Meran, du Schöne
Warum fährt man nach Meran? Wegen die schianen Platzln. Und warum kehrt man nach Meran zurück? Wegen die schianeren Platzln. Die schöneren Plätze sind die interessanten, lebendigen und ganz und gar gegenwärtigen Plätze, und davon gibt es in Meran tatsächlich viele. Diese Orte sind vor allem bewegt – oft auch geschaffen – von Menschen, die sich etwas mehr einfallen lassen, als nur vom Tourismus zu leben. Es sind Orte, an denen kulturelle Werte durchaus im Widerspruch, auf jeden Fall aber in engagierter Auseinandersetzung entstehen.
Meran, einst Sitz der Grafen von Tirol, hat seine politische Bedeutung längst eingebüßt und ist mit knapp 39.000 Einwohnern nicht gerade groß. Doch die viel besuchte alte Kurstadt ist ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum Südtirols und eine Kulturstadt mit Tradition. Baumeister, Literaten, Künstler, Musiker haben sich, so sie es sich leisten konnten, hier aufgehalten, einige haben Meran porträtiert – in Schrift und Bild. Und noch heute erweist sich die Stadt als überraschend vielstimmig, wenn es um Kunst und Kultur geht; zahlreiche Meraner Künstlerinnen und Künstler haben längst Anschluss an die internationalen Kunstzentren gefunden.
Wer nach Meran kommt und sich einlesen will, erfreut sich an einer großen Palette ausgezeichneter Literatur über den Ort und seine Geschichte; einiges davon konnte in dieses Buch einfließen, wofür ich zu danken habe – siehe die Literaturliste im Anhang. Daneben ist es dieser spezielle Mikrokosmos, der seine Anziehungskraft ausübt, und den kann man nur selbst erkunden – einige persönlich gefärbte Tipps werden die Leserinnen und Leser hier immerhin finden. Im Kleinen gibt es noch zahlreiche Aspekte und Nischen, die nicht in die Meran-Bücher Eingang gefunden haben, die unspektakulären Dinge oder auch Orte, die sich im Verborgenen entfalten oder nicht als herzeigbar gelten – nicht alles, was interessant ist, ist auch im herkömmlichen Sinn schön.
In diesem Buch steht das Meran der Meranerinnen und Meraner im Mittelpunkt – und das heißt zuallererst: Wir haben es mit einem Ort zu tun, der gleichermaßen italienisch wie deutsch ist. Dafür spricht die Geschichte: Das faschistische Regime hat in der Zwischenkriegszeit die urbanen Zentren Südtirols durch eine Reihe von Italianisierungs-Maßnahmen, darunter die Ansiedlung von Arbeitern aus dem Süden Italiens, nachhaltig verändert. Die wenigsten wissen, dass Meran noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine „Heeres-Stadt“ war (worauf noch heute die vielen, meist leer stehenden Kasernen hinweisen), dass auffallend viele Soldaten das Straßenbild prägten – was erst so richtig auffiel, als sie abgezogen waren: Die abgestürzten Umsätze der Meraner Gastronomie machten die Absenz des Heeres schmerzlich spürbar.
Die Stadt ist ein beliebtes Urlaubsziel. Man lebt hier nolens volens mit dem Tourismus, manche umschiffen ihn, andere machen ihn für das eigene Tun nutzbar. Von den Meraner-Innen kann man jedenfalls lernen, wie man Touristenströmen ausweicht – am Beispiel des Schlosses der Schlösser lässt sich das exemplarisch zeigen.
Schloss Tirol
… über der Stadt thronend und weithin zu sehen – ein absolutes Muss für alle Besucherinnen und Besucher? Ja, unbedingt. Aber bitte nicht zur Hauptsaison im Tross mit Jederneckermann – es sei denn, man will den fünfzehnminütigen Fußweg von Dorf Tirol bis zum Schloss (zwischen Dorf und Schloss besteht Fahrverbot) im Rudel mit anderen Touristen zurücklegen, um dann die Schlossmuseumsmeile wieder mit all den anderen Besuchern zu durchlaufen – oder nach einer halben Stunde den Museumsshop aufzusuchen, um ein Buch zu kaufen, das einem weitere Besichtigungsbemühungen erspart.
Warum nicht gleich anders? Es gibt Gelegenheiten für einen ganz anderen Schlossbesuch – zu einer Zeit, da der Touristenstrom nicht gar so groß ist. Im Spätherbst zum Beispiel, wenn die Landschaft einen herben Reiz verströmt, oder im Herbst bei stürmischem Wetter, wenn Nebelfetzen den mächtigen Bergfried umtanzen. Man muss den Turm, den Bergfried, in dem Tirols Geschichte der letzten hundert Jahre von ganz unten bis ganz oben Vitrine für Vitrine dokumentiert ist, unbedingt erklimmen, schon allein, um den sagenhaften Ausblick auf das Meraner Becken zu genießen und die Schlossanlage von oben in den Blick zu nehmen. Schloss Tirol ist von 15. März bis 10. Dezember täglich außer Montag von 10 bis 17 Uhr geöffnet, im August von 10 bis 18 Uhr.
Oder man nutzt einen der Anlässe, der die MeranerInnen zu ihrem Schloss hinaufzieht, weil es etwas Spezielles zu sehen gibt, zum Beispiel eine der hochkarätigen Ausstellungen, die droben immer wieder gezeigt werden. Wenn in Meran Hochsaison ist, geht man allerdings am besten erst abends aufs Schloss: Die Sommer-Soireen sind seit vielen Jahren wohlüberlegte Kulturangebote mit dem Ziel, den eindrucksvollen Rittersaal nicht museal, sondern ganz normal für die Allgemeinheit zu öffnen, ihn mit Musik oder einer literarischen Darbietung zu beleben. Den Schlosshof, den man sonst vielleicht nur durcheilt, kann man in der Pause bei einem Glas Weißwein als angenehm umfriedeten Aufenthaltsort genießen und ganz nebenbei dem Südtiroler Slang rundum ein Ohr leihen. Der nächtliche Rückweg nach Dorf Tirol wird im ersten Teil von Fackeln beleuchtet; die Aussicht auf Merans Lichtersee ist ebenso schön wie der Ausblick am Tag. Hat man bequeme Schuhe an (oder zum Wechseln dabei) und ist nicht mit dem eigenen Auto, sondern mit dem Bus nach Tirol gefahren, geht man in einer Sommernacht am besten überhaupt zu Fuß in die Stadt zurück – Taschenlampe nicht vergessen! Hat man erst einmal die von Hotels gesäumten Straßen der Ortschaft hinter sich gelassen, um in den Segenbühelweg, später den Tirolersteig einzufädeln, steht einer romantischen kleinen Wanderung nichts mehr im Weg. Der Tirolersteig endet bei der Pfarrkirche St. Nikolaus, also ganz im Zentrum.
Auch für das Hinauffahren bietet sich eine sehr zu empfehlende Variante an: Man nähert sich Schloss Tirol nicht von Dorf Tirol, sondern von der Westseite her. Da es oben keine Parkplätze gibt, steigt man im Zentrum in den Bus nach Schloss Thurnstein, wo man im Sommer auf der Terrasse sitzend einen Kaffee trinken kann; von hier führt ein Fußweg in zwanzig bis dreißig Minuten zum Schloss. Auf dem Weg liegt der sonnige Weiler St. Peter, ein echtes Kleinod, das man wie nebenbei, doch nicht in Eile mitnimmt: Man sollte sich ein wenig Zeit nehmen, die kleine romanische Kirche mit Fresken aus dem dreizehnten Jahrhundert und den lauschigen Friedhof zu besuchen.
Meran, die Schöne. Die Stadt ist sowohl, was das Klima, die Lage und die Umgebung, als auch, was die Architektur und das städtische Leben angeht, in der Tat etwas Besonderes: Das Raue, die hohen Berge, die nahe gelegenen Gletscher und das südlich Weiche gehören gleichermaßen zu Meran. 300 Sonnentage im Jahr lassen den hiesigen Wein allerfeinst gedeihen, und wunderschön ist Merans submediterrane Vegetation, die ungewöhnlich ist für die alpine Lage. Die Gärten und Spazierwege und der Großteil des Baumbestandes wurden hier in einer Zeit, als die mittelalterlichen Bäder und der Luftkurort von Trinkkuren verdrängt wurden und der Tourismus im neunzehnten Jahrhundert ähnlich wie im Schweizer Davos überregionale, ja internationale Dimensionen erreichte, gezielt angelegt.
Auch für mich als Boznerin mit reichlich Meraner Verwandtschaft ist Meran der schönere Ort meiner Kindheit. Dass meine Verwandten in einem berühmten Luftkurort wohnten, interessierte mich damals nicht, und die Information, dass Palmen und Glyzinien hier deshalb so gut gedeihen, weil die Winter mild und trocken sind, hätte mich gelangweilt. Doch die für Meran charakteristische Vegetation faszinierte mich schon als kleines Mädchen; die Bäume, die am dichtesten den Stadtteil Obermais, aber auch viele andere Bezirke in auffallender Weise prägen1, lösten Geschichten und die eine oder andere Fantasterei in mir aus. Heute schätze ich die prachtvollen Baumriesen als Augenweide und Schattenspender auf meinen Spaziergängen. Während man in Scharen zu den Gärten von Schloss Trauttmansdorf pilgert, wende ich auf meinen Wegen den Blick einfach nach oben und erfreue mich der mächtigen Baumkronen oder der bizarren Zweigformationen einzelner Baumexoten. Und dann diese herrlich sprechenden Namen, schon allein darüber ließen sich viele Geschichten erzählen: Atlaszeder, Stieleiche, Arizona-Zypresse, Gelbkiefer, Sommerlinde, Spitzahorn, Südlicher Zürgelbaum, Judasbaum, Stechpalme, Italienische Zypresse, Seestrandkiefer, Glanzmispel, Libanon-Zeder …!
Große Araukarie mit Blick zur Kapelle der Zenoburg
1Im digitalen Baumkataster der Gemeinde Meran erhält man Informationen zu jedem einzelnen Baum und zu den Meraner Naturdenkmälern:...