1. Mesopotamien – was ist das eigentlich?
Der Begriff Mesopotamien kommt aus dem Griechischen und bezeichnet das «Land zwischen den Flüssen» (gebildet aus meso- «mittig» und potamos «Fluss»), also das «Zweistromland». Damit sind die beiden mächtigen Ströme Euphrat und Tigris gemeint, die in den Gebirgen der modernen Türkei entspringen und den Irak sowie im Falle des Euphrats auch Syrien durchqueren, um dann in der Ebene südlich von Bagdad eine von ihren vielen Nebenarmen und Kanälen geprägte Flussauenlandschaft zu bilden, bevor sie schließlich in den Persischen Golf münden.
Der Ausdruck stammt aber nicht von den Anrainern der großen Flüsse selbst, sondern gibt eine Außenperspektive wieder. Denn seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. war in verschiedenen, im östlichen Mittelmeerraum gesprochenen Sprachen für die Bezeichnung der östlichen Nachbarregion der Begriff Naharaim/Naharin üblich – zu deutsch «Land der beiden Flüsse» oder eben «Zweistromland». Dieser Ausdruck entspricht der geographischen Einheit der arabischen Jezirah, was «Insel» bedeutet – ein Wort, das ebenso wie Naharaim/Naharin auf die Lage zwischen den beiden Strömen hinweist. Es handelt sich um das von den Nebenflüssen des Euphrats gespeiste, vor allem als Weideland und für den Regenfeldbau genutzte Gebiet zwischen dem Taurusgebirge und Bagdad, wo sich die beiden Flüsse beinahe treffen. Genau in dieser Bedeutung wird ursprünglich auch der griechische Begriff Μεσοποταμία (Mesopotamía) verwendet – zum Beispiel in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel. Auch der griechische Gelehrte Strabo gebraucht in seiner im Jahr 23 n. Chr. vollendeten Geographie die Bezeichnung Mesopotamien bloß für dieses Gebiet, während er hingegen den Süden des heutigen Irak als Babylonien bezeichnet. Erst im zweiten nachchristlichen Jahrhundert dehnte der Geograph Claudius Ptolemäus den Begriff auch auf das Land südlich von Bagdad aus und stellte so einen Zusammenhang zwischen der Jezirah und einem völlig anderen Lebensraum her: der fruchtbaren Schwemmebene des heutigen Südirak, wo die künstliche Bewässerung des Ackerlandes durch ein weitläufiges Kanalsystem das Zusammenleben von bis dahin unvorstellbar großen Menschenmengen ermöglicht hatte – ein Projekt, das seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. in der Entstehung riesiger Städte resultierte.
In seiner modernen Verwendung entspricht der Begriff Mesopotamien der des Ptolemäus. Über die rein geographische Zuweisung hinaus handelt es sich aber um ein intellektuelles Konstrukt der westlichen Wissenschaft und Weltanschauung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Vertreter dieser Konzeption definierten – analog zu Ägypten – eine Flusskulturlandschaft mit intensiver künstlicher Bewässerung als zentrale Region einer «frühen Hochkultur», wobei ihnen die Lebenswelt «zwischen den Flüssen» Euphrat und Tigris als eine kulturelle Einheit erschien. Als Kernland nahmen sie dabei aber im Gegensatz zur antiken Verwendung des Begriffs nicht die Jezirah, sondern den heutigen Südirak wahr, dessen Lebensformen und kulturelle Errungenschaften sie als maßgeblich für den größeren geographischen Raum betrachteten. Ausgangspunkt ihres historischen Narrativs war traditionell die Ausbildung der städtischen Lebensweise im ausgehenden 4. Jahrtausend v. Chr., die in der Folge vom Süden aus die Gegenden entlang der oberen Flussläufe erreichte. Das Interesse der Wissenschaft verdiente dieses «Mesopotamien» deshalb, weil es nach dem damals vorherrschenden teleologischen Geschichtsbild als «Wiege der Zivilisation» den Schauplatz der ersten Stufe in der Entwicklung der westlichen Gesellschaft und ihrer Grundelemente (z.B. städtisches Leben, Recht, Schrift und Monumentalität) darstellte. Ganz wesentlich ist, dass es sich bei dem Mesopotamien dieser Vorstellung um eine «tote Zivilisation» handelte, deren Erbe im Wege der biblischen und griechischen Vermittlung einzig Europa ist – nicht aber die islamische Welt, an der, diesem Denken zufolge, die Fackel des Geistes vorüberging. Vor allem in der Geschichtswissenschaft gilt solch kultureller Evolutionismus heute als völlig überholt, was allerdings recht wenig Auswirkung auf die öffentliche Wahrnehmung von Mesopotamien hat, dessen Wert gerne daran gemessen wird, inwieweit sich Kontinuitäten in die eigene Lebenswelt konstruieren lassen.
Gelegentlich wird «Mesopotamien» als Synonym für den «Alten Orient» gebraucht, was der Wortbedeutung aber nicht entspricht. Diese Überlegung führt aber erneut zu dem wichtigen Punkt der geographischen Abgrenzung. Ich schreibe diese Zeilen in der kleinen Stadt Qaladze (Qalat Dizah) am Oberlauf des Kleinen Zab, in der Kurdischen Autonomen Region des Irak. Vom 9. bis 7. Jahrhundert v. Chr. war diese Gegend Teil des neuassyrischen Reiches. Wir graben dort seit 2015 eine Siedlung aus dieser Zeit aus, auch weil daselbst eine in Keilschrift abgefasste Urkunde über den Kauf einer Frau aus dem Jahr 725 v. Chr. gefunden wurde. Flussabwärts liegt nahe der Stadt Raniya der eindrucksvolle Siedlungshügel von Tell Shemshara, wo schon im Jahr 1957 bei Rettungsgrabungen anlässlich der Errichtung des Dokan-Damms Keilschriftbriefe aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. gefunden wurden. Sie erhellen ein bewegtes Jahr in der Geschichte der Stadt Schuscharra, so der alte Name, als sie ihre Interessen im Konflikt zwischen den politischen Mächten am Tigris und im Zagrosgebirge zu wahren versuchte. Sind wir hier in Mesopotamien oder nicht?
Wenn der heutige Südirak und seine Stadtkultur als Fokus Mesopotamiens dienen, wird die gewichtige Rolle außer Acht gelassen, die die Regenfeldbauregionen des sogenannten Fruchtbaren Halbmondes schon gut vier Jahrtausende vor der «städtischen Revolution» im 4. Millennium v. Chr. in der Entstehung und Ausbreitung der dörflichen Lebensweise spielten. Moderne Großstädte wie Aleppo, Mosul und Erbil haben ihre Wurzeln in dieser Zeit und sind damit viel älter und viel langlebiger als die anderen Städte in der Schwemmebene. Auch im Zentrum der Kleinstadt Qaladze liegt ein imposanter Siedlungshügel, dessen früheste Schichten mit Sicherheit älter sind als die Stadt Uruk. Der Begriff «Fruchtbarer Halbmond» wurde 1916 von James Henry Breasted geprägt, um die Gebiete im Windschatten der Gebirgszüge Zagros, Taurus und Libanon zu beschreiben, wo die ersten sesshaften Ackerbauern Getreide und Hülsenfrüchte anbauten und die ersten Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine domestizierten und züchteten. Diese Regionen vorrangig als Rezipienten «mesopotamischer» Kultur zu betrachten, ist problematisch, denn die Schwemmebene und die Regionen des Fruchtbaren Halbmonds – auch außerhalb der Flusstäler von Euphrat, Tigris und ihren Nebenflüssen – standen stets in einer engen wechselseitigen Austauschbeziehung.
Euphrat und Tigris entspringen in den Gebirgsregionen Zentralanatoliens in der heutigen Türkei, während die Quellen der wichtigsten Zuflüsse des Tigris, des Großen und Kleinen Zabs und des Diyalas, in der Bergwelt des Zagrosgebirges in der Grenzregion zwischen Irak und Iran entspringen. Durch diese Wasserwege sind die anatolischen und iranischen Gebirgsregionen direkt mit den Ebenen Syriens, des Irak und des Persischen Golfs verbunden. Euphrat und Tigris erreichen ihren höchsten Wasserstand im Frühjahr, wenn die Schneeschmelze in den Quellgebieten die Wassermassen anschwellen lässt, die dann in der Ebene zur Überflutung führen. Seit dem 6. Jahrtausend v. Chr. wurde die zerstörerische Flut durch die Anlage von Kanälen und Deichen gezähmt und so für die Landwirtschaft der fruchtbaren, aber niederschlagsarmen Ebene nutzbar gemacht.
Die beiden Flüsse dienten jedoch nicht nur der künstlichen Bewässerung, sondern waren mit ihren Zuflüssen und Kanälen von zentraler Bedeutung für den Personen- und Warenverkehr in und nach Mesopotamien. Durch die Zeiten bestand entlang dieser Hauptverkehrsadern der Region ein integrierter Wirtschaftsraum, in dem Ressourcen wie Holz, Stein und Metall aus den Bergen gegen die Erzeugnisse der rohstoffarmen, aber extrem fruchtbaren Ackerbauregionen in der Schwemmebene getauscht wurden. Trotz aller Unterschiede waren die sozialen Strukturen und Normen in diesem Großraum geprägt von der sesshaften Lebensweise auf landwirtschaftlicher Grundlage, die Ackerbau (v.a. Gerste, Weizen), Gartenwirtschaft (v.a. die Hülsenfrüchte Erbsen und Linsen, später diverse Gemüse- und Obstarten) und Viehzucht (v.a. Schaf, Ziege, Rind, Schwein) verband, wie sie nach der letzten Eiszeit seit dem 10. Jahrtausend v. Chr. eingeführt wurde.
Um die Mitte des 7. Jahrtausends v. Chr. revolutionierte eine technische Neuerung viele Lebensbereiche. Sie fußte auf der Erkenntnis, dass Ton durch kontrollierte...