5. Folgerungen
Rußland
Aus alledem folgt, daß sich der Umfang und der besondere organisatorische Charakter der Armee wesentlich nach der internationalen Lage, nach der Funktion der Armee gegen den äußeren Feind richtet. Die internationale Spannung, die heute in der Regel eine sehr hohe ist und – selbst in den noch nicht kapitalistischen Staaten schon wegen der Konkurrenz mit und zum Schutze gegenüber den kapitalistischen Staaten – zur Ausnutzung aller waffenfähigen Bürger sowie zur schroffsten Organisationsform, dem flehenden Heer der allgemeinen Wehrpflicht, drängt, kann durch natürliche Ursachen, wie zum Beispiel die insulare Lage Englands und – im Verhältnis zu den übrigen Großstaaten – auch der Vereinigten Staaten von Amerika, und durch künstlich-politische Ursachen, wie zum Beispiel die Neutralerklärung der Schweiz und der Niederlande, eine sehr beträchtliche Abschwächung erfahren.
Dagegen ist die Funktion des „Militarismus nach innen“, gegenüber dem inneren Feind, als Werkzeug im Klassenkampf eine stete notwendige Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung, wie denn selbst Gaston Moch „die Wiederherstellung der Ordnung“ als „legitime Funktion einer Volksarmee“ bezeichnet. Und wenn der Militarismus in dieser seiner Funktion dennoch sehr verschiedene Formen aufweist, so erklärt sich das einfach dadurch, daß dieser Zweck bisher ein mehr nationaler, seine Erfüllung nicht so sehr durch internationale Konkurrenz geregelt ist, daß er in sehr verschiedener Art erreicht werden und daher viel mehr nationale Eigentümlichkeiten ertragen kann. Übrigens werden auch England und Amerika (wo zum Beispiel von 1896 bis 1906 das stehende Landheer von etwa 27.000 auf etwa 61.000 Mann verstärkt, die Zahl der Marinemannschaften verdoppelt, das Budget des Kriegsdepartements auf das Zweieinhalbfache, das des Marinedepartements auf mehr als das Dreifache gesteigert worden ist und für 1907 von Taft wieder zirka 100 Millionen mehr gefordert werden) immer mehr in die Bahn des europäisch-festländischen Militarismus getrieben, was sicherlich in erster Reihe durch die Veränderung der internationalen Lage und die Bedürfnisse der jingoistisch-imperialistischen Weltpolitik, in zweiter Reihe aber unverkennbar durch die Veränderung der inneren Spannung, die Steigerung der Klassenkampfgefahr veranlaßt ist. Die militaristischen Anwandlungen des englischen Kriegsministers Haldane aus dem September 1906 stehen schwerlich nur in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem energischen selbständigen Auftreten der englischen Arbeiterschaft auf der politischen Bühne.[34] Die Neigung zur Einführung einer allgemeinen Wehrhaftmachung nach Schweizer Muster, die in England trotz der für sie inszenierten gewichtigen Agitation vorläufig noch zurückgedrängt ist, für die Vereinigten Staaten aber in der Botschaft Roosevelts vom 4. Dezember 1906 bedeutsamen Ausdruck gefunden hat, ist kein Symptom des Fortschritts. Sie heißt trotz alledem eine Verstärkung des Militarismus im Vergleich zum gegenwärtigen Zustand, und sie liegt immerhin auf der abschüssigen Bahn zum stehenden Heer, das lehrt gerade die Schweiz.
Unverkennbar besitzt der Militarismus mit Rücksicht auf die große Mannigfaltigkeit der Kombinationen zwischen den Faktoren, die Maß und Art der besonderen Bedürfnisse eines Schutzes nach außen und nach innen bestimmen, eine beträchtliche Vielgestaltigkeit und Wandlungsfähigkeit, die sich am ausgeprägtesten im Heerwesen zeigt. Diese Wandlungsfähigkeit bewegt sich aber allenthalben innerhalb der Grenzen, die jene dem Militarismus unbedingt wesentliche Zweckbestimmung einer kapitalistischen Schutzwehr setzt. Die Entwicklung kann hier dennoch zeitweilig geradezu divergieren. Während zum Beispiel Frankreich unter Picquart ernstlich an eine energische Abkürzung der Übungszeit der Reserve- und Territorialtruppen[35], an die Reform des „Biribi“ und die Abmchaffung der militärischen Sondergerichtsbarkeit[36] geht, quittierte im Herbst 1906 der Präsident des deutschen Reichsmilitärgerichts, von Massow, seinen Dienst, weil die militärische Kommandogewalt (das preußische Kriegsministerium) durch Gesetzesinterpretationen formell und ohne Unischweife in die Unabhängigkeit der Militär- gerichte eingreift (Rundschreiben vom Frühjahr 1905), eine Unabhängigkeit, die freilich schon durch die Maßregelung der Richter des Bilse-Prozessest eine eigenartige Kommentierung erfahren hatte. Diese „französischen Zugeständnisse“ sind fast ausschließlich dem Antiklerikalismus zu verdanken: Der Klerikalismus hat eine wichtige Stütze in der Armee; die Regierung bedarf des Proletariats im „Kulturkampf“. Diese Kombination ist natürlich weder ewig, noch auch aus einer wesentlichen, dauernden Entwicklungstendenz entsprossen; sie beruht auf einer ihrem Wesen nach vorübergehenden Konstellation und geht mit energischer Befehdung des Antimilitarismus, wie gezeigt, Hand in Hand.
Interessant ist von diesen Gesichtspunkten aus Rußland, dem die hochgradige Spannung seiner außerpolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht aufgezwungen hat und das sich als asiatisch-despotischer Staat einer inneren Spannung ohnegleichen gegenüber sieht. Der innere Feind des Zarismus ist nicht nur das Proletariat, sondern außerdem die gewaltige Masse der Bauernschaft und des Bürgertums, ja selbst ein großer Teil des Adels. Neunundneunzig Prozent der russischen Soldaten sind ihrer Klassenlage nach dem zarischen Despotismus erzfeind. Niedere Bildung, nationale und religiöse Gegensätze, auch wirtschaftliche und soziale Interessenwidersprüche, ferner mehr oder weniger sanfter Druck durch den weitverzweigten bürokratischen Apparat sowie die ungünstige örtliche Gliederung, daß ungenügend ausgebildete Verkehrswesen und anderes hemmen die Ausbildung des Klassenbewußtseins aufs äußerste. Durch ein mit allen Hunden gehetztes System der Elitetruppen, zum Beispiel der Gendarmerie und vor allem der Kosaken, die durch gute Bezahlung und anderweitige materielle Versorgung, durch weitgehende politische Privilegien, durch Einrichtung der halbsozialistischen Kosakengemeinwesen geradewegs zu einer besonderen gesellschaftlichen Klasse gestaltet und so an das herrschende Regime künstlich gefesselt sind, sucht sich der Zarismus gegenüber der Gärung, die bis tief in die Reihen der Armee gedrungen ist, eine genügende Zahl von Getreuen zu sichern. Und zu alledem, zu diesen „Hofhunden des Zarismus“, treten noch hinzu die Tscherkessen[37] und sonstigen im Reich der Knute wohnenden Barbarenvölker, die unter anderen in der Ostseeprovinz-Konterrevölution wie Wolfsrudel über das Land losgelassen wurden, und alle übrigen bewaffneten Kostgänger des Zarismus, deren Zahl Legion ist, die Polizei und ihre Helfershelfer sowie – die Hooligans, die schwarzen Banden.
Aber wenn schon in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten die Armee der allgemeinen Wehrpflicht als Waffe gegen das Proletariat ein krasser, zugleich furchtbarer und bizarrer Widerspruch in sich selbst ist, so ist das Heer der allgemeinen Wehrpflicht unter dem zärisch-despotischen Regierungssystem eine Waffe, die sich notwendig mehr und mehr mit niederschmetternder Wucht gegen den zarischen Despotismus selbst wenden muß, woraus sich gleichzeitig ergibt, daß die Erfahrungen auf dem Gebiete der antimilitaristischen Entwicklung in Rußland nur mit großer Vorsicht für die bürgerlich-kapitalistischen Staaten zu verwenden sind. Und wenn die Bemühungen der herrschenden Lassen des Kapitalismus in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten, das Volk zum Kampfe gegen sich selbst zu kaufen, und zwar noch gar zu einem großen Teil mit den dem Volke selbst zu diesem Zwecke abgenommenen Geldmitteln, schließlich zum Scheitern verurteilt sind, so sehen wir vor unsern Augen bereits, wie die verzweifelten und jämmerlichen Versuche des Zarismus, die Revolution gewissermaßen durch Bestechung zu kaufen, in der Misere der russischen Finanzwirtschaft ein schnelles und klägliches Fiasko erleiden, und zwar trotz aller Rettungsaktionen des skrupellosen internationalen Börsenkapitals. Gewiß, die Anleihefrage ist eine wichtige Frage, mindestens für das Tempo der Revolution; aber sowenig Revolutionen gemacht werden können, sowenig oder noch weniger können sie gekauft werden[38], nicht einmal mit den Mitteln des Großkapitals der Welt.
Fußnoten
1. Zu Unrecht sagt Bernstein in La Vie Socialiste vom 5. Juni 1905, die heutigen militaristischen Institutionen seien nur ein Erbe der mehr oder weniger feudalen Monarchie.
2. Vgl. nur Rußland, bei dem aber ganz besondere, nicht aus den inneren Verhältnissen erwachsene Umstände zu dem Resultat mitgewirkt haben. Stehende Heere auf anderer Grundlage als der allgemeinen Wehrpflicht sind zum Beispiel die Söldnerheere. Milizen kannten auch die italienischen Städte des 15. Jahrhunderts.(Burchardt, Die Cultur der Renaissance, Bd.1, S.527.)
3. In dem bekannten Briefe an Bluntschli (Dezember 1880) heißt es: „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt in Materialismus versumpfen.“ Wenige Monate vorher hatte Moltke geschrieben: „Jeder Krieg ist ein nationales Unglück“ (Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, Berlin o.J., Bd.V, S.195, auch S.200) und 1841 in einem Artikel der Augsburger Allgemeinen Zeitung gar: „Wir bekennen uns offen tu der viel verspotteten Idee eines allgemeinen europäischen Friedens.“
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