wir sie bei Freud und C. G. Jung kennen. Und trotzdem sind im Grunde genommen Psychoanalyse (Freud), analytische bzw. komplexe Psychologie (Jung) und vergleichende Individual- und Gemeinschaftspsychologie (Adler) doch eines Geistes Kind. Auch historisch gesehen gehören sie zusammen, obwohl die Weltanschauungen ihrer jeweiligen Begründer fächerartig auseinanderlaufen. Es wurde vielfach versucht, ihre Andersartigkeit auf Kurzformeln zu bringen. So wurde gesagt, Freuds Psychoanalyse eigne dem Menschen der Großstadt, Jungs analytische Psychologie dem der Natur noch verwachsenen Dorfmenschen und dem Primitiven, Adlers Individualpsychologie, eine »Psychologie für Oberlehrer«, aber dem Einwohner mittlerer und kleinerer Städte. Oder: Freud hat die Psychologie des Kleinkindes, Jung jene der ›zweiten Lebenshälfte‹ über 40 Jahre, Adler hingegen die des Jugendlichen durchleuchtet, wobei sich die drei Systeme gegenseitig ergänzen. Die französische katholische Psychoanalytikerin Maryse Choisy will sogar in den Namen Freud, Jung und Adler archetypische Symbolik entdecken: Freud war ein Prophet der Sexualtriebe und damit der Lebensfreude; Adler, mit dem Namen des königlichen Vogels der Deuter des Geltungsstrebens und des Überlegenheitsgefühls; Jung hat die Menschheit zum Jung- brunnen des kollektiven Unbewußten zurückgeführt! Wie Karikaturen, so haben auch solche Deuteleien immer irgendeinen typischen Zug, den sie aber gänzlich übertreiben und vereinfachen. Jung war ein Alchimist der Psyche, ein »ahistorischer Panpsychist«, mit einem Hang zur Parapsychologie; Freud, im Grunde genommen Naturwissenschaftler, erwartete die Lösung aller Probleme der Psychologie von einer »vollkommeneren Physiologie«. Adler dagegen war kein Theoretiker, sondern ein Realist, ein Pragmatiker, ein praktischer Arzt und Helfer. Bei weitem weniger auf ›Wisschenschaftlichkeit‹ bedacht, wollte er ein praktischer Menschenkenner und -helfer sein und bleiben, und gerade von diesem seinem Hang legt das vorliegende Buch das schönste Zeugnis ab. Er schrieb nicht gern und achtete wenig auf Stil.
Der hier vorliegende Text gibt eine Reihe von Vorträgen wieder, die er in Wien 1926 gehalten hatte und die einer seiner Hörer (namens Broser) mitstenographierte und somit für die Nachwelt retten konnte.
Wer war nun Alfred Adler, dessen Werke heute in Amerika wieder großes Interesse finden, den ein Max Scheler und ein Keyserling noch als einen ›Quellengeist‹ unserer Zeit betrachteten, der aber in deutschen Landen zu den großen Vergessenen gehört?
Am 7. 2. 1870 in Wien als zweiter Sohn eines kleinbürgerlichen Getreidehändlers geboren, der aus dem ungarischen Burgenland eingewandert war, hatte er noch vier männliche und zwei weibliche Geschwister. Erst später erwarb er die österreichische Staatsbürgerschaft, wie er auch mit seiner russischen Frau Raissa zum evangelischen Glauben übertrat, noch vor der Geburt seiner vier Kinder. (Einer seiner Brüder wirkt noch heute als Bibliothekar am Vatikan.) Bereits mit vier Jahren erklärte er, er wolle Arzt werden; der frühe Entschluß entsprang aus dem Eindruck des Todes seines Bruders, der neben ihm in seinem Bett starb, aber auch aus dem Wunsch, seine kränkelnde Mutter zu ›heilen‹, wie auch aus der Tatsache, daß er selbst ein schwächliches, vielleicht sogar ein rachitisches Kind war. All diese Umstände sind für das Verständnis seiner Lehre nicht minder wichtig als seine Kindheit auf offener Straße in Penzing (heute XIII. Bezirk Wiens). Er selbst pflegte immer wieder, und nicht nur im Scherz, zu behaupten, seine »Menschenkenntnis« verdanke er eigentlich nur seiner »Straßenjungenkarriere«. Als sich seine Praxis als junger Augenspezialist in der jüdisch-kleinbürgerlichen Praterstraße nicht rentierte, wurde er ein beliebter praktischer Arzt, nach dem Muster des gemütlichen, gutmütigen Hausarztes, ganz seinem pyknischen Körperbau und zyklothymen Temperament entsprechend. Er heiratete 1897; 1898 wurde seine Tochter Valentine geboren, auf die 1901 Alexandra – heute bekannte Neuropsychiater in der New Yorker Park Avenue –, 1905 Kurt (ebenfalls New Yorker Psychiater) und 1909 Nelly folgten. Die älteste Tochter ist mit ihrem Mann in den dreißiger Jahren in das Heimatland ihrer Mutter ausgewandert, wo beide offensichtlich einer ›Säuberung‹ zum Opfer fielen. Als er einmal für den damals in Wiener Ärztekreisen noch verlachten Freud Stellung nahm, erhielt er von diesem eine heute bereits legendär gewordene Postkarte mit der Einladung, seiner Studiengruppe, die sich mittwochs in seiner Wohnung in der Berggasse versammelte, beizutreten. 1907 veröffentlichte Adler seine »Studie über Minderwertigkeit von Organen«, den ersten Wurf zu seiner späteren Lehre vom »Organdialekt« oder der »Organsprache«, die zusammen mit dem »Sexualjargon« – das geschlechtliche Verhalten als Ausdrucksbewegung gedeutet! – den Anstoß zu den ersten systematischen Entwürfen einer psychosomatischen Medizin geben sollten.[1]
Die geradezu revolutionäre Bedeutung der »Studie« wird nur vor dem Hintergrund der damals vorherrschenden Darwinschen Lehre vom ›Überleben der Tüchtigen‹ und der Entartungslehre Lombrosos ersichtlich, nämlich als eine Reaktion auf beide. Im Mittelpunkt der Beobachtungen Adlers als Augenarzt stand die Feststellung, daß schwächere Organe, deren Schwäche sich häufig vererbt, sich oft nicht nur kompensieren, also zu einem funktionalen Ausgleich gelangen, sondern sogar auch überkompensieren zu einer höheren, manchmal genialen funktionalen Überlegenheit. War es nicht eigentümlich, daß der Stotterer Demosthenes zum großen Redner, der kurzsichtige Menzel zum bedeutenden Maler, der ebenfalls kurzsichtige Gustav Freytag zu einem peinlich genau beschreibenden Schriftsteller wurden? Schielt nicht Dürer auf seinem Selbstbildnis, war El Greco aller Wahrscheinlichkeit nach nicht astigmatisch? Viele Musiker litten an Minderwertigkeiten des Gehörs und ertaubten, wie Beethoven, Smetana und Clara Schumann; an Bruckners Ohr war ein Naevus zu merken, Mozarts Außenohr war degenerativ verformt. Waren es in diesen Fällen nicht gerade solche ›Organminderwertigkeiten‹, die zu einer erhöhten Leistung der betroffenen Organe den Ansporn gaben? Damit war die paradoxe Frage Lombrosos, wieso das ›Genie‹ oft als ein »dégénéré supérieur« erschien, eigentlich gelöst, wie auch das Überleben der biologisch ›Minderwertigen‹: die rätselhafte Erscheinung des ›Genies‹, die damals zu einer wahrhaften ›Genie-Religion‹ geführt hatte, wurde auf einmal naturwissenschaftlich erklärbar: Genie war tatsächlich ›vielleicht nur Fleiß‹, wie bereits Buffon, Lessing und Goethe[2] lehrten: nämlich das Ergebnis eines früh, durch die biologisch bedingte, ursprünglich minderwertige Funktion eines Organs einsetzenden Trainings. Wenn nun Adler zunächst annahm, das betroffene Organ kompensiere sich wie von selbst, und allmählich dazu kam, im Gehirn ›das‹ allgemeine Kompensationsorgan zu sehen, so mußte er dann entdecken, daß die Tatsache, ob überhaupt ›kompensiert‹ oder gar überkompensiert, andererseits aber in vielen Fällen nicht kompensiert (dekompensiert) wurde, gar nicht vom Organ, auch nicht vom zentralen Nervensystem, sondern immer nur von dem Willen des betroffenen Menschen, von seinem »psychischen Überbau« und nicht vom biologischen Unterbau abhing. So ging er immer mehr von seiner biologistischen Betrachtung der organischen Minderwertigkeit zur Entdeckung der Wichtigkeit des rein subjektiven, wenn auch oft ungewußten ›Gefühls‹ der Minderwertigkeit über. Diese Minderwertigkeit war oft sachlich gar nicht vorhanden, sondern nur eingebildet, oder aber durch bloß soziale negative Bewertung bedingt, wie etwa bei...