Vorwort
Schon seit einigen Jahren arbeite ich im virtuellen Raum mit Frauen und Männern, die narzisstischen Missbrauch erleben mussten. Seit 2017 führe ich eine eigene Facebookgruppe zu dieser Thematik und werde dort von sehr beherzten und lebenserfahrenen Frauen unterstützt, die ebenfalls mit narzisstischem Missbrauch zu kämpfen hatten. Gemeinsam versuchen wir, anderen Betroffenen ein wenig Hilfestellung zu geben, sie über die Problematik insgesamt aufzuklären, ihnen Zusammenhänge in ihrer Entwicklung bewusst zu machen und sie in ihrem ersten Kummer und ihrer Entwicklung aufzufangen und zu begleiten. Es sind Menschen, die – wie wir selbst auch – viel Leid erfahren haben und verstehen möchten, was in ihrem Leben passiert ist, warum man ihnen all das angetan hat und wie sie es vermeiden können, immer und immer wieder in die gleichen Fallen zu laufen. In der Regel landen diese Menschen bei uns, weil sie den narzisstischen Missbrauch innerhalb ihrer bestehenden oder vergangenen Beziehung erlebt haben. In fast allen Fällen kommt in den Gesprächen heraus, dass sie bereits in ihrer Kindheit verwandte Erfahrungen gemacht haben. Die Geschichten, die dabei ans Tageslicht kommen, ähneln sich so sehr, dass man durchaus einen roten Faden erkennen kann, auch wenn sie sich durch individuelle Gegebenheiten doch wieder sehr voneinander unterscheiden.
Um aufzuzeigen, was narzisstischer Missbrauch in der Kindheit bedeutet und welche Auswirkungen er auf die Betroffenen hat, habe ich sehr viele Interviews mit Betroffenen geführt. In meiner Facebookgruppe beschäftigen wir uns darüber hinaus täglich mit diesen Problematiken.
Die Betroffenen haben viele Gemeinsamkeiten: alte Muster, die sich sehr destruktiv auf ihr Leben als Erwachsene auswirken und sie immer wieder in Situationen stolpern lassen, in denen sie sich erneutem Missbrauch ausgesetzt sehen. Alte Glaubenssätze von der eigenen Wertlosigkeit, dem Gefühl, immer funktionieren zu müssen, für alles Mögliche verantwortlich zu sein. Ebenso der Gedanke, dass sich all das, was sie erleben mussten, für Außenstehende so unwahrscheinlich anhört, dass ihnen ohnehin niemand glaubt.
Auch ich bin eine ehemalige Betroffene. Ich habe etwa drei Jahrzehnte lang nach einer Erklärung für das Verhalten meiner Mutter gesucht und fand mich in mehreren Beziehungen wieder, in denen ich narzisstischen Missbrauch erlebt habe. Erst durch meine letzte Beziehung dieser Färbung brachte ich den Begriff Narzissmus auch mit meiner Mutter in Verbindung, sah die Parallelen in ihrem Verhalten und dem meines letzten Partners. Ich habe mich mit all diesen Dingen intensiv auseinandergesetzt. Auch meine Schwester hat das getan, die aus meiner Sicht ebenfalls mit einem narzisstischen Missbrauch durch unsere Mutter zu tun hatte. Gemeinsam konnten wir viele Problematiken bewältigen, die uns noch enger zusammengeschweißt haben. Damit sich dieses Buch nicht nur mit meinen eigenen Erlebnissen und denen meiner Schwester beschäftigt, möchte ich allerdings die Erfahrungen meiner Gesprächspartnerinnen in den Vordergrund stellen. Alle Zitate und Aussagen, die sich in den folgenden Kapiteln finden, sind anonymisiert. Alles, was die Personen erkennbar machen würde, habe ich weggelassen oder abgewandelt. Wo es mir geeignet erschien, habe ich meine eigenen Erfahrungen als Betroffene und auch die meiner Schwester einfließen lassen.
Narzisstischer Missbrauch durch die eigenen Eltern ist, obwohl es so viele Betroffene gibt, immer noch ein Tabuthema. Den Missbrauch durch die eigenen Eltern offen darzulegen, unterliegt einer viel höheren Hemmschwelle, als über den Missbrauch innerhalb einer Paarbeziehung zu sprechen. Meine Gesprächspartnerinnen haben intensiv an sich gearbeitet, Ursachen erkannt, Konsequenzen gezogen und ihr Leben entsprechend verändert. Mein Anliegen mit diesem Buch ist Information: Ich möchte aufzeigen, wie sich narzisstische Mütter verhalten, wie sich das auf ihre Kinder auswirkt, welche Spätfolgen sich entwickeln können. Ich möchte auch verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Problematik vorstellen: Wir sind jetzt keine kleinen Kinder mehr, sondern erwachsene Menschen. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen, wir dürfen uns wehren, wir dürfen uns Strategien erarbeiten, um den Missbrauch ein für alle Mal zu unterbinden oder ihn so gering wie möglich zu halten, indem wir ihn bewusst wahrnehmen und adäquat darauf reagieren.
Eine Schwierigkeit hat sich während der Arbeit an diesem Buch immer wieder deutlich gezeigt, speziell in den Interviews: Die Abgrenzung von »Narzissmus« und anderen seelischen Störungen oder Persönlichkeitsstörungen ist sehr, sehr schwer, teilweise unmöglich. Die Grenzen zwischen der malignen NPS (narzisstische Persönlichkeitsstörung), der ohne Zweifel schädlichsten Form dieser Störung, und der Psychopathie sind auch für jahrelang erfahrene Experten nur sehr schwer zu ziehen – häufig geht das nur mit mehreren diagnostischen Methoden. Es wäre anmaßend von mir, würde ich hier klare Abgrenzungen vornehmen. Ich möchte aber an dieser Stelle ein Zitat einfließen lassen aus der Serie »Hannibal«, welche die Geschichte von Hannibal Lecter detailreicher erzählt, als es in den Büchern von Thomas Harris der Fall ist. In einer Szene sagt Hannibal: »Narzissten sind keine Psychopathen. Aber Psychopathen sind immer auch Narzissten.«
In einigen Schilderungen meiner Gesprächspartnerinnen liegt die Vermutung nahe, dass hier auf Seiten der Eltern oder eines Elternteils auch ein Missbrauch von Alkohol oder Drogen gegeben war. In anderen Erzählungen fand ich Hinweise auf psychotisches Verhalten, vielleicht sogar auf paranoide oder schizoide Störungen. Am Ende spielt das fast keine Rolle, denn all die Schilderungen drehen sich um Missbrauch auf emotionaler, psychischer oder physischer Ebene. Je nach Ausprägung einer Störung kann dieser Missbrauch in allen Härtegraden daherkommen. Diese Missbrauchsfälle sind als narzisstisch einzuordnen, doch das muss nicht bedeuten, dass die Mütter, über die wir hier sprechen, an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden.
In diesem Buch soll es ohnehin nicht darum gehen, Menschen, die ich nicht kenne, Diagnosen zu stellen. Das ist nicht möglich. Außerdem darf ich keine Diagnosen stellen, das dürfen nur Experten. Ich bin eine Betroffene und ich arbeite mit Betroffenen – nur das, was sie zu erzählen haben, nur das, was sie überwinden und verarbeiten müssen, zählt für mich. Wenn ich vor dreißig Jahren schon gute Literatur zu diesem Thema in die Finger bekommen hätte, wäre mir vermutlich sehr viel Schmerz erspart geblieben. Ich habe Literatur aus dem Bereich Psychologie verschlungen, seit ich denken kann. Aber der Begriff »Narzissmus« wird erst in den letzten Jahren so intensiv besprochen, dass er Betroffenen überhaupt begegnet.
Möglicherweise kann ich mit diesem Buch dazu beitragen, dass heutige Betroffene schneller erkennen und verstehen. Erkennen und Verstehen, das sind immer die ersten Schritte im Heilungsprozess. Wir können natürlich die Menschen nicht ändern, durch die der Missbrauch stattgefunden hat – oder noch immer stattfindet. Wenn wir aber verstehen, was da überhaupt passiert, können wir anfangen, ganz bewusst an uns selbst zu arbeiten. Wer in seiner Kindheit narzisstischen Missbrauch erleben musste, hat in der Regel sein ganzes Leben lang mit speziellen Symptomen zu tun: Schuldgefühle, Blockaden beim Definieren der eigenen Grenzen, maßlose Dankbarkeit für ganz selbstverständliche Dinge und noch vieles mehr. Es tut einfach gut zu erkennen, dass man selbst als Kind nicht schlecht war, nicht dumm, nicht hässlich, nicht unbegabt, nicht undankbar – sondern dass man diese und viele andere Dinge schlichtweg eingeredet bekam.
Auch kämpfen Betroffene ihr ganzes Leben lang gegen Reaktionen aus ihrem Umfeld, wenn sie von ihrem Missbrauch durch eine narzisstische Mutter erzählen. Die Reaktionen reichen von ungläubigem Staunen bis hin zur Missbilligung und der totalen Ablehnung. Die Betroffenen müssen auch erst einmal an den Punkt kommen, an dem sie erkennen, dass dieser Missbrauch eben nicht normal ist, dass er nicht überall vorkommt. Und dann kommt die Sorge, dass man unglaubwürdig klingt. Wie oft haben betroffene Menschen gehört, dass sie sich das alles einbilden? Dass sie sich Geschichten ausdenken, um sich interessant zu machen? Sehr häufig leiten sie ihre Erzählung ein mit Sätzen wie diesem: »Das glaubt mir doch niemand.« Diese Menschen sind nach meiner Erfahrung unfassbar dankbar, wenn sie mit anderen Betroffenen sprechen können und merken, dass sie kein Einzelfall sind, dass man ihnen glaubt und sie versteht. Dabei sprechen wir übrigens von Frauen aller Altersgruppen. Von Frauen, die häufig trotz all des Erlebten noch immer an ihrer Mutter hängen und nicht loslassen können. Schließlich ist es doch die eigene Mutter!
Auch Männer sind von Missbrauch durch narzisstische Mütter betroffen – in diesem Buch habe ich mich allerdings auf die Töchter konzentriert, sonst wäre es viel zu umfangreich geworden. Das missbräuchliche Verhalten ist zwar oft das Gleiche wie Töchtern gegenüber, die Entwicklung der betroffenen Männer unterscheidet sich jedoch nach meinen Erkenntnissen stark von der Entwicklung betroffener Frauen. Auch darf nicht vergessen werden, dass es ebenso viele narzisstische Väter gibt wie narzisstische Mütter und diese auch wieder ganz andere Spuren hinterlassen. All das hätte den Rahmen gesprengt.
Es gibt noch ein paar Dinge, die ich gleich zu Beginn dieses Buches klarstellen möchte:
- Niemand, der narzisstischen Missbrauch erlebt...