Untersucht man das molièresche Publikum, das mit la cour et la ville umschrieben wurde, hinsichtlich seiner Soziologie genauer, fällt eine soziale Mehrschichtigkeit auf, die besser mit einer Dreiteilung beschrieben wird: das Publikum setzt sich aus la cour, la ville und le parterre zusammen.
La cour: Königliche Familie und Hofadel
La cour steht zu Molières Zeiten für Versailles und bezieht sich auf die königliche Familie und den Hofadel[2], im Grunde auf die gesamte Umgebung des Königs (die nicht immer adligen, sondern bisweilen auch großbürgerlichen Ursprungs ist, wie Auerbach (1951: 14) und Elias (2003: 369) anmerken). Der Großteil des Hofes Ludwigs XIV.[3] ist aber adlig:
Zwar liegt die eigentliche politische Macht in den Händen von wenigen Beamten meist bürgerlichen Ursprungs; aber die gesellschaftliche Atmosphäre des Hofes bestimmt der sich dort zusammenfindende Adel“ (Auerbach 1951: 35).
Dieser ist „ein Stand ohne Funktion, der aber trotzdem als privilegierter Stand anerkannt wird“ (Auerbach 1951: 40). Elias (2003: 254) berichtet:
Aus dem über das ganze Land hin verstreuten Adel wuchs als Zentrum und maßgebende Macht der um den König zentrierte höfische Adel heraus, […] [der] in einem Ort, in Paris, und in einem sozialen Organ, dem Königshof, [sein] maßgebendes Zentrum [findet].
Für den Adel typisch ist die „traditionelle Geringschätzung geschäftlichen Gelderwerbs“, so Elias (2003: 168).[4] Es ist ihm sogar per Gesetz verboten,
sich an irgendwelchen kommerziellen Unternehmungen zu beteiligen. Auf diese Weise sein Einkommen zu vermehren, gilt als unehrenhaft und hat den Verlust des Titels und des Ranges zur Folge (Elias 2003: 119).
Die Bezeichnung la cour darf aber nicht zur Annahme verleiten, der König und seine Umgebung würden nicht auch in den Theatern der Stadt auftauchen, im Hôtel de Bourgogne, dem Petit-Bourbon[5] oder dem Palais Royal (cf. Duchêne 1998: 184 f., 306). Unbestritten ist der Hof aber ein wichtiges intellektuelles Zentrum:
Die höfische Gesellschaft wurde im 16. und 17. Jahrhundert in vielen Ländern langsam zu einer maßgebenden Kultur, weil die höfische Gesellschaft, besonders in Frankreich, im Zuge der zunehmenden Zentralisierung des Staatsgefüges zur maßgebenden gesellschaftlichen Eliteformation des Landes wurde (Elias 2003: 318).
Innerhalb dieser höfischen Gesellschaft um Ludwig den XIV. fand Molière ein begeistertes Publikum. Caldicott (1998: 84 ff.) errechnet bis zu 344 Aufführungen am Hof (und vermutet, dass diese Zahl noch viel zu niedrig ist), was etwa einem Viertel der molièreschen Gesamtproduktion für la ville entspricht.
La ville lässt zuerst an Paris denken, Molières Heimatstadt und die Stadt, in die er und seine Theatertruppe 1658 nach 13jähriger Wanderzeit durch die Provinz zurückkehren, um sich endgültig dort niederzulassen. Paris ist Hauptstadt Frankreichs und Hauptstadt des Königs und somit ein einflussreiches Zentrum: Literatur ist „firmly concentrated in Paris where the court and government [are] now established at the centre of an increasingly centralized country“ (Lough 1978: 68). Mit la ville wird aber nur auf einen bestimmten Teil der Stadtbevölkerung Bezug genommen: auf das Großbürgertum – Steuereinnehmer, Großhändler, Bankiers – und das obere mittlere Bürgertum – „altbürgerlich-solide und sehr wohlhabende Familien“ (Auerbach 1951: 28), die als gebildet gelten dürfen und „nicht durch bloße Geburt hoffähig sind“ (Auerbach 1951: 40). Je nach Rang des Amtes zählen hierzu auch die Vertreter der Beamtenklasse (robe), aus der die meisten der geistig führenden Personen der Epoche stammen (cf. Auerbach 1951: 41 ff.). Grimm (2002: 40) beschreibt diese Komponente des Dritten Standes als jenen Teil,
der dem Erwerbsbürgertum bereits entwachsen ist oder zu entwachsen im Begriff ist, […] die zunehmend parasitär [und funktionslos] werdende Schicht eines ehemals erwerbstätigen Bürgertums, das jetzt von seinen Vermögenseinkünften leben kann, […] ‚des bourgeois vivant noblement’[, die sich dem Adel angleichen].
Besonders L’Avare, Le Bourgeois gentilhomme, Les Femmes savantes und Le Malade imaginaire spielen im gehobenen bürgerlichen Umfeld: in wohlhabenden Häusern, in denen man offensichtlich keinem Gewerbe nachgehen muss, zumindest erfährt man keinen Beruf, den die Figuren ausüben würden (cf. Auerbach: 1951: 46-48). Auch Molières Gesellschaftssatire Les Précieuses Ridicules gibt einen Einblick in das gehobene Bürgertum, deren Jugend sich an illusorischen „aristokratischen“ Lebens- und Liebesidealen orientiert: die beiden précieuses setzen die verkannten adligen Verehrer vor die Tür, weil diese nicht die Stationen der Carte du Tendre durchmachen, wie es die Romanvorbilder tun.[6] Als die beiden geprellten Verehrer ihre verkleideten Diener schicken, bewundern die précieuses die Mode der vermeintlichen Aristokraten, bejauchzen deren Verse und allzu galantes Auftreten. Die bürgerlichen Anhängerinnen des Preziösentums verdeutlichen die Tendenz zur Klassenflucht – sie ändern ihre Namen, leugnen so ihre Herkunft und wollen einen Adligen heiraten –, die Auerbach (1951: 44) als bürgerliche Eigentümlichkeit feststellt.
„[L]a cour et la ville / Ne m’offrent rien qu’objets à m’échauffer la bile“ (Molière 1965b: 26, cf. 1.). Dieser Satz des jungen Aristokraten Alceste aus Le Misanthrope verweist auf den gesellschaftlichen Kreis, mit dem Alceste Umgang hat. Dies ist einer der Hinweise dafür, dass la ville – in jedem Fall zu Zeiten Molières – nicht einfach pauschal mit dem Volk in der Stadt gleichgesetzt werden kann (würde sich ein Adliger mit dem gemeinen Volk abgeben?). Auerbach (1951: 14 f.) hebt zudem den Elitecharakter des Wortes ville hervor. Boileau stellt ville in Gegensatz zu (dem „fratzenhaften“?) peuple, wenn er über Molière schreibt:
Etudiez la cour et connaissez la ville;
L’une et l’autre est toujours en modèles fertiles.
C’est par là que Molière, illustrant ses écrits,
Peut-être de son art eût remporté le prix,
Si moins ami du peuple, en ses doctes peintures
Il n’eût point fait souvent grimacer ses figures (Boileau 1966: 178).[7]
Auerbach berichtet weiter von La Bruyère, aus dessen Kapitel De la ville er folgert, dass es sich bei la ville
um einen rein gesellschaftlichen Kreis handelt, bei dem Eitelkeit und das gegenseitige Bestreben, auf einander Eindruck zu machen, die Hauptmotive des Handelns sind; ferner, dass diese Gesellschaft sich aus den Mitgliedern der Amtsaristokratie (robe) und dem reichen Bürgertum zusammensetzt. […] [La Bruyère] behandelt die Albernheit dieser Menschenklasse, wie sie sich in der Nachahmung höfisch-aristokratischer Sitten und im Unmaß der von Eitelkeit geforderten Geldausgaben zeigt, er greift in einigen Porträts ihre Herzensleere, ihre Volks- und Naturfremdheit zusammen […] (Auerbach 1951: 16).
Es erscheint nun sinnvoll, das Stadtpublikum neben Großbürgertum und oberem mittlerem Bürgertum noch in eine zweite Komponente zu unterteilen: le parterre.
Le parterre: Wenig gebildetes, gewerbetreibendes Bürgertum
Der Begriff parterre taucht in Molières Les Fâcheux (Molière 1964: 412, Sz. I) und der Critique de l’Ecole des Femmes (Molière 1965a: 122 f., Sz. V) auf. In letzterer erfahren wir, dass die parterre-Plätze bei normalen Aufführungen mit 15 sols (= sous; cf. Molière 1965a: 123) die billigsten sind.[8] Hier findet – besonders zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als das Theater noch eine relativ billige Art der Unterhaltung darstellt – die eher wenig gebildete Schicht des Dritten Standes und das gewerbetreibende Bürgertum Platz: Handwerker, clercs[9], Lehrlinge, Dienstboten, Lakaien, Soldaten und filous. Hier finden sich also Berufsschichten, die allein schon wegen der Tatsache, dass sie Geld erwerben müssen, vom Adel nicht geschätzt und als unehrenhaft gebrandmarkt werden (cf. 2.1). Elias (2003: 99 f.). führt weiter aus:
Vom Standpunkt der höfischen Gesellschaft her gesehen, sind die Menschen der Berufsschichten Außenseiter. Sie existieren am Rande der ‚monde’ – das Wort ist bezeichnend – am Rande der ‚großen Welt’. Es sind kleine Leute.
Besonders die Soldaten, allen voran die mousquetaires, sind häufig in lautstarke Schlägereien verwickelt. Der „Großstadtpöbel“ (Auerbach 1951: 24) ist vielfach Urheber der Diebstähle und Gewalttaten:
Immer wieder muss gegen das ungebärdige Parterre,...