Es soll hier zunächst eine Untersuchung über die mythologischen Stoffe und Personen, die Hitler Material geliefert haben, aus denen er später, in eklektischer Methode, seinen „neuen“ Mythos produzierte, vorgenommen werden. Eine zentrale These der vorliegenden Arbeit ist, dass Elemente der nordisch-germanischen Mythologie einen nicht unerheblichen Teil dieses Materials ausmachten.
Der am 20. April 1889 in Braunau/Inn zur Welt gekommene Adolf Hitler war das vierte von sechs Kindern. Durch den Zollberuf des Vaters musste die Familie des öfteren umziehen. Hitler besuchte nach zwei Grundschulen von 1900 bis 1904 die Realschule in Linz, später die Staatsoberrealschule in Steyr. Nach Schulabbruch siedelte er Anfang 1908 nach Wien über, wo er nach zweimaligem Scheitern bei der Aufnahmeprüfung an der Malschule der Kunstakademie ein Leben im „Selbststudium“ führte. August Kubizek, einen jungen Tapezierer aus Linz, den er bei einem Linzer Opernbesuch kennengelernt hatte, überredete er, auch nach Wien zu ziehen, um ein Musikstudium aufzunehmen. Bis November 1908 bewohnte Hitler mit Kubizek ein „Kabinett“. Nach überraschendem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung schlug er sich alleine als Postkartenmaler durch. Seine „Männerwohnheimphase“ wurde im Mai 1913 mit der Übersiedlung nach München beendet, durch die er sich dem österreichischen Militärdienst entzog. Bei Kriegsausbruch meldete er sich jedoch freiwillig in die bayrische Armee.[17]
Hitlers Einstieg in die Welt der Mythologie ermöglichte der deutsch-national-gesinnte Linzer Geographie- und Geschichtslehrer Dr. Leopold Poetsch[18], der den jungen Adolf von 1901 bis 1904 unterrichtete.[19]
Poetsch war der Ansicht, dass man nach dem deutschen Sieg von 1870/71 sich die germanischen Vorfahren viel mehr bewußt machen müsse, indem man „mit größerer Liebe in den Büchern deutscher Mythe, Sage und Geschichte“ nachlese.[20]
Poetsch stand mit dieser Ansicht nicht alleine da. Nicht erst seit der Schlacht von Sedan versuchten die Deutschen, eine identitätsstiftende Geschlossenheit und vermeintliche Größe zu gewinnen, die sie dann bedingt in der politischen Einigung durch die „preußische“ Reichsgründung relativ spät fanden.
Das Sammelsurium von kleinen Königreichen, Fürstentümern und Grafschaften, das mit Österreich und Preußen bis 1806 das späte Heilige Römische Reich Deutscher Nation bildete, taugte ebensowenig wie sein Nachfolger, der Deutsche Bund, dazu, sich auf glorreiche Zeiten eines großen Volkes zu besinnen.[21]
Schon die „Sturm und Drang“-Schriftsteller des ausgehenden 18. Jahrhunderts und später, Mitte des 19. Jahrhunderts, auch die nationalgesinnten Kreise beriefen sich daher lieber auf das frühe Mittelalter, suchten nach Quellen und überzeichneten in idyllischen, naturbezogenen Bildern diese Epoche als die der „wahren“ deutschen Nation, auch wenn diese realpolitisch nie bestanden hatte.[22]
Diese Tendenz verstärkte sich trotz der neuen Identitätsbildung auch nach der Gründung des Zweiten Reiches 1871, als die zwar äußerst traditionsbewußte und „stockkonservative“ Regierung Industrialisierung und Städtebau rigoros vorantrieb und damit den ländlichen Charakter Deutschlands zerstörte.[23] Diese modernen materialistischen Bemühungen des neuen Reiches gingen trotz des sichtbaren Niedergangs der Landschaft mit verstärkten romantisch-germanischen Vorstellungen einher. Man sah zwar die Notwendigkeit der forcierten Industrialisierung, um das Reich groß zu machen, wollte sich diese Modernität aber nicht ständig vor Augen führen.[24]
Diese romantischen Vorstellungen beinhalteten bereits Visionen von deutschem Führertum, Sieg, Stärke, Lebenskraft, Tapferkeit und Heldentum und wurden genährt durch die militärischen Siege über Frankreich durch die „Völkerschlacht von Leipzig“ und, wie angesprochen, bei Sedan.[25]
Deutsche „Mythe, Sage und Geschichte“ spiegelte sich in heidnischen Licht- und Feuerfesten oder auch in der Errichtung von Nationaldenkmälern wie dem Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald oder dem Germaniastandbild auf dem Niederwald bei Rüdesheim.[26]
Hitler kannte die germanische Mythologie nicht nur durch seinen alten Geschichtslehrer und den symbolischen Ausdruck in Traditionselementen oder Denkmälern. Er beschäftigte sich mit ihr auch intensiv in seinem „Selbststudium“.
Zwar führte er weder Tagebuch noch eine „Leseliste“[27]; es ist aber vor allem den späteren Erinnerungen Kubizeks[28] zu verdanken, dass wenigstens ein vages Bild über die gelesenen Schriften des späteren „Führers“ existiert. Über die Art, wie Hitler las, berichten „Mein Kampf“ und „Adolf Hitler - Mein Jugendfreund“ übereinstimmend: Hitler war „Autodidakt“. Die Kunst des Lesens bestand für ihn darin, „das Wertvolle vom Wertlosen zu sondern“[29]. Welche Texte und Inhalte zu welcher Kategorie gehören, entscheidet der Autodidakt naturgemäß selber. Deshalb konnte Hitler, vor allem in seiner Wiener Zeit, „Weltbilder“ konstruieren, die aus vielen Fassetten bestanden, die aber nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben mussten. Wenn ihm das Ergebnis gefiel, erzählte er es anderen Leuten[30], wobei er anscheinend durch das laute Vortragen sich selbst zuhörte und dabei über die Richtigkeit seiner gewonnenen Einsicht entschied. Sein Gegenüber wurde in diesen Urteilsprozess nicht einbezogen, sondern stellte für Hitler lediglich einen Grund dar, nicht als Selbstgesprächler zu gelten. In dieser Form einer „Dialektik“ zählte also nur die eigene, eventuell später (durch Hitler selber) verifizierte Meinung. Diese Art der „Erkenntnismanifestierung“ blieb in Hitlers gesamtem Leben konstant, wofür seine „Monologe“ bzw. „Tischgespräche“ im Führerhauptquartier gute Beispiele sind. [31]
Hitlers Hang zur germanischen Mythologie wurde von August Kubizek als einziges stetiges Moment in dessen Jugend und während seines Wiener „Studiums“ beschrieben. Adolf habe sich an den Erzählungen der deutschen Heldensage „berauscht“[32]. Unter allen Büchern nahmen den ersten Rang die deutschen Heldensagen ein. „Unberührt von der jeweiligen Stimmung und der äußeren Situation, in der er sich befand, wurden sie immer wieder vorgenommen und gelesen. Längst kannte er sie alle auswendig. Trotzdem las er sie immer wieder von neuem.“[33] Kubizek gab weiterhin an, dass Hitlers Beschäftigung mit der deutschen Sagenwelt keineswegs nur „jugendliche Schwärmerei“[34] war. Diese Mythologie war „die Welt, der er sich zugehörig fühlte.“[35] „Nichts erschien ihm erstrebenswerter, als nach einem Leben voll kühner, weitreichender Taten, einem möglichst heroischen Leben, nach Walhalla einzuziehen und für alle Zeiten zu einer mythischen Gestalt zu werden, ähnlich jenen, die er selbst so innig verehrte.“[36] Für den Freund war es eine Tatsache, „daß Adolf Hitler zeitlebens keinen anderen Boden fand, auf dem er in geradezu frommer Gläubigkeit verweilen konnte, als jenen, zu dem ihm die deutsche Heldensage das Tor geöffnet hatte.“[37]
Auch wenn die sogenannten „Deutschen Heldensagen“ nicht als „echte“ Quelle der germanischen Mythologie gelten können, weil sie höchstens Rückschlüsse auf die ursprünglichen Mythen zulassen[38], soll hier dennoch an erster Stelle etwas zu ihnen gesagt werden. Denn nach Kubizeks Ausführungen bestimmten sie, wie oben gezeigt, entscheidend die Persönlichkeit Hitlers.
Gustav Schwab[39], der Sagen und Märchen der griechischen, römischen und deutschen Mythologie sammelte und sie in umgeschriebener, einfacher, also „volkstümlicher“ Form herausbrachte, lieferte Hitler vor allem in seiner Linzer Zeit die „liebste Lektüre“[40].
Die Heldengestalten entsprangen den mündlichen Überlieferungen diverser Heldenlieder, -sagas, aber natürlich vor allem den unten näher beschriebenen Stoffen der Edda und des Nibelungenliedes. Zu ihnen zählten Siegfried, sein Pendant Arminius oder Hermann der Cherusker, Hildebrandt, Volker von Alzey, Dietrich...