Das goldene und das korrupte, das hektische und das überschäumende, das anarchische und das avantgardistische, das dröhnend ins Verhängnis taumelnde Jahrzehnt: Das waren die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Man nannte sie auch das «Jazz Age». Es begann am 16. Januar 1919 mit der Ratifizierung der achtzehnten Änderung zur amerikanischen Verfassung. Mit ihr sollte ein rigoroses Alkoholverbot durchgesetzt werden. Es wurde die einzige Verfassungsänderung des Landes, die man später wieder aufhob. Und es endete mit dem galoppierenden Kursverfall am 25. Oktober 1929, dem historischen Schwarzen Freitag, an dem die Börse von New York zusammenbrach und die Welt in eine große Depression stürzte.
Den schrägen Rhythmus für dieses turbulente Jahrzehnt, von dem vergnügungssüchtige Zeitgenossen hofften, es würde ewig dauern, hatten die Ragtime-Pianisten vorgegeben. Danach war nicht mehr genau auszumachen, ob die Jazzmusiker den Takt für den kollektiven Tanz auf dem Vulkan bestimmten oder doch eher die Gangstersyndikate, die den Jazz als Tarnkappe für ihre dubiosen Geschäfte in den illegalen Saloons und Flüsterkneipen, den Bordellen und Tanzhallen benutzten. Aber wie man auch immer die Szene beurteilen mag, in jenen Tagen profitierten Jazz und Halbwelt voneinander und bildeten eine unauflösliche, auch für die bürgerliche Gesellschaft attraktive Interessengemeinschaft. Wer sich dieser Epoche nähern will, tut gut daran, sich den Klang von Louis «Satchmo» Armstrongs blendender Trompete und Duke Ellingtons exotischem Dschungelstil in Erinnerung zu rufen.
Mitten hinein in dieses «Jazz Age» wurde Miles Davis geboren. Man schrieb das Jahr 1926. Als er knapp fünfundsechzig Jahre später starb, war gerade eine andere Epoche zu Ende gegangen, von der die Welt ebenso angenommen hatte, sie sei für die Ewigkeit bestimmt: der Ost-West-Konflikt und die Teilung der Welt in eine kapitalistische und eine sozialistische Hemisphäre.
Als das Kartenhaus des Sozialismus in sich zusammenfiel, hatte der Jazz seine große Wende schon hinter sich, war der Klang dieser Musik aus den Schmuddelecken amerikanischer Großstädte emporgestiegen und zur internationalen Kunstform geworden. Zum Tanzen war er nicht mehr geeignet, dafür aber konnte man ihn wenigstens einmal im Jahr gefahrlos zur traditionellen Gala im Weißen Haus präsentieren. Es sei denn, eine Eartha Kitt, die man fälschlicherweise für eine naive Diva und arglose Nachtclubsängerin gehalten hatte, brüskierte die geladene Gesellschaft um die Präsidentengattin Lady Bird Johnson mit der kritischen Erwähnung eines irrsinnigen Vietnamkriegs.
An dieser Entwicklung des Jazz vom Entertainment zur engagierten Kunst hatte Miles Davis, der schwarze Trompeter aus gutem Hause, wesentlichen Anteil. Vielleicht war er sogar der Musiker, der mehr als alle anderen die Unabhängigkeit des Jazz wie seiner Interpreten vom Unterhaltungswesen verkörperte. Mehr noch als Satchmo, der sich zeitlebens nicht vom ungerechten Image eines Onkel Tom des Jazz befreien konnte und dessen weißes Taschentuch auf viele Schwarze wie eine Fahne der Kapitulation wirkte. Mehr noch als Benny Goodman, der als Klarinettist von Werken Mozarts und Bartóks ohnehin in die Carnegie Hall gehörte. Und sicherlich auch mehr als Charlie Parker, einer der größten Revolutionäre und einflussreichsten Saxophonisten der Jazzgeschichte. Sein schockierender Lebenswandel war kaum dazu angetan, die immer noch schwelenden Vorurteile einer bildungsbürgerlichen Mittelschicht vom Jazz als einer schlechten Musik für schlechte Menschen aufzulösen.
Miles Davis kam zur rechten Zeit. Er war im Jahr 1945 schon alt genug, um noch mit Charlie Parker zusammenspielen zu können, der an der Spitze der Jazz-Avantgarde marschierte und jene das Fürchten lehrte, die den gleichmäßig schwebenden Swing als den heiligen Gral des Jazz hüteten. Und er war mit neunzehn Jahren doch noch so jung, dass er sich seinen eigenen Weg aus dem Fangnetz des synkopierten Viervierteltaktes und der Akkordfortschreitungen suchen konnte. Das sagt sich freilich leicht: zur rechten Zeit. Wer zur rechten Zeit an der rechten Stelle ist, besitzt ein waches Bewusstsein für das spezifische Parfum einer Epoche, für Atmosphäre und Strömungen – nicht nur in der Kunst. Miles Davis hatte viele Charaktereigenschaften, die ihn zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit im Jazz werden ließen. Eine seiner hervorstechenden Fähigkeiten war sein Gespür für Klimawandel, eine andere seine übernatürliche Empfänglichkeit. Er konnte das Gras wachsen hören.
Seine gestopfte Trompete war schon in den ersten Tagen des Cool Jazz Ende der vierziger Jahre so etwas wie das Erkennungsmerkmal des neuen Stils aus Amerika geworden. Im Soundtrack zu dem Thriller «Fahrstuhl zum Schafott» von Louis Malle aber kamen Klang und Zeitgeist, wenn man so will: die schwermütige Trompete von Miles Davis und die neorealistische Nouvelle Vague aus Europa, erst vollends zur Deckung. Bei seinem Paris-Aufenthalt Ende 1957 hatte er die Musik durch Vermittlung des Schriftstellers und Trompeters Boris Vian in einer einzigen Nacht mit französischen Jazzmusikern improvisiert, als sei er ein Nachfahre jener Lichtspielmusikanten, die um die Jahrhundertwende Stummfilme live begleiteten. Louis Malle hat später erklärt, erst durch die Musik von Miles Davis habe der Film seinen Charakter bekommen, nicht weil sie die Handlung kommentierte, sondern weil sie ihm eine weitere, elegische Qualität hinzufügte.
Der gedämpfte Trompetenton von Miles Davis war so eigentümlich und hat in jener Zeit so viele Nachahmer gefunden, dass er bis heute ausreicht, ein Epochengefühl heraufzubeschwören; ähnlich den Ragtime-Synkopen eines Scott Joplin für die Stimmung der Jahrhundertwende oder wie der Saxophonsatz mit führender Klarinette im Orchester Glenn Millers für die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit. Zum Klima der späten fünfziger und beginnenden sechziger Jahre, dem Aufstieg John F. Kennedys und dem globalen Stimmungsumschwung im Zeichen einer bewusst nur auf sich selbst schauenden Jugend, gehören diese ins unendlich Innere zielenden Klänge so fraglos dazu wie die ratternde, in Europa mit angemessener Verzögerung wahrgenommene Straßenpoesie von Jack Kerouac, das unergründlich melancholische Gesicht von Charles Aznavour und eine sich zwischen Jules und Jim schaukelnd emanzipierende Jeanne Moreau.
Als Miles Davis Ende der sechziger Jahre mit seinem Album Bitches Brew die Sturmglocken des Rockjazz läutete, seinen grauen Anzug mit hautengen Lederhosen und Fransenhemden vertauschte, den Konzertflügel durch ein elektrisches Fender-Rhodes-Piano, das Schlagzeug durch eine Geräuschbatterie ersetzte und alles durch gigantische Verstärker und Hallgeräte jagte, war der Effekt ein ähnlicher. Da hörte Miles wohl schon voraus, was kommende Generationen, die mit Computer, Mobiltelefon und elektronischem Equipment aufwachsen, als ihre akustische Welt zu identifizieren bereit sein würden.
Aber auch noch in anderer Hinsicht besaß Miles Davis ein untrügliches Empfindungsvermögen: für das Verhältnis von Weißen und Schwarzen in einer Gesellschaft, die der afro-amerikanische Schriftsteller James Baldwin einmal als die noch zu vereinigenden Staaten klassifizierte. Es muss Miles Davis sehr getroffen haben, von der falschen Seite des Rassismus bezichtigt worden zu sein. Den Vorwurf aber, er beschäftige in diesen kritischen Nachkriegsjahren mit dem Altsaxophonisten Lee Konitz einen weißen Musiker, wo doch so viele schwarze Brüder arbeitslos seien, hat er mit jener schroffen Souveränität zurückgewiesen, die manche Beobachter als Arroganz missverstanden. Es sei ihm egal, ob ein Musiker schwarz, weiß oder grün sei und Feuer spucke, solange er so gut wie Lee Konitz spiele.
Miles Davis im 30th Street Studio in New York, August 1962.
Miles Davis hat Musiker nie nach ihrer Hautfarbe engagiert und auch nicht nach ihrem Charakter. Sonst hätte er mit vielen, Charlie Parker an erster Stelle, überhaupt nicht zusammenspielen dürfen. Aber natürlich war er sich seiner Herkunft und der bevorzugten Hautfarbe jener Gesellschaft, in der er sich aufhielt, wohl bewusst. Früh schon hat er all die Kopfkissentheoretiker und Muttermilchexperten – diesseits und jenseits des eigenen ethnischen Lagers – in die Schranken gewiesen. Sie, die schon immer zu wissen glaubten, dass man Bluesgitarre nur lernen könne, wenn man mit dem Instrument schlafen gehe, Jazzmusik aber überhaupt nur jene beherrschten, die an der Brust einer schwarzen Mutter aus den Südstaaten auf natürliche Weise mit dem Gefühl für diese Musik versorgt worden seien.
An der angesehenen Juilliard School of Music in New York, wo Miles nur kurz studierte und keinen Abschluss machen wollte, wurde eines Tages die Entstehung des Jazz zum Thema gemacht. Die Dozentin setzte ein abenteuerliches Puzzle aus staubigen Straßen, schummrigen Kneipen, abgebrochenen Flaschenhälsen, blinden Bettelmusikanten und ausgebeuteten Landarbeitern zu einem allzu schlichten Gesellschaftspanorama zusammen. Miles Davis meldete sich zu Wort und sagte, er stamme aus einer reichen Familie, sein Vater sei Zahnarzt in East St. Louis und er selbst habe nie in seinem Leben ein Baumwollfeld gesehen. Aber was eine Blue Note sei und wie man sie spiele, wisse er genau. Offenbar war die Sache doch etwas komplizierter, als es sich eine wohlmeinende Pädagogin vorgestellt haben mag. Auch wenn Miles Davis in seiner Beschreibung des Vorgangs offensichtlich übertrieb, sie zeigt dennoch, wie allergisch er reagieren konnte, wenn es um kulturelle Identität...