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DER APFEL
Wohin ich an diesem kalten, klaren Morgen im Februar unterwegs war, hatte viel damit zu tun, wo ich herkam.
Jede Menge Erfahrung – gute, schlechte und sehr schlechte – hat mich gelehrt, dass nichts durch Zufall passiert. Die Umstände, die mich bald an die Schwelle zwischen Leben und Tod bringen würden, hatten mich mein Leben lang zielsicher an diesen Punkt geführt. Das war mir zu jenem Zeitpunkt natürlich noch nicht klar, schließlich war ich viel zu beschäftigt damit, endlich auf die Piste zu kommen. Erst im Nachhinein konnte ich klar und deutlich sehen, wie ich an das Ende eines langen Weges gekommen war. Und damit an die Schwelle der nächsten Reise.
Wenn ich einen Zeitpunkt nennen müsste, an dem ich zum ersten Mal über meine Bestimmung nachgedacht und realisiert habe, dass mein Leben einen Sinn hat, würde ich einen Moment in meinem vierten Lebensjahr wählen. Ich weiß es noch ganz genau: Es war ein sonniger Tag in Südkalifornien in der Vorstadt von West Hills, ganz am Ende des San Fernando Valley. Ich war auf dem Dreirad unterwegs und trat in die Plastikpedale, was das Zeug hielt, als ich plötzlich etwas entdeckte, das mich wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Der Anblick zweier Nachbarskinder auf der anderen Straßenseite faszinierte mich. Beide hatten einen merkwürdigen Stab in der Hand, der am Ende leicht gebogen und flach war. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie schossen eine dicke, schwarze Scheibe hin und her und versuchten dabei, aneinander vorbeizuschießen. Dieser Moment hat mein Leben für immer verändert. Was auch immer sie da taten, das wollte ich auch tun!
Ich hatte Hockey entdeckt. Oder vielleicht hatte es auch mich entdeckt. Wie auch immer: Es war Liebe auf den ersten Blick.
Im Prinzip hatte ich da schon eine ziemlich bewegte Kindheit hinter mir – zumindest, so weit ich das beurteilen konnte, denn ich hatte ja keinen Vergleich. Es erschien mir völlig normal, dass ein Kind in meinem Alter schon auf zwei Kontinenten gelebt hatte, zwei Sprachen beherrschte und überhaupt eine Doppelidentität hatte, die ein solches Leben mit sich bringt. Mein Vater, Phillip, war Franzose und hatte meine Mutter, Susan, in New York kennengelernt. Sie verliebten sich, heirateten und kehrten für kurze Zeit nach Frankreich zurück, wo ich im Juli 1969 in Paris geboren wurde.
In meiner Wahrnehmung bin ich absolut und vollständig Amerikaner. Doch auf der anderen Seite sollte auch meine französische Identität später in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen, sowohl beruflich als auch privat. Durch sie habe ich einen weiteren Blick auf die Welt bekommen, Dinge aus einer anderen Perspektive sehen können und Chancen bekommen, die sich mir sonst nicht geboten hätten. Ich fühle mich beschenkt durch diese doppelte Herkunft und habe die damit verbundenen Möglichkeiten voll ausgenutzt.
Mein Vater war gelernter Koch, spezialisiert auf Backwaren, und nachdem wir zurück in die USA gezogen waren – als ich noch fast ein Baby war –, begann er eine erfolgreiche Laufbahn in der Gastronomiebranche. Er zog mit seiner kleinen Familie nach Los Angeles und eröffnete zwei sehr erfolgreiche Unternehmen: Papillion in der Bourbon Street und The Bicycle Shop Café, das er über 35 Jahre lang leitete. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört, wie ich unter den Tischen herumgekrochen bin und die Kunden terrorisiert habe.
Aber bevor wir nach Südkalifornien zogen, wohnten wir noch für eine Weile bei den Eltern meiner Mutter in Florida. Dort traf ich zum ersten Mal einen der Menschen, die mich in meinem Leben am meisten geprägt und beeindruckt haben: meinen Großvater. Ex-Amateurboxer, Rettungsschwimmer, in vier verschiedenen Sportarten in der College-Mannschaft aktiv gewesen, aufgewachsen in der schäbigen Gegend von Hell’s Kitchen in New York City. Ein Priester hatte meinem Großvater das Boxen beigebracht, damit er seine dreizehn Geschwister gegen die harten Jungs aus der Nachbarschaft verteidigen konnte. Genau diese abgebrühte, gradlinige Art brachte er später auch mir bei. Mein Großvater war zäh, sowohl körperlich als auch geistig, ein Kind der Wirtschaftskrise, der Kampf und Elend gewohnt war. Ich weiß noch genau, wie ich einmal weinend nach Hause kam, weil mich jemand auf dem Nachhauseweg gehänselt hatte. Mein Großvater meinte daraufhin lediglich: »Wieso kommst du nach Hause und beschwerst dich? Gib dem Typ eins auf die Nase, dann wird er dich nie wieder ärgern!« Eine Stunde später klopfte es an der Tür meines Großvaters. Es waren die Eltern des Jungen, der mich gehänselt hatte. Sie wollten sich über mein Verhalten beschweren. »Gut«, antwortete mein Großvater, »wird auch Zeit, dass ihm mal jemand zeigt, wo’s langgeht.«
Unter Eishockeyspielern sagt man: »Du wirst nicht zäh durch die Kämpfe, die du gewinnst, sondern durch die Kämpfe, an denen du teilnimmst.« Das hätte sein Motto sein können. Ihm war nie etwas in den Schoß gefallen, und seine unbeugsame Entschlossenheit war sein größtes Geschenk an mich. Es war genau diese Beharrlichkeit, die ich mir während der Tortur, die mir schon bald am Mammoth Mountain bevorstand, wieder und wieder ins Gedächtnis rief. In vielerlei Hinsicht habe ich es dem Geist meines Großvaters und dem schroffen Eigensinn, den er auch in mich eingepflanzt hat, zu verdanken, dass ich noch am Leben bin.
Die erste Gelegenheit, diese Beharrlichkeit zu demonstrieren, bot sich, kurz nachdem ich so fasziniert diesen Kindern beim Straßenhockey zugesehen hatte. In den Tagen danach hatte ich meine Eltern angefleht, angebettelt und zu überreden versucht, mir eine Hockey-Ausrüstung zu kaufen und mich in der örtlichen Hockeymannschaft anzumelden. Dazu muss man sagen, dass es zu der Zeit für die meisten Leute ziemlich unvorstellbar war, in Kalifornien Eishockey zu spielen. Wie man sich denken kann, konnte der Sport nicht wirklich Fuß fassen in einer Gegend, die für endlose Sommer bekannt ist. Hockeyspieler, ganz zu schweigen von der Infrastruktur, um sie zu unterstützen, gab es eigentlich nicht. Erst als der große Wayne Gretzky 1988 zu den LA Kings kam, wurde Eishockey in Kalifornien so richtig beliebt. Die steigende Beliebtheit von Inlinern half ebenfalls: Mit ihnen konnte man Geschwindigkeit und Action simulieren, wie es sonst nur auf einem gefrorenen Teich möglich war, und man konnte spontane Hockeyspiele organisieren.
Ich lebte im Land des Surfens und der Sonne. Tatsächlich ging ich auch sehr gerne zum Surfen an den Strand oder fuhr mit dem Skateboard durch die Gegend, wie so viele Kids in Kalifornien. Aber erst auf einer der wenigen Eisbahnen in der Gegend, in einem Einkaufszentrum am Topanga Canyon Boulevard, nicht weit von unserem Haus entfernt, wusste ich: Ich war angekommen! Wenn man mich damals gefragt hätte, was ich denn mal werden wolle, wenn ich groß wäre, hätte ich ohne zu zögern geantwortet: Eishockeyspieler! Obwohl ich eher klein und stämmig war, konnte mich nichts davon abbringen. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich auf dieser Eisbahn. Schon früh am Morgen war ich da, weil es der einzige Zeitraum war, zu dem man üben konnte, bevor die Bahn für alle geöffnet wurde.
Um ehrlich zu sein: Meistens wartete ich nicht einmal bis zum Morgen. Ich schlief in meinen Hockeyklamotten, in Bettwäsche mit den Logos meiner Lieblingsteams, und war so gleich parat, wenn meine Mutter mich weckte, um mich zur Eisbahn zu fahren. Sie und mein Vater haben meine Begeisterung für Eishockey von Anfang an uneingeschränkt unterstützt. Diese Unterstützung zeigte sich in den vielen Stunden, die sie am Rand des Eishockeyfeldes verbrachten, sowie an den großen Geldsummen, die für meine ehrgeizigen Ziele investiert werden mussten. Schon damals griff ich nach den Sternen: Für mein Trikot suchte ich die berühmte Nummer vier von Bobby Orr aus. Meine Farben waren selbstverständlich die der legendären amerikanischen Eishockeydynastie der Boston Bruins – ein Team, für das ich kurioserweise später sogar selbst spielen sollte.
Ich war acht Jahre alt, als meine Eltern sich scheiden ließen. In den Jahren danach wechselte ich zwischen ihren Wohnorten hin und her. Die Zeiten, in denen ich bei meinem Vater lebte, brachten mich auf den Geschmack der wahren Dekadenz von Hollywood. Sein Restaurant war zu jener Zeit der Nabel des Nachtlebens in L. A., wo ich meine ersten Kontakte mit Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll hatte.
Mein Vater, mit seiner ziemlich altmodischen europäischen Macho-Art, war kein besonders gutes Vorbild für einen Jungen in meinem Alter. Mit zwölf ließ er mich sein Auto fahren, mein erstes Marihuana und Kokain probierte ich im Hinterzimmer seines Restaurants.
Es gab eine Menge williger junger Kellnerinnen, und die Leitung des Restaurants hatte eine Frau in den Dreißigern inne, die mich verführte, als ich 15 Jahre alt war. Als ich meinem Vater erzählte, dass ich Sex mit ihr gehabt hatte, lachte er nur. »Gut«, sagte er. »Dafür sind Frauen da.« Später habe ich herausgefunden, dass auch er mit ihr geschlafen hatte. Das Ganze war irgendwie unheimlich, aber diese Erfahrung hat mich vor allem gelehrt, dass es okay ist, sich einfach zu nehmen, was man will. Menschen waren dazu da, benutzt zu werden.
Bei meiner Mutter sah die Welt ganz anders aus. Sie hatte Jack White geheiratet, einen professionellen Cartoon-Zeichner aus Windsor, Ontario (Kanada), der zufällig auch mein Eishockey-Trainer war. Wie mein Großvater hatte auch mein Stiefvater einen großen Einfluss auf mein Leben. Er war ein geborener Motivator, der – so denke ich – den Spruch »Just do it« schon benutzt hat, lange bevor er ein Werbeslogan wurde. Er ließ...