Die Begegnung mit mystischen Orten
Immer mehr Menschen begeben sich auf die Suche nach Plätzen und Stätten, auf die in der Überlieferung als Orte der Kraft Bezug genommen wird. Doch was hoffen die Menschen dort zu finden? Nicht wenige erwarten von diesen Plätzen so etwas wie eine Heilung, sei es körperlicher oder seelischer Art. Das Versprechen dieser Orte ist, eine nie versiegende Quelle der Kraft zu sein, die dem modernen Menschen hilft, ein Gleichgewicht zwischen rasendem Fortschritt auf der einen Seite und der Sehnsucht nach Einklang mit der Welt auf der anderen Seite zu finden. Kraftorte, so eine weitverbreitete Ansicht, sind wie Tankstellen, an deren Zapfhahn wir uns nur hängen müssen, um wieder heil zu werden.
Lange Zeit habe ich das auch geglaubt. Ich bin davon ausgegangen, dass solche Orte eine tatsächliche Kraft besitzen, dass diese nicht nur fühlbar, sondern auch messbar sei. Da ist die Rede von links- und rechtsdrehender Energie, geomantischen Erdnetzlinien, Drachenpfaden, unterirdischen Verwerfungen, Magnetfeldern und so weiter. In der Tat: Was manche Menschen an diesen Orten erleben, ist schon erstaunlich.
Ich bin letztlich einen anderen Weg gegangen. Nicht das spektakuläre Erlebnis war mein Ziel, sondern die Frage, was einen solchen Ort wirklich so besonders macht. Über die Jahre habe ich mich von der Vorstellung verabschiedet, das, was Menschen an diesen Plätzen erleben, sei auf Energien zurückzuführen, die dort von Natur aus walten.
Meine Erfahrung war eine grundsätzlich andere: Solche Orte wirken nicht einfach auf ihren Besucher ein, sondern treten in eine Wechselbeziehung mit ihm. Es entsteht eine echte Kommunikation zwischen Mensch und Ort. Damit das funktioniert, müssen beide die gleiche Sprache sprechen. Orte, an denen dies leicht und schon über Generationen hinweg gelingt, nenne ich »mystische Orte«.
Das Geheimnis mystischer Orte
Mystische Orte – das sind Orte, an denen wir etwas wahrnehmen können, das über unsere alltägliche Sinneswahrnehmung hinausgeht. Es sind Orte, die uns ahnen lassen, dass sich hinter der Fassade ihrer äußeren Erscheinung etwas verbirgt, ein Geheimnis. Dieses Geheimnis schlägt uns in seinen Bann, berührt unser Herz, öffnet unsere Sinne für eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit.
Mystisch – das Wort geht auf das griechische »myo«, »schließen«, zurück. Wir schließen die Augen der Vernunft und sehen mit den Augen der Intuition und der Fantasie. Dabei haftet unser Blick nicht weiter am Äußeren, sondern wir horchen in unser Inneres. Was unsere Sinne von den Dingen »da draußen« aufnehmen, ist nicht mehr nur eine Beobachtung, sondern wird zur inneren Erfahrung. Wir betrachten nicht nur, wir schauen (und im Schauen verbinden wir uns mit den Dingen) auf eine andere Weise. Wir beginnen mit dem zu klingen, was wir sehen, fühlen, schmecken, riechen. Wir geraten in tiefe Berührung mit dem, was sich uns nun von seiner unsichtbaren Seite her offenbart.
Die mystische Dimension eines Ortes zeigt sich, aber sie kann nicht ausgesprochen werden. Jedes Wort, das wir über sie verlieren, führt uns in die Irre, denn sie liegt jenseits der Grenze des Denkens und der Sprache. Sie ist übersinnlich, transzendent und nur lebendig durch die eigene Erfahrung, in dem, was sie in uns auslöst.
Mystische Orte sind Kraftorte
Mystische Orte sind Orte der Kraft. Aber was ist ein Kraftort eigentlich? Oft ist zu lesen und zu hören, dass Kraftorte über besondere Energien verfügen, weil sich dort bestimmte Energielinien treffen. Doch wovon sprechen wir, wenn wir von »Energie« reden? Physikalisch gesehen ist mit Energie etwas Messbares gemeint, etwas, das mit Geräten abgebildet und in Zahlen dargestellt werden kann. Wer von Energien spricht, die an einem Ort walten sollen, der drückt damit aus, dass er das, was er dort spürt, auch messen kann; und dass es objektiv zu messen ist. Das bedeutet aber: Jeder müsste das Gleiche an einem solchen Ort spüren können. Schnell wird dann derjenige, der von dem Wirken bestimmter Energien an einem Ort spricht, zu einem Verkünder von Wahrheiten. Wer dann an einem solchen Ort nichts wahrnimmt oder etwas anderes, muss folgerichtig falsch liegen.
Aus diesem Grund spreche ich nicht von Energie, sondern lieber von Kraft. Wir können uns kraftvoll fühlen an einem bestimmten Ort. Aber diese Kraft wird sich bei jedem Menschen ganz individuell zeigen. Jeder kennt sich selbst am besten und weiß, woran er merkt, dass er Kraft besitzt. Der Körper ist der erste Resonanzboden für einen Ort der Kraft. Wie kraftvoll unser Körper auf einen Ort reagiert, ist der Maßstab dafür, ob es sich um einen Kraftort für uns handelt. Niemand kann uns vorschreiben, was wir an einem Ort zu spüren haben und was nicht. Niemand kann sagen, dass wir die Kraft in diesem oder jenem Maße spüren müssen. Es kann sein, dass sich an einem Ort sehr kraftvolle Reaktionen einstellen, an einem anderen Ort nicht. Ich habe oft erlebt, dass ich an einem Tag deutlich in Resonanz mit einem Ort gehen konnte, an einem anderen Tag nicht oder nur wenig. Doch diese rein subjektive Empfindung sagt nichts darüber aus, wie kraftvoll der Ort selbst ist. Sie sagt nur über uns selbst etwas aus und unser Verhältnis zu diesem Ort. Für einen anderen mag es völlig anders sein.
Wir wissen nicht, ob der Ort selbst wirklich eine Kraft besitzt. Wir wissen nur, dass wir etwas spüren, wenn wir mit ihm in Berührung kommen. Es ist für einen mystischen Ort als Kraftort auch unerheblich, ob wir objektiv sagen können: »Dieser Ort besitzt eine bestimmte Kraft!«, denn das, was wir aus der Begegnung mit einem Ort für unser Leben schließen, wird ohnehin eine individuelle Antwort sein. Sie gilt nur für uns. Das Mystische ist nicht objektiv – es ist subjektiv.
Ist dann jeder Ort, an dem ich mich ganz subjektiv wohl- und gestärkt fühle, auch ein mystischer Ort, zum Beispiel mein Garten oder mein Wohnzimmer? Vielleicht ein Kraftort, aber kein mystischer Ort.
Der große Unterschied zwischen meinem Wohnzimmer als persönlichem Kraftort und einem mystischen Ort besteht darin, dass ein mystischer Ort keine individuelle Idee verkörpert, sondern eine transpersonale. Damit meine ich eine Idee, die über meine Persönlichkeit hinausgeht. Wir könnten auch sagen: eine kulturelle, kollektive Bedeutung; jedenfalls eine, die große Gruppen von Menschen einschließt, ganze Landstriche zum Beispiel, aber auch ganze Bevölkerungsgruppen.
Ein mystischer Ort ist immer auch ein Ort von transpersonaler Bedeutung. Er wurde nicht für mich allein geschaffen, sondern er gehört vielen Menschen. Auch können mystische Orte nicht von uns allein geschaffen werden. Sie kommen auch nicht zu uns – wir müssen sie aufsuchen. Man könnte auch sagen: Schon der Weg zu ihnen ist Teil des mystischen Ortes.
Der mystische Ort reicht weit über meine Persönlichkeit hinaus, weil er angebunden ist an Überlieferungen, die Generationen vor meinem eigenen Leben ihren Ursprung haben und oft so weit in die Vergangenheit zurückreichen, dass sie wie ein Echo längst vergangener Tage klingen, rätselhaft und geheimnisvoll.
Aber ich gehe als Mensch des Hier und Jetzt an diesen Ort und verbinde mich mit ihm, mit meinen persönlichen Sorgen und Anliegen. In der persönlichen Begegnung mit dem Überpersönlichen eines mystischen Ortes erlebe ich mein Dasein als Teil eines größeren Ganzen. Ich erlebe mich in Zusammenhänge gestellt, die weit über meinen Alltag hinausgehen. Das Erlebnis jedes Einzelnen mag individuell sein, doch die Begegnung mit dem mystischen Ort gibt uns die Gelegenheit, in Bildern zu denken, zu fühlen und zu spüren, die größer sind als ich. Diese Erfahrung kann meiner Seele wichtige Impulse für meine weitere Entwicklung geben.
Die Rolle von Märchen, Mythen und Sagen
Mystische Orte sind transpersonal, weil sie immer auch mit den Mythen zu tun haben, mit denen wir alle unserer kulturellen Herkunft nach verwoben sind.
Ein typisches Kennzeichen eines mystischen Ortes sind die Erzählungen, die sich um ihn ranken. Oft wird von Begegnungen mit Göttern erzählt oder von Naturgeistern und Dämonen. Volkssagen und Legenden umranken den Ort und bilden oft genug Erklärungsversuche ab für das, was Menschen an diesem Ort erlebten. Der Mythos ist das sprachliche Gewand des Mystischen, über die Sagen und Legenden sprechen die Orte zu uns und können sich uns auf eine andere Weise mitteilen. Während das Erleben einmalig und sehr persönlich ist, erreicht uns der Mythos eines Ortes aus der fernen Vergangenheit und erinnert uns daran, dass schon viele Menschen zuvor diesen Platz aufgesucht haben, um etwas an ihm zu erfahren. Wenn wir uns also mit dem Mythos beschäftigen, dann schaffen wir genau jene Verbindung zum Überpersönlichen, die einen mystischen Ort kennzeichnet. Gut, dass die Sprache von Sagen und Legenden meist nicht eindeutig ist und eine Vielzahl von Fantasien in uns auslösen kann. In jedem von uns erklingt ein anderes Märchen, wenn wir die eine Geschichte hören, die uns über einen mystischen Ort berichtet wird.
Die innere und die äußere Landschaft
Ein mystischer Ort zeichnet sich aus durch zwei Besonderheiten. Zum einen durch seine äußere Landschaft. Damit sind die physischen Eigenschaften und besonderen Merkmale eines Ortes gemeint. Es ist immer wieder zu beobachten, dass nur besonders auffällige Gegebenheiten der Umwelt zu mystischen Orten wurden. Ein solcher Ort muss sich im Vergleich von seiner Umwelt deutlich unterscheiden – sei es in Form, Farbe oder Position. Das bezieht sich auch auf Orte, die vom Menschen selbst geschaffen wurden, wie zum Beispiel Stonehenge, die Pyramiden oder die Roseninsel, auch wenn in der Regel...