Wie bereits in der Einleitung erwähnt, unterscheiden sich narrative Computerspiele zentral von solchen, in denen der Wettbewerb zwischen den Spielern im Vordergrund steht[31]. Darüber hinaus haben diese Spiele andere gemeinsame Eigenschaften, welche sie von „minimalnarrativen“[32] Spielen wie Super Mario (Nintendo, 1985ff.) und Pac-Man (Namco, 1980ff.) differenzieren; diese sollen nachfolgend vorgestellt werden.
Obgleich Matthis Kepser (2012) Computerspiele als „größtenteils narrativ grundierte Bildschirmmedien“[33] bezeichnet, lassen sich längst nicht alle als solche definieren; ebenfalls ist es schwierig, bestimmte Genres als ausschließlich narrativ zu bestimmen. Rollenspiele und Adventures sind noch am einfachsten als grundsätzlich narrativ zu erkennen, des Weiteren sind Strategiespiele meist in eine historische (auch fiktional-historische) oder fantastische Handlung eingebettet. Jump’n’Runs[34], Puzzlespiele und Shooter (First und Third Person) variieren, während Sportspiele selten bis nie narrativ angelegt sind. Ziel eines narrativen Spiels ist das Erwecken von Emotionen im Spieler, um diesen enger an das Spiel zu binden, wobei die Narrativität hier nur eines der Instrumente ist, welches der Autor des Spieles zu Hilfe nimmt[35]. Durch diese Kaschierung des eigentlich abstrakt-mathematischen Codes mit einer „zeichenbasierten Repräsentation“[36] nimmt der Spieler das Spiel auf ästhetischer Ebene wahr, vergleichbar mit den Verstehensprozessen, welche bei literarischen Texten stattfinden[37]. Das narrative Spiel suggeriert also etwas, was eigentlich nicht vorhanden ist: der Quellcode jedes Spiels ist sicherlich nur von Enthusiasten als ästhetisch zu bezeichnen, doch entsteht durch die Ausführung desselben auf einem Computer oder einer Konsole ein Spiel, welches ästhetisches Empfinden und echte Emotionen im Spieler erwecken kann.
Narrativität in Computerspielen wird nicht nur über Texte erreicht, sondern auch über Bild und Ton[38], welche im ständigen Zusammenspiel stehen. Oftmals wird z.B. eine Veränderung in der Stimmung des Spiels durch ansteigende oder abfallende Musik untermauert, oder eine Gefahrensituation durch einen dunkler werdenden Raum suggeriert. Auf diese Weise findet permanent eine „unbewusste Beeinflussung des Spielers“[39] statt, welche grundsätzlich auch etwas didaktisches hat[40]: wenn der Spieler einmal gelernt hat, dass von Räumen, welche in blaues Licht getaucht sind, keine Gefahr ausgeht, wird er sich beim Erreichen des nächsten blaubeleuchteten Raumes dem entsprechend verhalten. Natürlich machen sich Spieledesigner gerade diese Lerneffekte zu Nutze, um den Spieler dann wiederum mit einem besonders starken Gegner in einem blauen Raum zu überraschen. Im Grunde finden wir hier ein gelungenes Beispiel situierten Lernens, welches in Computerspielen permanent stattfindet.[41]
Funktionieren kann ein solches Modell natürlich nur dann, wenn der Spieler die Spielwelt akzeptiert, sprich sich in dieser zu bewegen glaubt. Das aus anderen fiktiven Medien bekannte Prinzip der willing suspension of disbelief („willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“) findet sich auch im Computerspiel wieder, wird hier allerdings noch vom Umstand begleitet, dass der Spieler die Handlung in aller Regel zu jeder Zeit „anhalten“ kann, einfach indem er nicht das tut, was das Spiel benötigt, um zum nächsten Punkt in der Handlung voranzuschreiten. So kann er z.B. in einem Adventure bereits besuchte Räume nochmals erkunden (was in der Regel zu keinem Ergebnis führen wird), oder in Jump’n’Runs einfach in die „falsche“ Richtung laufen, bis er wieder am Anfang des Levels ist. Solche „queren“ Handlungen, welche die Hauptgeschichte nicht weiterführen, sind in diversen Spielen als sogenannte side quests bewusst integriert, um dem Spieler die Möglichkeit zu geben, eine „Pause“ von der Handlung zu machen und sich anderen Dingen zu widmen. Dies ist so in einem Roman oder Film offensichtlich nicht möglich, weshalb die Erzählung im narrativen Computerspiel die exklusive Eigenschaft hat, dass die „virtuelle Welt“ nur dann zur solchen wird, wenn der Spieler die ihm gegebenen Möglichkeiten auch umsetzt. Die Geschichte entsteht erst dann, wenn der Spieler sie selbst entstehen lässt[42].
Auf diese Weise wird der Spieler selbst „nicht nur zur Figur, sondern auch zum Autor der Geschichte“[43], wenngleich auch zu einem „einge-schränkten“[44]: so kann er nur den Plot nachzeichnen, welchen der Autor des Spiels für ihn vorgesehen hat. Computerspiele, anders als oft behauptet, sind daher im Grunde kein interaktives Medium, sondern nur eines der suggerierten Interaktivität: auch wenn es dem Spieler so scheint, als ob seine Eingaben das Spiel beeinflussen, ist letzten Endes doch jede mögliche Reaktion auf seine Handlungen bereits vorhergesehen und eingeplant; Ausnahmen stellen nur Fehler im Code dar. Insofern ist der Spieler eben doch nur Rezipient, wenn auch ein aktiver: anders als z.B. einen Film kann man ein narratives Spiel schlecht passiv an sich vorbeiziehen lassen, da der Input des Spielers integral ist. Ausnahme sind voranimierte Zwischensequenzen, welche dem Spieler die Kontrolle über seinen Avatar (siehe unten) entziehen und die Geschichte in einer Filmsequenz weitererzählen. Diese „nicht-ludischen Phasen“[45] stellen zwar in den meisten Spielen eindeutig den kleineren Teil der Spielzeit dar, jedoch sind sie gerade zu Beginn des Spiels in den sogenannten Tutorials oftmals überproportional im Einsatz.
Der Avatar, die Repräsentation des Spielers in der Spielwelt, kann vielfältiger Gestalt sein und trägt merklich zur Immersion und Interaktivität des Computerspiels bei[46]. Bei den meisten Spielen ist der Avatar die Figur, über welche der Spieler die direkte Kontrolle übernimmt; steuert er die Figur (oder Figuren) nur indirekt, wie z.B. in den meisten Adventures und Strategiespielen, kann sowohl der Mauszeiger die Rolle des Avatars übernehmen[47], als auch die durch ihn gelenkte Figur. Dieser Avatar fungiert im narrativen Computerspiel als das Äquivalent des Erzählers[48], da durch seinen Fokalpunkt die Geschichte erzählt wird. Da, anders als in anderen literarischen Medien, der Erzähler und der „Leser“ somit in derselben Person vereint sind (nämlich dem Spieler), wird Spielspaß nicht nur durch das Lösen von Rätseln, simulierte Rollen und kreatives Denken[49] gefördert, sondern auch durch die „Selbstwirksamkeits-erfahrung“[50], welche der Spieler wahrnimmt. Er selbst erzählt die Geschichte, handelt in ihr und motiviert die computergesteuerten Figuren (NPCs – non-player characters), ihrerseits Aktionen auszuführen. Auf diese Weise wirkt ein gutes narratives Computerspiel unmittelbarer als andere kreative Medien und der Spieler kann „aus dem Spiel die Aspekte heraus [lösen], die für ihn und sein Leben wichtig sind.“[51] Die Narrativität ist für diesen Prozess integral, da sie im Wechsel mit der Immersion agiert; das Spiel ist fiktional, aber die Aktionen, die die Spieler in ihm ausführt, sind real[52], weswegen Spieler (und auch SuS!) sie anders begreifen als die rein fiktionale Handlung z.B. eines Romans. Das Spiel selbst hingegen „legitimiert“[53] sich durch die Geschichte: viele Aktionen in Computerspielen sind, für sich selbst betrachtet, komplett sinnlos, ergeben aber verbunden mit der Narrative Sinn. Wenn der Spieler in Portal 2 z.B. die Aufgabe hat, mit Hilfe eines Gels, welches auf den Boden gesprüht als Trampolin fungiert, eine höhere Ebene zu erreichen, ist diese Idee im Vakuum betrachtet völlig hanebüchen und erschließt sich dem Spieler erst durch die anleitende Narration des Spiels.
Das Problem (nicht nur narrativer) Computerspiele wurde bereits angesprochen, soll hier allerdings nochmals vertieft werden: der Spieler kann, ein fehlerfreies Spiel vorausgesetzt, keine Handlung ausführen, welche nicht bereits vom Programmierer (Von Heiko Miele „impliziter Autor“[54] genannt) er– und bedacht wurde[55]. In dem Moment, wo sich der Spieler dieser Einschränkung bewusst wird, verliert das Medium sein stärkstes Argument, eben die suggerierte Interaktivität. Das Bewusstsein darüber, dass das Computerspiel eben doch bereits geschrieben ist, und vom Spieler nur „nacherzählt“ wird, kann hierbei auf verschiedene Arten erlangt werden: so sind dem Spieler verstellte Bewegungsmöglichkeiten (in sogenannten Open World Spielen traditionell unsichtbare Wände, welche bestimmte Straßen u.ä. absperren) dem Freiheitserlebnis der Spielers genauso wenig förderlich wie logische Ungereimtheiten in der Narration (klassisches Beispiel aus diversen Rollenspielen: das Artefakt, welches die Gottheit besänftigt und die Welt beschützt, wird unbewacht auf dem Dorfplatz ausgestellt und selbstverständlich prompt vom Bösewicht gestohlen) oder die fast immer berechenbar agierenden NPCs[56], mit denen der Spieler in Kontakt steht....