1. HIRN UND PSYCHE: LABIL UND SENSIBEL
Auf dem Vormarsch: Psychische und psychosomatische Erkrankungen
Eigentlich leben wir in einer Zeit des Fortschritts, in der Krankheiten kaum noch eine Rolle spielen sollten. Die hygienischen Verhältnisse haben sich verbessert, ebenso die Nahrung und die medizinische Versorgung. Hinzu kommt, dass die Arbeitszeiten in den letzten Jahren immer weiter zurückgeschraubt wurden und sich auch die Arbeitsverhältnisse insgesamt verbessert haben.
Dennoch: Von einem Zeitalter allumfassender Gesundheit sind wir weit entfernt. Gerade psychische und psychosomatische Erkrankungen haben dramatisch zugenommen:
• Die Weltgesundheitsorganisation erwartet, dass Depressionen in 20 Jahren nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit sein werden, noch vor Verkehrsunfällen.
• Täglich bekommt der Hausarzt Besuch von mindestens einem Angstpatienten, wobei dessen Angststörung oft durch körperliche Symptome wie Kopfschmerzen und Muskelverspannungen verdeckt wird.
• Millionen von Übergewichtigen klagen darüber, dass sie einfach nicht Herr ihrer Essgelüste werden, und auch das Heer der Spiel-, Nikotin- und Alkoholsüchtigen bekommt seine Abhängigkeiten nur selten in den Griff.
• Mehr als 600 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden an ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung), oft in Verbindung mit Hyperaktivität.
• Psychosomatische Erkrankungen, also jene körperlichen Beschwerden, die durch seelischen Stress hervorgerufen oder zumindest verstärkt werden, nehmen dramatisch zu. Schlaflosigkeit, Spannungskopfschmerzen, Migräne, Rückenschmerzen, Neurodermitis und chronische Müdigkeit – all diese Krankheiten gehören mittlerweile zu den Standardproblemen, um derentwillen man den Arzt aufsucht oder zur Selbstmedikation greift.
• Und von der Psychoneuroimmunologie wissen wir schließlich, dass der Krebs sich auch deshalb so hartnäckig allen therapeutischen Versuchen widersetzt, weil die psychischen Bedingungen nicht stimmen. Denn der psychische Stress unserer Zeit raubt dem Immunsystem die Kraft, die schwere Krankheit von sich aus zu besiegen.
Bleibt die Frage nach den Ursachen für den »Psycho-Boom« der hiesigen Krankheitslandschaft.
Die Narben der Seele
Einer der Gründe liegt darin, dass wir es bei der Psyche mit einem außergewöhnlich sensiblen »Organ« zu tun haben. Wenn wir uns als Kind beim Spielen eine Schramme am Knie holen, dann bildet sich an der Stelle eine Blutkruste, und möglicherweise bleibt auch eine kleine Narbe zurück, doch als Erwachsene werden wir in der Regel nicht mehr viel davon merken. Nicht so jedoch bei der Psyche. Muss sie im Kindesalter durch ein traumatisches Erlebnis hindurch, wie etwa die Scheidung der Eltern oder einfach nur eine Nacht, in der man als Baby durchgebrüllt hat, ohne dass jemand zum Trösten kam, dann bleibt hier mehr zurück als nur eine Narbe. Das Trauma wird nämlich irgendwo in einer Ecke des Unbewussten »geparkt«, von wo aus dann permanent Störfeuer an die übrigen Bereiche der Seele gesendet werden. Und je nach Stärke des Störfeuers kann schließlich der gesamte psychische Apparat Schaden nehmen.
Das nimmersatte Hirn
Doch es sind nicht nur Kindheitserlebnisse, die uns geistig zu schaffen machen. Ein weiterer Belastungsfaktor ist, dass unser Gehirn eigentlich nie genug kriegt. Es will immer Effekte, gleichgültig, wie diese aussehen.
In den 1950er-Jahren zahlte der kanadische Neuropsychologe Donald Hebb seinen Probanden 20 Dollar für jeden Tag, den sie allein in einem schallisolierten Zimmer verbrachten. Allerdings mussten sie dabei nicht nur auf akustische Reize, sondern auch auf andere Teile ihrer sinnlichen Wahrnehmungswelt verzichten. So stülpte man ihnen Handschuhe und isolierende Rollen über Hände und Arme, um sie von taktilen und akustischen Reizen abzuschotten, und sie trugen eine Brille, durch die sie nur das Allernötigste sehen konnten. Hebbs Probanden waren also von der Umwelt abgeschirmt. Und trotzdem glaubten sie ihr Geld locker absitzen zu können.
Tatsächlich gaben die meisten bereits nach zwei Tagen auf, kein Einziger hielt eine ganze Woche durch. Die Testpersonen wurden zunächst von Konzentrationsschwäche und einschießenden Erinnerungen heimgesucht und später von Halluzinationen, die sie in Panik stürzten. Ein Proband sah urzeitliche Tiere in einem Dschungel, ein anderer glaubte, dass ihn eine Gewehrkugel getroffen habe. Und das Experiment wurde – wohlgemerkt – in einer Zeit durchgeführt, als es noch keine Smartphones gab und man sich noch mit Schwarz-Weiß-Fernsehern und Radios begnügte. Dass Menschen das Nichtstun und die Leere kaum ertragen können, ist also nichts Neues und keine Zeiterscheinung. Es ist vielmehr ein typisches Merkmal des menschlichen Gehirns. Denn dieses Organ ist ein Getriebener, angetrieben durch sich selbst. Und zwar vom mesolimbischen Dopaminsystem und einigen anderen Hirnregionen, die gerne auch als »positives Belohnungszentrum« bezeichnet werden.
Dieses System besteht aus Zellen mit langen Axonen, die an der Grenze von Mittel- und Zwischenhirn entspringen und bis weit in die Vorderhirnregionen hineinreichen. Je nach Belohnungswert eines Reizes werden dort mehr oder weniger große Mengen des Botenstoffs Dopamin ausgeschüttet, die den Drang nach einem Effekt auslösen. Nun will das Gehirn etwas erreichen, etwas bewegen. Vor allem wenn ein erwarteter Effekt ausbleibt, feuert dieses Dopaminsystem und treibt uns weiter an, diesen Fehler zu korrigieren. Was es letztlich erreichen will, ist dabei nicht so bedeutend. Wichtig ist, dass es irgendetwas gibt, das es erreichen will.
Und genau an diesem Punkt fallen sich das Gehirn und die multiple Erlebnisgesellschaft von heute geradezu gegenseitig in die Arme. Auf der einen Seite das nimmersatte Denkorgan, das immer will, dass etwas passiert. Und auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die genau das Umfeld bietet, das diesem Organ alle Möglichkeiten gibt, sein unendliches Bedürfnis nach »Action« und Effekten zu befriedigen. Es gibt kaum eine Phase, in der wir nicht irgendetwas tun oder zumindest irgendetwas konsumieren. Morgens läuft das Radio, und auf dem Mobiltelefon werden die ersten Nachrichten gecheckt, während wir uns ein Brötchen oder Müsli reinstopfen. Dann geht es zur Arbeit, wobei im Auto meistens wieder das Radio läuft oder in der Bahn wieder das Handy zum Glühen gebracht wird. Kaum am Arbeitsplatz eingetroffen, werden erst mal die Mails abgerufen. Und so geht das oft den ganzen Tag weiter. Kanadische Forscher ermittelten an einem durchschnittlichen EDV-Unternehmen ihres Landes, dass die Mitarbeiter im Schnitt alle fünf Minuten von einer neuen E-Mail aus ihrer Arbeit gerissen wurden. Und sie machten sich dann innerhalb von sechs Sekunden daran, die Nachricht zu beantworten. In Deutschland ergab eine Umfrage, dass 60 Prozent der Arbeitnehmer sich von der Flut der E-Mails auf ihrem Rechner gestört fühlen. Aber geändert wird nichts, indem man sich beispielsweise auf E-Mail-Diät setzt. Unter solchen Voraussetzungen grenzt es beinahe an ein Wunder, dass überhaupt noch gearbeitet wird.
Mittags kommt spätestens wieder das Handy an die Reihe, wobei Schüler und Studenten in dieser Hinsicht von einem durchschnittlichen Berufstätigen nicht zu toppen sind. Eine Umfrage an amerikanischen Hochschulen ergab, dass die männlichen Studenten etwa acht und ihre Kommilitoninnen zehn Stunden täglich mit ihren Smartphones beschäftigt sind. 60 Prozent der Befragten wollten nicht mehr ausschließen, bereits süchtig danach zu sein. Dass es ihnen jedenfalls ungeheuer wichtig ist, belegt eine Forsa-Umfrage bei 600 deutschen Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren. Auf die Frage, worauf sie eine Woche lang am ehesten verzichten könnten, antworteten 70 Prozent der jungen Frauen und 60 Prozent der jungen Männer, sie würden eher ohne Sex als ohne Smartphone auskommen.
Die ältere Generation holt dafür abends vor dem Fernseher nach, was sie an Medienkonsum tagsüber verpasst hat. Laut Bundesamt für Statistik sitzt der über 50-jährige Bundesbürger täglich fast 300 Minuten vor dem TV-Gerät. In der Altersgruppe der 39- bis 49-Jährigen sind es noch ungefähr 220 Minuten, also fast vier Stunden. Die jüngeren Jahrgänge sitzen zwar seltener vor dem Fernseher, doch sind sie dabei gleichzeitig per Smartphone oder Laptop im Internet aktiv. Laut einer Yahoo-Studie traf das bereits 2011 auf 88 Prozent aller User unter 30 Jahren zu, die auf diese Weise zu medialen Multitaskern wurden. Es dürfte nicht allzu weit von der Realität entfernt sein, diese Quote heute auf fast 100 Prozent einzuschätzen – und das nicht nur in den USA.
Was in diesem Stakkato der Ereignisse zu kurz kommt, ist die Ruhe. Das Gehirn bräuchte – trotz seines nimmersatten Charakters – Phasen, in denen es pausiert. In denen es sich der Leere hingibt und nichts tut, möglicherweise sogar nichts denkt. Doch diese Phasen bekommt es nicht mehr, und dadurch kann es sich nicht regenerieren. Die Folge: Depressionen, Burn-out, Hirnleistungsstörungen, Konzentrationsschwäche. Anstelle der gezielten Beschäftigung mit einer Sache tritt die Angst, etwas zu verpassen. Und statt Befriedigung darüber zu verspüren, eine Sache zu Ende gebracht zu haben, keimt das nagende Gefühl der Überforderung,...