2 Eine Psychologie für den Frieden
2.1 Wie es begann
Um 1900 herum begann Alfred Adler, damals noch Mitarbeiter Sigmund Freuds (1856-1939), seine eigenen Gedanken über den Menschen und sein normales und abnormales Verhalten zu formulieren. 1911 war klar, dass er sich derart von Freuds Überzeugungen distanziert hatte, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit nicht mehr möglich war.
Er konnte nicht akzeptieren, dass die Triebe und insbesondere die Sexualität bei der Betrachtung des Menschen im Mittelpunkt zu stehen hätten. Er erkannte, dass der Mensch in erster Linie ein soziales Wesen ist. Überdies war er der Überzeugung, dass man den Menschen besser verstehen kann, wenn man ihn als eine Ganzheit betrachtet. So können wir die menschliche Wirklichkeit entdecken, die man in den Teilen nicht zurückfinden kann. Das Unbewusste, Bewusste, Unterbewusste sind Beispiele solcher Teile aus Freuds Lehre, die Adler nicht als gültige Studienobjekte akzeptieren konnte. Er nannte seine Schule deshalb: Individualpsychologie (Individuum = das Unteilbare). Die Psychologie des unteilbaren Wesens Mensch. Später benutzte er dafür auch das Wort: Holismus.2
Im ersten Weltkrieg diente Adler als Lazarett-Arzt an der Front. Er erlebte die schrecklichen Folgen des Krieges bei den körperlich und seelisch verwundeten Soldaten, die überdies auch noch Typhus hatten. Er erlebte als Helfer seine Hilflosigkeit. Er wurde sich zutiefst dessen bewusst, dass die Welt nie durch Waffen, sondern nur durch Gemeinschaftsgefühl gerettet werden kann.
Zusammenarbeit mit anderen und die Überwindung des Machtstrebens sagte er, ist der Preis, den wir für Wohlfahrt und Weltfrieden bezahlen müssen. Diese innere Haltung, muss in den frühen Kinderjahren erlernt und eingeübt werden, so dass dies auf Dauer, in der weiteren Entwicklung der Menschheit so selbstverständlich wird wie „das Atmen und der aufrechte Gang“. Seine Individualpsychologie sollte beitragen, dass die Menschen zu mutigen, unabhängigen Individuen werden, die sich für die ganze Menschheit verantwortlich fühlen.
2.2 Du machst den Unterschied
Die Mittel, die diese Psychologie zur Verfügung stellt, können dem Denken der Menschen eine neue Richtung geben, und sie vertraut machen mit solchen Ideen, die Krieg und menschliche Grausamkeit ausbannen und helfen, menschliches Machtstreben in Bahnen zu leiten. Dabei kommt es auf den Einzelnen in seiner Beziehung zum anderen an. Das ist die Herausforderung.
Sprechen wir von Person eins und Person zwei. Person zwei kann eine Person, eine Gruppe oder die ganze Menschheit sein.
2.3 Es beginnt bevor du es weißt - Die Meinungsbildung
„Es ist klar, dass wir nicht durch Tatsachen, sondern durch unsere Meinungen über die Tatsachen beeinflusst werden.“3
Wie kommt es dazu, dass wir uns verhalten wie wir uns verhalten und nicht anders? Unsere Meinungen regieren unser Leben! Sie machen uns zu einzigartigen Persönlichkeiten.
In den ersten Tagen seines Lebens schon, beginnt das Neugeborene mit Hilfe seiner kreativen Kraft (Adler), sich eine gefühlsmäßige Meinung über die Menschen und über seine Umgebung zu bilden.
Da ist zuerst die Mutter. Ihre Haut, ihr Geruch, ihr Atemrhythmus, die Veränderungen, wenn sie glücklich oder verärgert ist. Das Kind versteht auf einer ganz basalen Ebene, ob es willkommen ist, ob es abgewiesen wird, ob man es liebt, ob andere sich über seine Anwesenheit freuen, oder ob die anderen eher gleichgültig oder vielleicht ambivalent sind.
Vergessen sie mich? Beschützen sie mich? Bin ich hilflos? Helfen sie mir? Wie sind Männer, wie sind Frauen? Was ist erlaubt? Was ist gut? Was ist schlecht? Hier ist das Kind damit beschäftigt, unbewusste, primäre Meinungen über sich selbst, über seinen Wert, seine Grenzen und seine Möglichkeiten zu bilden, schon lange bevor es über Sprache und über die Fähigkeit verfügt, seine Eindrücke kritisch zu prüfen.
So entwickelt es ein unbewusstes Bild von Menschen, von sich und vom Leben, wie: „Das kann ich von ihnen erwarten. So lieben sie mich. So werde ich abgelehnt. Das wird belohnt, das bestraft. So muss ich es machen. Das muss ich lassen. Damit muss ich aufpassen.“ Dieser ganze Komplex von Meinungen und Überzeugungen wird die Grundlage für alle späteren Entscheidungen und Erfahrungen. So entwickelt es seinen individuellen Lebensstil/Charakter.4
Ja, sicher, wir bekommen in den danach folgenden Jahren unseres Lebens eine immense Menge an neuen Informationen für eine sekundäre Meinungsbildung. Die Auswahl, die wir dann treffen, steht aber unter dem Einfluss der primären Information und der primären Meinungsbildung.
Meinungen sind lebensnotwendig. Durch sie wird es möglich, in einem vorgegebenen Denkrahmen Situationen zu bewerten, Alternativen zu beurteilen und nach eigener Meinung sinnvoll zu handeln. Ideale und Werte haben die gleiche Funktion.
Die obige Person Eins wird sich in Bezug auf Person Zwei also in Übereinstimmung mit den Meinungen, die sie über sich und die anderen gebildet hat, verhalten. Kindersoldaten, die schon früh gelernt haben, dass man Probleme mit einem Gewehr in der Hand löst, werden sich anders verhalten als solche Kinder, die in einer demokratischen Familie aufgewachsen sind. Mit Demokratie meine ich eine Lebensart, die Gleichwertigkeit und Beratung impliziert.
Wer in früher Kindheit erfahren hat, dass Männer gewalttätig und unberechenbar sind, wird in Bezug auf Männer eher feindliche Vorstellungen haben. Und wer der Meinung ist, dass er selbst schlecht und sündig ist, wird sich anders fühlen und sich anders verhalten als derjenige, der glaubt, dass er geliebt und willkommen ist und davon überzeugt ist, dass er ein Segen für andere sein kann. Der Junge, der in seiner Ursprungsfamilie eine Macho-Lebensart als Normalität erlebt hat, kann in den Jahren danach viel lesen und erfahren über Gleichwertigkeit von Mann und Frau und dies bejahen. Dennoch wird in einer Konfliktsituation, seine primäre Reaktion, die eines Machos sein. Es erfordert Training und Selbsterkenntnis, um davon unabhängiger zu werden.
Wir können mit Recht sagen, dass wir oft nicht wissen, was wir tun, weil wir keinen Zugang zu unseren primären Meinungen haben. Dennoch sind wir verantwortlich für die Meinungen, die wir haben und stehen vor der Herausforderung, sie soweit wir können, immer wieder kritisch zu untersuchen und unser Verhalten zu prüfen. Wir hinterfragen Dinge, weil wir ahnen, dass schließlich alles auch anders sein kann.
Wenn wir immer wieder in die gleiche Art von Schwierigkeiten geraten, immer wieder unter der gleichen Art von Gefühlen leiden, dann kommen wir vielleicht zu dem Punkt, dass wir einsehen, dass die Quelle der Probleme in uns selbst, in unseren Entscheidungen liegen muss. Schließlich sind Probleme in unserem Leben zu betrachten als das Ergebnis der menschlichen Freiheit, zu wählen und zu entscheiden. Es sind unsere Meinungen, die unseren Entscheidungen zu Grunde liegen.
Wer seine Meinungen kennenlernt, und sie ändern kann, der ändert damit auch seine emotionale Reaktion und seine Entscheidungen. Dieser Prozess ist das Wesen unserer persönlichen Entwicklung. Sind wir bereit, anders zu denken, dann können wir andere Entscheidungen treffen. Das nennt man dann: Arbeiten an sich selbst.
Dies ist die Welt der Psychologie. Sie kann einen großen Beitrag zum Weltfrieden liefern, wenn wir auf eine Persönlichkeitstheorie aufbauen, die Entwicklung zum Frieden impliziert. Solch ein Menschenbild kann dann in der Kindererziehung die Friedensrichtung bestimmen, und in der Selbsterziehung können wir Erfahrungen machen, die bestätigen, dass Frieden möglich ist, und dass wir selbst dazu beitragen können.
2.4 Unverwechselbar eingraviert. Typisch du!
„Menschen sind in nahezu jeder Hinsicht unzufrieden. Sie wollen immer mehr haben. Nur mit der eigenen Logik scheint jeder zufrieden zu sein.“5
Durch die oben beschriebenen Prozesse der Meinungsbildung entsteht der individuelle Lebensstil. Das ist die typische Art, wie diese Person sich im sozialen Feld verhält mit den dahinterliegenden Überzeugungen über sich, die anderen und die Welt. So stehen wir in der Welt mit ihren immer wechselnden Begegnungen, Aufgaben und Herausforderungen.
Wenn deine innere Überzeugung mit dem, was das Leben dir anbietet, übereinstimmt, dann wirst du mehr oder weniger erfolgreich sein. Im umgekehrten Falle wirst du deine Schwierigkeiten haben.
So stehen wir gegenüber oder zwischen anderen Menschen, kennen uns selbst kaum und folgen der Richtung unserer unbewussten Ziele, quasi als „hidden Agenda“. Hier eine kleine Auswahl aus vielen Möglichkeiten, am Beispiel einer Gruppe von Männern und Frauen:
- Der eine, lebt mit der Überzeugung, dass die anderen gute Mitarbeiter sind.
- Ein anderer ist der Meinung, dass andere ihn immer hängen lassen, wenn es darauf ankommt.
- Ein Dritter weiß, dass man immer...