2. Ontologie
Ontologie ist die Lehre vom Seienden. Die allgemeine und systematische Untersuchung des Seienden und der Existenz ist ein Teil der Metaphysik, manche Philosophen aber setzen Metaphysik im Allgemeinen mit einer Art von Ontologie gleich. Der Unterschied zwischen Ontologie und Metaphysik ist somit oftmals wenig trennscharf. Nach einem traditionellen Verständnis beschreibt Ontologie (auch wenn der Begriff jüngerer Prägung ist) das Projekt, das Aristoteles als die Untersuchung des Seienden als Seiendes beschrieben hat (siehe 1.5). Nach dem modernen Verständnis ist die Ontologie dafür zuständig zu ermitteln, welche Dinge (oder welche allgemeinen Typen, Klassen oder Kategorien von Dingen) existieren und was es überhaupt heißt zu existieren. Ein anderes Betätigungsfeld der Ontologie betrifft «die Ontologie dieser oder jener Theorie», womit man die Frage meint, welche Existenzannahmen eine bestimmte Theorie machen muss. In diesem Sinn macht zum Beispiel das Standardmodell der Elementarteilchenphysik Annahmen über die Existenz von subatomaren Teilchen, die Sozialwissenschaft macht Annahmen über die Existenz bestimmter sozialer Phänomene usw. (siehe 2.4).
2.1 Die Untersuchung des Seienden
Was tut man genau, wenn man das Seiende untersucht? Für den Metaphysiker, der eine umfassende Theorie der Wirklichkeit anstrebt, ist der Begriff des Seienden interessant, weil er alles zu umfassen scheint: alles oder alles, was es gibt, ist oder ist seiend. Hält man sich an den Ausdruck seiend selbst, dann ist man zunächst mit den unterschiedlichen Bedeutungen konfrontiert, die dieser Ausdruck in den natürlichen Sprachen annehmen kann. Wir würden heute mindestens drei Funktionen des Wörtchens ist unterscheiden, die sich an folgenden drei Sätzen illustrieren lassen:
(1) Gott ist.
(2) Tullius ist Cicero.
(3) Cicero ist ein Philosoph.
Satz (1) klingt etwas gezwungen, doch bezeichnet das hier enthaltene ist klarerweise die Existenz, so wie in Descartes’ berühmtem «Ich denke, also bin ich» das Wörtchen bin die Existenz meint. Im Deutschen drückt man solche Existenzaussagen häufiger mit es gibt aus. In Satz (2) steht vor und hinter dem ist je ein singulärer Ausdruck, der auf jeweils einen einzelnen Gegenstand referiert, während in Satz (3) nach dem ist ein genereller Ausdruck folgt. Ein solches Prädikat referiert nicht auf einen Gegenstand, sondern trifft auf den durch den Subjektausdruck bezeichneten Gegenstand zu oder nicht zu. Satz (2) ist somit eine Identitätsaussage, während es sich nur bei Satz (3) um eine echte prädikative Aussage handelt. Entsprechend ist in Satz (2) ist ein Zeichen für die Identität, während es in Satz (3) als Kopula ein Zeichen für die Prädikation ist. Damit zeigt sich, dass ist bzw. sein (mindestens) drei logisch distinkte Verhältnisse anzeigen kann.
Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen des Wörtchens sein das Projekt einer Wissenschaft vom Seienden grundsätzlich in Frage stellen können. Hat zum Beispiel das Sein der Kopula irgendetwas mit dem Sein der Existenz gemeinsam? Und kann die Kopula in manchen Sprachen nicht ganz wegfallen oder durch ein Sprachzeichen ersetzt werden, das nichts, aber auch gar nichts mit dem Sprachzeichen für Existenz zu tun hat? Schon Gottlob Frege spricht daher von einer «Vergötterung der Kopula» in der Metaphysik und Rudolf Carnap begründet seinen programmatischen Angriff auf die Metaphysik von 1932 u.a. mit der genannten Mehrdeutigkeit. Um das traditionelle Vorhaben einer Wissenschaft vom Seienden zu retten, müsste man nachweisen, dass die verschiedenen Bedeutungen in einem systematischen Zusammenhang stehen. In der Aristoteles verpflichteten Tradition der Metaphysik wird dies durch den Nachweis versucht, dass es eine grundlegende Bedeutung von seiend gibt – das sei das Sein der selbstständig existierenden Substanzen, von der alle anderen Verwendungen des Wortes abhängig sind. Die Geschichte der neueren Metaphysik hat aber einen ganz anderen Weg eingeschlagen und sich auf einen einzigen Sinn von sein und seiend konzentriert, der hinreichend eindeutig schien: den der Existenz.
2.2 Existenz
Existenzfragen stellen wir immerzu: Gibt es UFOs? Existieren Higgs-Teilchen? Alltägliche Existenzfragen werden oft im Hinblick auf einen bestimmten Bereich und nicht im Hinblick auf die Wirklichkeit überhaupt gestellt: Die Frage «Gibt es noch Eiswürfel?» meint meistens nicht, ob es irgendwo in der Welt Eiswürfel gibt, sondern ob es zu einem bestimmten Zeitpunkt Eiswürfel an einem bestimmten Ort – zum Beispiel in meinem Eisfach – gibt. Metaphysische Existenzfragen dagegen werden ohne Einschränkung und mit Blick auf allgemeine Kategorien gestellt (siehe 1.4). In der Regel sind Existenzfragen alles andere als trivial; vielmehr enthält die Beantwortung von Existenzfragen Informationen, durch die wir etwas über die Welt oder einen größeren oder kleineren Ausschnitt der Welt lernen. Die Beantwortung von Existenzfragen kann das Ergebnis eines langwierigen Forschungsprozesses sein oder eine wissenschaftliche Entdeckung zum Ausdruck bringen.
Während wir allein aufgrund des Begriffs «Junggeselle» und ohne dafür empirische Nachforschungen in der Welt anstellen zu müssen, verstehen, dass es sich dabei um eine unverheiratete männliche Person handelt (man sagt, so etwas sei analytisch wahr), können wir Existenzfragen wie «Gibt es Junggesellen auf dieser Party?» in der Regel nicht durch Begriffsanalyse, sondern nur durch entsprechende Nachforschungen in der Welt beantworten (entsprechend ist die Aussage, dass es Junggesellen gibt oder nicht gibt, synthetisch und nicht analytisch).
Eine klassische Kontroverse um den Existenzbegriff betrifft die Frage, ob Existenz ein Prädikat sei. Diese entwickelte sich im Ausgang von dem Gottesbeweis, den Anselm von Canterbury vorgebracht hatte. Nach diesem Beweis sei Gott ein Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Kurz: Gott sei das vollkommenste aller Wesen. Welche Merkmale muss so ein vollkommenes Wesen aufweisen? Es scheint, dass das vollkommenste aller Wesen wirklich, also existent, sein muss, denn ein nicht-wirkliches-sondern-nur-gedachtes Wesen wäre deutlich unvollkommener als ein wirkliches. Wenn Gott also ein vollkommenes Wesen ist, dann muss er auch wirklich sein, das heißt: er muss existieren. Wenn nun aber unsere Überlegungen zum nicht-analytischen Charakter von Existenzaussagen richtig sind, dann kann an diesem Argument etwas nicht stimmen, denn die Existenz wird hierin gewissermaßen aus den begrifflichen Merkmalen eines vollkommenen Wesens gefolgert.
Immanuel Kant hat das verbreitete Unbehagen an Anselms Beweis als Erster auf die Formel gebracht, dass existieren kein «reales Prädikat» sei. Wer sagt, dass Gott existiert, der setze kein neues Prädikat zum Begriff Gottes hinzu (so wie man die Prädikate allmächtig, gütig usw. zum Gottesbegriff hinzusetzen könnte); vielmehr sage man damit etwas über einen Gegenstand, der alle Prädikate aufweist, die den Gottesbegriff ausmachen. Ein ähnlicher Gedanke hat durch die Überlegungen von Gottlob Frege den Weg in die Logik und Metaphysik der...