3. Die Liebe zur Tatkraft
König Süan von Tsi befragte den Mong Dsï und sprach: "Gibt's eine Norm für den Verkehr mit Nachbarstaaten?"
Mong Dsï erwiderte: "Gewiß! Entweder man muß gütig sein, damit man als Großer dem Kleinen dienen kann. Auf diese Weise hat Tang3 dem Go gedient und König Wen den Kun-Barbaren. Oder man muß weise sein, damit man als Kleiner dem Großen dienen kann. Auf diese Weise hat der Große König4 den Hunnen gedient und Gou Tsiän5 dem Staate Wu. Wer als Großer einem Kleinen dienen kann, ist fröhlich in Gott6; wer als Kleiner einem Großen dienen kann, der fürchtet Gott. Wer fröhlich ist in Gott, vermag die Welt zu schirmen; wer Gott fürchtet, vermag sein Reich zu schirmen. Im Buch der Lieder7 steht:
›Ich fürchte Gottes Majestät,
Um seine Gunst mir zu bewahren.‹"
Der König sprach: "Das ist fürwahr ein großes Wort. Aber ich habe einen Fehler: ich liebe die Tatkraft."
Mong Dsï erwiderte: "Ich bitte Eure Hoheit, nicht kleinliche Tatkraft zu lieben. Ans Schwert zu schlagen und mit wilden Blicken zu sprechen: wie darf der Kerl es wagen, mir entgegenzutreten! Das ist die Tatkraft des kleinen Mannes, der sich mit einem einzelnen herumschlägt. Ich bitte Eure Hoheit, die Sache größer zu fassen. Im Buch der Lieder8 heißt es:
›Der König, zürnend aufgefahren,
In Ordnung stellt er seine Scharen,
Zu wehren eingedrung'nen Scharen,
Dschous Wohl zu sichern vor Gefahren
Und allem Reich entsprechend zu gebaren.‹
Das war die Tatkraft des Königs Wen. Der König Wen brauchte nur ein einziges Mal zu zürnen, um allem Volke auf Erden Frieden zu geben.
Das Urkundenbuch9 sagt:
›Als der Himmel die Menschen geschaffen, da machte er ihnen Herrscher, da machte er ihnen Lehrer. Seine Absicht war, daß sie Gehilfen Gottes seien, darum verlieh er ihnen die Länder der Welt. Schuld oder Unschuld ruht allein auf ihnen. Wer wagt auf Erden ihren Willen zu mißachten?‹
Daß ein Tyrann als einzelner der ganzen Welt sich entgegensetze, empfand König Wu10 als Schmach. Das war die Tatkraft des Königs Wu. Der König Wu brauchte nur ein einziges Mal zu zürnen, um allem Volk auf Erden Frieden zu geben. Wenn nun Eure Hoheit auch nur ein einziges Mal zu zürnen braucht, um allem Volk auf Erden Frieden zu geben, so wird das Volk nur darum besorgt sein, daß Eure Hoheit etwa die Tatkraft nicht lieben möchte."
4. Im Schneepalast
Der König Süan von Tsi empfing den Mong Dsï im Schneepalast.
Der König sprach: "Hat der Weise auch eine Freude an solchen Dingen?"
Mong Dsï erwiderte: "Gewiß! Es gibt Leute, die tadeln ihre Herren, wenn sie selbst solche Dinge nicht haben können. Wer seinen Herren tadelt, weil er solche Dinge nicht bekommt, der ist zu tadeln. Ein Herr des Volkes aber, der seine Freuden nicht mit seinem Volke teilt, ist ebenfalls zu tadeln. Wenn ein Fürst teilnimmt an den Freuden seines Volkes, so wird das Volk auch teilnehmen an seinen Freuden. Wenn ein Fürst teilnimmt an den Leiden seines Volkes, so wird das Volk auch teilnehmen an seinen Leiden. Daß einer, der sich freut mit der ganzen Welt und leidet mit der ganzen Welt, nicht König der Welt würde, das ist noch nie geschehen."
5. Das Lichtschloß. Liebe zum Besitz und zur Frauenschönheit
König Süan von Tsi befragte den Mong Dsï und sprach: "Jedermann rät mir, das Lichtschloß11 abzubrechen. Soll ich es nun abbrechen oder soll ich es sein lassen?"
Mong Dsï erwiderte: "Das Lichtschloß ist eines großen Königs Schloß. Wenn Eure Hoheit als König der Welt herrschen wollen, so braucht Ihr es nicht abzubrechen."
Der König sprach: "Darf man hören, wie man als König der Welt herrschen muß?"
Mong Dsï erwiderte: "König Wen herrschte einstens über das Land Ki. Da brauchten die Bauern nur ein Neuntel des Landes für ihn zu pflügen. Die Familien der Staatsdiener behielten ein dauerndes Einkommen. An den Grenzpässen und auf den Märkten wurde eine regelmäßige Aufsicht geübt, doch keine Abgaben erhoben. Fischfang und Jagd waren unbehindert. Verbrechen wurden nicht an den Angehörigen geahndet.
Ein alter Mann, der keine Gattin mehr hat, heißt ein Witwer; eine alte Frau, die keinen Gatten mehr hat, heißt eine Witwe; alte Leute ohne Söhne heißen Einsame; junge Kinder ohne Vater heißen Waisen. Diese vier sind die Elendesten unter allen Menschen, denn sie haben niemand, bei dem sie Hilfe suchen können. Der König Wen ließ bei der Ausübung der Herrschaft Milde walten. Darum sorgte er zuerst für diese Vier. Im Buch der Lieder12 heißt es:
›Und halten's noch die Reichen aus, –
Weh', wer allein steht und verlassen.‹"
Der König sprach: "Fürwahr, trefflich sind diese Worte!"
Mong Dsï sprach: "Wenn sie Eurer Hoheit trefflich scheinen, warum tut Ihr nicht danach?"
Der König sprach: "Ich habe einen Fehler; ich liebe den Besitz."
Mong Dsï erwiderte: "Der Herzog Liu13 liebte einst auch den Besitz. Im Buch der Lieder14 heißt es von ihm:
›Er sammelte, bewahrte auf,
Dörrfleisch, Getreide kam zuhauf.
In Beuteln, Säcken hob man's auf.
Durch Einung wollt er Ruhm erteilen.
Bewehrt mit Bogen und mit Pfeilen,
Mit Schilden, Speeren, Axten, Beilen,
Macht er sich fertig, fortzueilen.‹
So hatten die Zurückbleibenden gefüllte Scheunen, und die Ausziehenden hatten Mundvorrat. Darauf erst konnte er sich daran machen, auszuziehen. Wenn Eure Hoheit den Besitz lieben, so teilt ihn mit Euren Leuten. Dann ist das kein Hindernis dafür, König der Welt zu werden."
Der König sprach: "Ich habe noch einen Fehler; ich liebe die Frauenschönheit."
Mong Dsï erwiderte: "Der Große König15 liebte einst auch die Frauenschönheit, und er war infolge davon seiner Gattin zugetan. Im Buch der Lieder16 heißt es von ihm:
›Altfürst Dan Fu, beim Morgengrauen
Auf flücht'gem Roßgespann zu schauen,
Kam längs der Westgewässer Auen
Bis an des Ki-Bergs untre Gauen;
Da kam er hin mit Giang, der Frauen,
Um dort mit ihr sich anzubauen.‹
Zu jenen Zeiten gab's in den inneren Gemächern keine unbefriedigten Frauen und draußen keine ledigen Männer. Wenn Eure Hoheit Frauenschönheit lieben, dann laßt Eure Leute auch ihr Teil haben. Dann ist das kein Hindernis dafür, König der Welt zu werden."
6. Der König in Verlegenheit
Mong Dsï redete mit dem König Süan von Tsi und sprach: "Wenn unter Euren Dienern einer ist, der Weib und Kind seinem Freunde anvertraute und auf Reisen ging in ferne Lande, und wenn er heimkommt, da hat der andere seine Frau und Kinder frieren und hungern lassen: was soll mit jenem Mann geschehen?"
Der König sprach: "Er soll verworfen werden."
Mong Dsï fuhr fort: "Wenn der Kerkermeister nicht imstande ist, seinen Kerker in Ordnung zu halten, was soll mit ihm geschehen?"
Der König sprach: "Er soll entlassen werden!"
Mong Dsï fuhr fort: "Wenn Unordnung im ganzen Lande...