EINFÜHRUNG
Stellen Sie sich Folgendes vor: An Ihrem 40. Geburtstag wachen Sie mit 11 kg mehr auf den Rippen auf als jetzt. Seit Sie 18 waren, haben Sie kaum Muskelmasse verloren, aber bis zu Ihrem 40. Lebens jahr 5,2 kg Fett zugenommen. Das ist ein Plus von 43 % und Sie sind erst 40. Ab 40 verlieren Sie dann auch noch mit zunehmendem Tempo Ihre Muskelmasse und lagern weiter Fett ein. Laut dem 13. Bericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung vom Februar 2017 ist das die Realität für den durchschnittlichen deutschen Mann. Nur passiert es eben nicht auf einen Schlag, sondern ist ein schleichender Prozess.
Es liegt vor allem an Ihnen, ob Sie gesund und leistungsfähig sind, denn Ihr persönlicher Lebensstil entscheidet über Ihr Wohlbefinden. Zu viele Menschen aller Altersgruppen leiden an schmerzhaften Störungen des Bewegungsapparats und geringer körperlicher Belastbarkeit. In Muskelkraft – eine starke Medizin erfahren Sie, was Sie selbst für die Gesundheit Ihres Rückens, Ihrer Knochen und Gelenke, für Ihren Stoffwechsel … und auch für Ihr seelisches Wohlergehen tun können.
Sollten Sie allerdings krank sein, nutzt Ihnen der Ruf nach wirksamer Vorbeugung nichts. Dann brauchen Sie Ärzte und Therapeuten, die zur rechten Zeit das Nötige tun und Überflüssiges oder Schädliches unterlassen. Hier gibt es kein »richtig und falsch«. Jeder Arzt schaut durch seine Brille, ist geformt durch die »medizinische Schule«, aus der er kommt, und geprägt durch seine persönlichen Erfahrungen. Und so werde ich Sie in diesem Buch einmal durch meine Brille schauen lassen, wenn es darum geht, Rücken- und Gelenkleiden zu verstehen und daraus Schlüsse zu ziehen, wie Sie diesen quälenden und oft unnötigen Leiden vorbeugen und sie behandeln können.
In Muskelkraft – eine starke Medizin geht es darum, wie Sie gesund bleiben und gesund werden können. Dabei richte ich meinen Blick auf Rücken, Knochen und Gelenke und auf die Muskulatur als Stoffwechselorgan. Rückenkranke sind oft unzufrieden mit dem Erfolg der ärztlichen Behandlung; diese Unzufriedenheit der Betroffenen teilen viele Ärzte, Arbeitgeber und Krankenkassen. Wir alle investieren viel Geld – rund 25 Milliarden Euro jährlich – für chronische Rücken- und Gelenkleiden. Durch wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung, fehlende Vorbeugung und ineffektive medizinische Maßnahmen werden die Kosten in Zukunft noch weiter ansteigen.
Wir wissen aber, dass ein wichtiger Schlüssel für erfolgreiche Vorbeugung und Therapie die Wertschätzung der Muskulatur ist: Sie ist weit mehr als Stell- und Bewegungsmotor des Skeletts, nämlich das größte Stoffwechselorgan des menschlichen Körpers. Funktionierende Muskeln sind durch nichts zu ersetzen. Ich werde ihren Aufbau und ihre Funktionsweise hier anschaulich darstellen und Sie auf diese Weise, das hoffe ich, zum Handeln bringen.
Muskelkraft – eine starke Medizin sucht den Dialog. Meine dreißig Jahre Erfahrung in der Behandlung von Rücken- und Gelenkleiden lässt mich an der Wirksamkeit häufig durchgeführter Maßnahmen in Allgemeinmedizin, Orthopädie und Rehabilitation zweifeln. Nicht zuletzt kritisiere ich den voreiligen Einsatz aufwändiger Untersuchungsverfahren, Operationsindikationen und die oft schlechte Vorbereitung auf die Operationen an Rücken und Gelenken. Was am Halte- und Bewegungsapparat als »gesund« und was als »krank« zu bezeichnen ist, darüber klaffen die Ansichten weit auseinander. Doch für den Erfolg einer Behandlung ist es entscheidend, ob die »richtige« Diagnose gestellt und ein vernünftiger therapeutischer Weg gewählt wird.
Unsere Medizin ist wissenschaftlich ausgerichtet – und das ist gut so. Medizin ist aber immer auch »Erfahrungsheilkunde«. Und hier liegt der Knackpunkt: In den orthopädischen Kliniken werden schwere Störungen des Halte- und Bewegungsapparats behandelt. Operative Verfahren stehen dabei im Vordergrund. Doch in der Praxis des niedergelassenen Orthopäden spielen andere Leiden die Hauptrolle, wobei sich bei einem Großteil der Patienten keine wesentlichen Veränderungen an Knochen und Gelenken nachweisen lässt. Wo aber kommen die Beschwerden her, wenn »die (technischen) Befunde« zeigen, dass alles in Ordnung ist? Hier zeigt die Erfahrung in der Praxis, dass die Schmerzen oft durch verklemmte Wirbelgelenke, gereizte Sehnenansätze und verspannte Muskeln verursacht werden. Und viele dieser Befunde werden übersehen, da man sie in der klinischen Medizin nicht ausreichend beachtet. Das gilt vor allem für verklemmte Wirbelgelenke, die nur mit geübten Fingern und wenn der Arzt sich genügend Zeit für die körperliche Untersuchung nimmt aufgespürt werden.
Ob eine Arthrose des Kniegelenks vorliegt, ein Meniskus verletzt, die Wirbelsäule krumm ist oder die Bandscheiben degeneriert sind, das interessiert Ihren Arzt. Viel weniger Aufmerksamkeit schenkt er der Funktion von Muskeln und Gelenken. Und hierin liegt eine Ursache für schlechte Behandlungserfolge. In der Architektur ist die Form der Funktion untergeordnet. Form follows function, sagt man. In der Medizin hingegen lässt der Streit über gestörte oder intakte Funktion, und welche Bedeutung die Funktion überhaupt hat, die verschiedenen Denkrichtungen aufeinanderprallen. Es ist ein ungleicher Kampf. Und die Vertreter jener Medizin, die sich hauptsächlich an der gestörten Form, der Pathomorphologie, orientieren (und operieren), sitzen in den Universitäten und in den Kliniken, in denen Fachärzte ihre Weiterbildung erhalten.
Die Gründe für die Polarisierung der Meinungen liegen im Wesen der Wissenschaft. Sie verlangt nach objektiven Daten. Was wir messen, wiegen, berechnen und in Bildern darstellen zählt. Es ist wiederholbar und überprüfbar. Die Bewertung, ob Muskeln und Gelenke »regelrecht« oder »gestört« sind in ihrer Funktion, ist technisch (noch) nicht möglich. Ob sich ein Rippen- oder Wirbelgelenk normal bewegt oder ob es »blockiert« ist, das kann kein Apparat feststellen. Und so bleibt es ärztliche und therapeutische Aufgabe, einer gestörten Funktion auf die Spur zu kommen. Für das »Röntgenauge« ist Muskulatur ebenso unsichtbar wie die verminderte oder aufgehobene Beweglichkeit der Beckengelenke. Unglücklicherweise ersetzt das »technische Auge« des Arztes zunehmend das klassische ärztliche Handeln, das auch heute noch in gründlicher Anamnese, exakter körperlicher Untersuchung, sinnvoll ausgewählten technischen Untersuchungen und einer abschließenden Analyse besteht, in der alle Befunde in ihrer Bedeutung gewürdigt und in sinnvolles ärztliches Handeln umgesetzt werden.
Diese Zusammenhänge erklären, dass etwa 90% aller Rückenschmerzen als »unspezifisch« eingestuft werden, also ohne präzise Diagnose. Würden aber Funktion und Form, wie oben beschrieben, gleichwertig analysiert, gelänge eine exakte Diagnose bei wenigstens acht von zehn Rückenpatienten. In der Medizin ist das Zusammenspiel von Forschung und Praxis unentbehrlich. Medizinische Wissenschaft ohne Praxisbezug geht an den Problemen der Menschen vorbei. Praxismedizin ohne Begründung und Überprüfung durch die Forschung verliert den sicheren Boden. Sie wird zu einer medizinischen Ideologie, von der es unzählige gibt. Praktische Erfahrung und wissenschaftliche Forschung sind unersetzliche Quellen ärztlichen Handelns.
Deshalb folge ich der »Einladung« von Professor Grönemeyer, der das lesenswerte Werk Mein Rückenbuch geschrieben hat. Er fordert auf, an festgemauerten Dogmen der Schulmedizin und der Naturheilkunde zu rütteln. Er wirbt für die Anerkennung der Erfolge der jeweils »anderen« Seite. Zuhören, lernen und Neues ausprobieren – das sind die Meilensteine auf dem Weg zu einer besseren Medizin. Und wenn wir Ärzte und Therapeuten uns darauf besinnen, dass nicht Wissenschaftler, Ärzte und Therapeuten im Mittelpunkt stehen, sondern die Patientinnen und Patienten, sollte es leicht fallen, dieser Aufforderung nachzukommen. In diesem Sinn suche ich den Dialog.
Meine tägliche Erfahrung mit einer funktionell ausgerichteten Medizin am Halte- und Bewegungsapparat zeigt mir, dass es Alternativen zum üblichen Vorgehen in Praxis, Klinik und Reha gibt. Und das hat sich für mich durch die Begegnung mit Kieser Training verdichtet. Im Streben, die mit ärztlichen Mitteln wohl meist erzielbaren, aber oft bedauerlicherweise nur kurzfristigen Erfolge auf Dauer zu festigen, habe ich präventives und therapeutisches Krafttraining in meine Praxisarbeit aufgenommen. »Kräftigungsmedizin« ist so nicht nur bei chronischen Schmerzen zu meinem wichtigsten Werkzeug geworden. Bei vielen (Zivilisations-) Krankheiten und Funktionseinbußen ist Kräftigungstherapie ein überzeugendes Heilmittel. Im Zusammenwirken von engagierter, funktionell ausgerichteter ärztlicher Arbeit und Kräftigungsmedizin entsteht etwas ganz Neues: Wir erleben die...