In den vorhergehenden Punkten wurden die propagierten Kriegsmotive für den Perserzug Alexanders - Befreiung und Rache - im Kontext der griechischen Wert- und Normvorstellungen dargestellt. Die geschichtlichen und kulturellen Hintergründe der Motive waren dort fest verankert. Philipp und Alexander bewegten sich mit den Parolen Befreiung und Rache innerhalb dessen, was vor den Augen der griechischen Öffentlichkeit als akzeptierte Kriegsgründe gelten konnte. Dies soll jedoch nicht heißen, dass diese Kriegsgründe auch ausnahmslos als Berechtigung für einen Feldzug nach Asien angesehen wurden[240], von der Frage einmal ganz abgesehen, ob es sich dabei um einen gerechten Krieggehandelt hat [241]. Mit der stärkeren Hervorhebung des Rachemotivs als Beweggrund für den Perserkrieg wird deutlich, dass beide makedonischen Könige sehr wohl Rücksicht auf die schlechten Erfahrungen der Griechen nahmen, welche mit der Parole Befreiung bereits verbunden waren. Zur Herstellung einer stabilen Ordnung in Hellas war es unabdingbar, sowohl Hegemonie als auch Sympathie miteinander in Einklang zu bringen. Dass Philipp nach Chaironeia mit dem Motiv der Rachenahme versuchte, an die panhellenische Identität zu appellieren, welche im 5. Jh. v. Chr. durch den Perserkrieg das erste Mal eine Blütezeit erlebt hatte, und dass Alexander seinen Feldzug mit dem mythischen Zug der Griechen gegen Troja und damit mit einer gemeinsamen kulturellen Schnittstelle aller Griechen in Verbindung brachte [242], verdeutlicht, wie wichtig die öffentliche Meinung in Hellas für beide Könige war. Wie sind aber bei einer solchen Rücksichtnahme auf die Öffentlichkeit die Kriegsmotive Befreiung und Rache zu bewerten?
Die nun folgende kritische Untersuchung der Kriegsmotive des Perserzuges geht zunächst auf die historischen Quellen und Darstellungen ein, die die offiziellen Begründungen relativ unreflektiert und unkritisch übernehmen. Ursachen, Beweg- und Hintergründe werden in der Retroperspektive der Quellenautoren viel zu schematisch und vereinfacht behandelt. Vielmehr wird der Anschein erweckt, als vollziehe sich Geschichte schrittweise, planmäßig und unausweichlich[243]. Lediglich das Erklärungsmodell des Polybios, das anschließend vorgestellt und bewertet wird, stellt eine antike Quelle dar, welche die propagierten Kriegsmotive nicht nur kritisch betrachtet und hinterfragt[244], sondern auch andere Motive anführt; die Gründe für den Feldzug werden in der Ausgangslage gesucht, die Philipp und später Alexander vorgefunden haben. Genau diese Perspektive erscheint geeignet, die Motive Rache und Befreiung in Frage zu stellen.
Alexanders Ruhm ist nahezu grenzenlos und seine Taten zeugen immer noch von seiner schier unglaublichen Größe und Macht. Nur schwer lässt sich für ihn ein Pendant finden, obwohl sich zahlreiche Herrscher der Antike bis in die Moderne nur zu gerne mit ihm verglichen und versuchten in seine Fußstapfen zu treten. Vor allem die römischen Machthaber sahen in ihm ein Vorbild und nacheifernswertes Beispiel herrschaftlicher Größe[245]. Seine Eroberungskriege im persischen Reich wurden von so manchem römischen Herrscher als zivilisatorische Meisterleistung empfunden und dies kommt beispielsweise auch in Diodors Darstellung zutage, indem er nämlich Alexander als das Heil der Menschheitsgeschichte darstellt[246]. Allzu schnell erfuhr so der makedonische König von einigen Geschichtsschreibern eine Idealisierung, welche den Fokus für einen großen Teil der römischen Leser nur noch auf seine Erfolge und seine Glanzleistungen richtete. Diese ergebnisorientierte Geschichtsschreibung war jedoch mehr mit einer Deutung versehen, als dass sie objektiv über Alexanders Taten berichtete[247]. Dabei ist zu beachten, dass diese einseitige Alexanderbeschreibung ein Ergebnis starker historischer Verzerrung ist. Neben seiner Milde und seinen Großtaten kamen auch zahlreiche gewalttätige und maßlose Züge zum Vorschein[248]. Das Herausgreifen und Stilisieren der dämonischen Züge Alexanders durch einige antike Autoren wird dem makedonischen König jedoch ebenfalls nicht gerecht und ist im gleichen Maß eine literarische Überzeichnung wie die zuvor beschriebene Idealisierung[249].
Der Geschichtsschreibung ist es zu eigen, dass sie immer erst im Nachhinein Aufzeichnungen und Berichte über einen Sachverhalt, ein Ereignis oder eine Person tradieren kann - also nachdem die Ergebnisse und der Ausgang eines nun historisch gewordenen Ereignisses feststehen und nachdem deren vermeintlicher Wert[250] für einen Kreis von Personen erkannt worden ist. Die historische Forschung stellt also eine Wissenschaft dar, die auf den Erfahrungen und den Wahrnehmungen anderer - meist räumlich und zeitlich weit entfernter - Personen angewiesen ist [251], um Wissen vergangener Zeiten zu aktualisieren [252]. Es gibt jedoch kein demokratisches Verfahren, in welchem ermittelt werden kann, welche individuellen Erfahrungen es wert sind, sich gemeinsam daran zu erinnern. Bezeichnend hierfür ist eine Anekdote Arrians über den Alexanderhistoriker Kallisthenes.
„Er selbst [Kallisthenes, Anm. d. Verf.] sei es vielmehr, der Alexanders Ruhm unter der Menschheit begründe. So hänge auch das Göttliche in Alexander nicht etwa davon ab, was Olympias über dessen Zeugung zurechtfabele, sondern davon, was seine Schriften hierüber in der Öffentlichkeit verbreiteten. “ [253]
Es wird also deutlich, dass Erinnerungen, die der Öffentlichkeit durch die Geschichtsschreibung präsentiert werden, bestimmte Intentionen zu Grunde liegen, die oftmals mit der Absicht einer gezielten Einflussnahme auf die Öffentlichkeit verbunden sind [254]. Denn je nachdem wie eine Situation oder eine Person dargestellt wird, entstehen Sympathien und Antipathien, die den Erinnerungswert eines Ereignisses bzw. einer Persönlichkeit beeinflussen [255]. Dies lässt sich vor allem an der antike Geschichtsschreibung über Alexander feststellen, denn diese weist zwiespältigen Tendenzen auf [256]. Schon bei den wenigen erhaltenen Fragmenten[257] der zeitnahen Primärquellen ist dies nachweisbar [258]. Gründe hierfür sind zunächst bei Alexander selbst zu suchen, denn er war zu Beginn seiner Herrschaft in starkem Maß bemüht, „die Griechen von sich zu beeindrucken“[259], den Vorwandcharakter seines Vorgehens zu entkräften und der Kritik am panhellenischen Rachefeldzug entgegenzuwirken[260]. Bezeichnenderweise ist dem Hofhistoriographen Kallisthenes diese Aufgabe zwar gelungen, so dass zum einen seine panhellenischen Inszenierungen und Überhöhungen der Person Alexanders auch auf zahlreiche andere Primärautoren wie Onesikritos, Chares von Mythylene, Medeios von Larissa und Polykleitos von Larissa abfärbten, obwohl sie selbst am Feldzug teilnahmen und es ihnen durchaus möglich gewesen wäre, eine objektive Darstellung zu verfassen[261]. Zum anderen ist mit Kallisthenes jedoch nicht nur die positive, heldenhafte Alexanderdarstellung verbunden, sondern auch dessen negative Beschreibung. Denn mit der Hinrichtung des Hofhistoriographen 327 v. Chr. wegen seiner Verstrickung in die Pagenverschwörung geriet Alexander in die starke Kritik der peripatetischen und stoischen Philosophen[262]. Wie Kallisthenes' Schriften sind auch die königlichen Ephemeriden[263] während des Feldzuges verfasst worden und dienten wahrscheinlich Ptolemaios als Hauptquelle für seine Alexandergeschichte[264]. Neben der eher positiven und relativ objektiven Geschichtsschreibung des Nearchos, Aristobulos und Androsthenes wird vor allem Ptolemaios die größte Glaubwürdigkeit zugesprochen, da die Genannten zum einem ihre Schriften erst nach dem Tode Alexanders verfassten und daher nicht mehr auf dessen Einwilligung Rücksicht nehmen mussten und zum anderenselbst an den Feldzügen teilgenommen hatten[265]. Im Fall des Ptolemaios scheint es ersichtlich, dass er als späterer ägyptischer Herrscher mit seiner Geschichtsschreibung politische Zwecke verfolgte. So versuchte er besonders Alexanders Handlungen hervorzuheben, bei denen er auch selbst beteiligt war und deren Darstellung ihm für seine eigene Herrschaft dienlich erschien; er vermied jedoch eine übertriebene Selbstverherrlichung[266]. Eine besondere Rolle bei den Primärquellenautoren spielt Kleitarchos. Zwar ist nicht belegt, ob er Alexander persönlich gekannt oder am Feldzug teilgenommen hat, jedoch hat seine Alexanderdarstellung, die spätere Alexander-Vulgata, in extremem Maße beeinflusst - und dies nicht zuletzt durch die Hervorhebung der negativen Züge des makedonischen Königs[267]. So lässt sich bereits kurz nach dem Tode Alexanders feststellen, dass das Alexanderbild in den Primärquellen von zwei widersprüchlichen Strängen gekennzeichnet ist, nämlich einmal durch das Märchenhafte und Übermenschliche und zum anderen durch das Dämonische und Negative[268].
Die Sekundärquellenautoren der römischen Kaiserzeit, wie Arrian und Plutarch, sahen daher bereits die Notwendigkeit, das entstandene Alexanderbild zu korrigieren. Dies bedingte jedoch das Einfließen weiterer Intentionen in die historische Darstellung Alexanders, was trotz der vermeintlich guten Absichten den historischen Kern immer mehr der Objektivität entriss[269]. So beschäftigen sich die antiken Sekundärquellen, welche uns zur Verfügung stehen - um mit Plutarch...