2. Politische Lehrjahre
Johannesburg hatte Mandela nicht zufällig als Ziel seiner Flucht aus der Transkei gewählt. Es war die Stadt der Verheißungen, der Jobs, des Geldes, der vibrierenden Urbanität. Die Zulus nannten sie Egoli, die «goldene Stelle». Gegründet worden war Jo-burg, wie es umgangssprachlich hieß, 1886 nach dem ersten Goldfund am Witwatersrand, einem Höhenzug im Transvaal, als Lager für die Minenarbeiter. Der Goldrausch ließ es explodieren: Nur zehn Jahre später war sie die bevölkerungsreichste Stadt Südafrikas – und sein neues ökonomisches Herz. 40 Prozent des jemals auf der Erde geförderten Goldes sollte vom «Rand» kommen.
Als Mandela 1941 in Johannesburg eintraf, fachte der Zweite Weltkrieg den Boom in den Minen gerade weiter an. Der Bedarf an Arbeitskräften wuchs immens, auch weil viele Weiße wegen des Kriegsdiensts ausfielen. Allein zwischen 1936 und 1946 stieg die Zahl der schwarzen Bewohner um 59 Prozent auf 400.000. Mandela war also nur einer von vielen zehntausend Neuankömmlingen, und wie fast alle führte ihn sein erster Weg zu den Minen. Dort erhielt er einen Job als Nachtwächter, verlor ihn aber rasch, weil er keine Arbeitserlaubnis von König Jongintaba vorweisen konnte. Die Minenunternehmen arbeiteten nämlich eng mit den Häuptlingen in den Reservaten zusammen, weil diese ihnen billige Arbeitskräfte schickten. Allerdings kam Mandela in Kontakt mit Walter Sisulu, einem Immobilienmakler und Aktivisten, der ihn politisch entscheidend prägen und zu seinem wichtigsten Mentor werden sollte.
Sisulu stammte wie er vom Ostkap, war sechs Jahre älter und lebte seit 1928 in Johannesburg. Er gehörte der Kommunistischen Partei und dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC)an, einer schwarzen Organisation, die bessere Arbeitsbedingungen in den Minen und volle Bürgerrechte für alle Südafrikaner forderte. Als Sohn einer Schwarzen und eines Weißen glaubte Sisulu, der ANC werde ihn nie an seiner Spitze akzeptieren. Schnell nahm er den vielversprechenden Mandela unter seine Fittiche. Er stellte ihn dem jüdischen Teilhaber einer Rechtsanwaltskanzlei, Lazar Sidelsky, vor, der ihn als Praktikanten anheuerte. Dies war ein unerhörter Schritt, kaum jemand stellte einen Schwarzen für eine solche Position ein – und ein großer Glücksfall für Mandela, musste er doch, bevor er sein neues Berufsziel ‹Anwalt› erreichen konnte, neben dem Studium mehrere Jahre in einer Kanzlei gearbeitet haben. Sidelsky beschrieb Mandela später als «gewissenhaft, nie unredlich, nach außen wie innen sauber». Er warnte ihn vor politischem Engagement, schenkte ihm einen alten Anzug und lieh ihm 50 Pfund, etwa 2000 Euro. Sidelsky war der erste Jude, den Mandela kennen und schätzen lernte. Später traf er viele weitere Juden im Umfeld der Kommunistischen Partei. In seinen Memoiren schrieb er voll des Lobes: «[N]ach meiner Erfahrung sind Juden großzügiger in Fragen von Rasse und Politik als die meisten Weißen, vielleicht weil sie historisch selbst Opfer von Vorurteilen geworden sind.» Parallel zu seinem Praktikum in der Kanzlei nahm Mandela ein Fernstudium an der Universität von Südafrika auf, das er drei Jahre später mit einem Bachelor-Grad abschloss.
Mandela mietete sich in Alexandra ein, einem übervölkerten Township ohne Strom und Wasser und mit einem «zweifelhaften Ruf», wie er später schrieb. Aber die Gangs, die Gewalt, die Polizeirazzien blendete er aus, um mit seinem Studium und seiner Arbeit voranzukommen. Mandelas Lebensumstände waren kümmerlich. Fast fünf Jahre lang trug er tagein, tagaus denselben alten Anzug von Sidelsky. Oft lebte er von Brot und kaltem Wasser, manchmal ging er die acht, neun Kilometer zu Fuß ins Büro, um das Geld für den Bus zu sparen. Nach zwölf Monaten verließ Mandela Alexandra und wohnte mehrere Jahre in Unterkünften von Minengesellschaften, weil die nichts kosteten. In einem dieser Lager besuchte ihn kurz vor seinem Tod König Jongintaba, der sich zu Mandelas Erleichterung mit seiner Flucht und seinem neuen Leben in der Großstadt abgefunden hatte.
Die Anwaltskanzlei bildete den Ausgangspunkt für Mandelas politisches Engagement. Ein weißer Kollege lud ihn zu kommunistischen Vorlesungen und gemischtrassigen Partys ein, ein schwarzer, Gaur Radebe, nahm ihn auf seine erste Massendemonstration gegen die Erhöhung der Buspreise mit. Wie Sisulu war Radebe ein aktives Mitglied der Kommunistischen Partei und des ANC, und beide luden Mandela zu Treffen ihrer Organisationen ein. Erstaunt verfolgte er dort, wie Weiße, Schwarze und Inder gleichberechtigt politische Probleme diskutierten. Mit den Klassenkampfparolen der KP konnte Mandela allerdings wenig anfangen, für ihn stellte die Unterdrückung und Ausbeutung der Schwarzen die größte Ungerechtigkeit dar. Obwohl er anfangs viel zu schüchtern war, um selbst das Wort zu ergreifen, schürten die Treffen sein Interesse an den dort besprochenen Themen. Wann er genau politisiert wurde, konnte Mandela auch später nicht angeben: «Ich hatte keine Erleuchtung, keine einzigartige Offenbarung, keinen Augenblick der Wahrheit. Es war eine ständige Anhäufung von tausend verschiedenen Dingen, tausend Kränkungen, tausend unerinnerten Momenten, die Wut in mir erzeugten, rebellische Haltung, das Verlangen, das System zu bekämpfen, das mein Volk einkerkerte.» Mandela beschloss, nicht Übersetzer für das Eingeborenenministerium oder Berater eines Häuptlings zu werden, sondern in die Politik zu gehen. Das führte ihn fast zwangsläufig zum ANC.
Der ANC war 1923 aus dem elf Jahre zuvor gegründeten Südafrikanischen Eingeborenen-Nationalkongress (SANNC) hervorgegangen. Der SANNC wollte «alle Stämme und Rassen» zusammenbringen, um gegen die immer schärfere Rassentrennungspolitik der neuen weißen Unionsregierung zu opponieren. Seine Wortführer waren mehrheitlich Angehörige der schwarzen Mittelschicht: Lehrer, Ärzte, Kirchenmänner und Geschäftsleute, die ihren Beschwerden und Anliegen durch Petitionen bei Premierminister und britischem König Gehör verschaffen wollten. Ihre Proteste richteten sich vor allem gegen das Landgesetz von 1913, das Schwarzen den Erwerb oder die Pacht von Grund und Boden außerhalb der Reservate verbot. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte der SANNC seine Demonstrationen jedoch ein und erklärte sich mit Großbritannien solidarisch. Auch nach dem Krieg setzte die Organisation auf gewaltfreien Widerstand, wie ihn Gandhi zu Beginn des Jahrhunderts gegen die Diskriminierung der Inder in Südafrika praktiziert hatte. Aber die weiße Regierung verweigerte jeden Dialog und ließ ihre Aufmärsche niederschlagen. Vor allem die rassistische Nationale Partei (NP) der armen Buren, die seit 1924 an der Regierung beteiligt war und die in den Schwarzen ökonomische Konkurrenten sah, plädierte für eine gewaltsame Unterdrückung der Proteste. Die ultimative Erniedrigung der Schwarzen kam 1936, als sie ihr Wahlrecht in der Kapprovinz verloren. Obwohl dies nur 10.000 Wähler betraf, war das politische Signal verheerend, weil es ein seit mehr als achtzig Jahren bestehendes Recht annullierte und die letzte Brücke zwischen schwarzer und weißer Welt zerstörte. Im ANC machte sich Desillusionierung und Frustration über die eigene Machtlosigkeit breit, er stellte nun fast seine gesamten Aktivitäten ein. Erst die Wahl des Arztes Dr. Alfred Xuma zum Vorsitzenden im Jahr 1940 hauchte neues Leben in die Organisation. Unter seiner Führung veröffentlichte der ANC einen Forderungskatalog (African Claims), der inspiriert war von Roosevelts und Churchills Atlantik-Charta mit seiner Vision eines Lebens frei von Furcht und Not und eines Selbstbestimmungsrechts der Völker. Der ANC trat allerdings mehr wie ein Bittsteller denn wie eine Partei auf, die Beteiligung an der Macht im Staate wollte.
Einstieg in die Politik und Heirat
Mandela und andere junge Radikale wie Sisulu, sein Studienfreund aus Fort Hare-Tagen Oliver Tambo, der Jurist Anton Lembede und der Lehrer Asby Peter Mda erkannten ihre Chance. Unter ihrem Druck setzte Xuma auf dem ANC-Kongress 1944 die Schaffung der Jugendliga in der Hoffnung durch, die jungen Wilden kontrollieren zu können. Seine Rechnung ging nicht auf. In einem Manifest kritisierten sie die ANC-Führung indirekt scharf für ihre «erratische Politik, der Unterdrückung nachzugeben und sich dabei als Gruppe von Gentlemen mit sauberen Händen zu betrachten». Der ANC sei unter ihr zu einer Organisation der «privilegierten Wenigen» geworden, weise reaktionäre und konservative Züge auf, habe den Kontakt zu den einfachen Menschen verloren und eine Beschwichtigungspolitik gegenüber der weißen Regierung betrieben. «Die nationale Befreiung der Afrikaner», so hieß es weiter, «wird durch die Afrikaner selber erreicht». Es dürfe «kein pauschaler Import fremder Ideologien» erfolgen. Diese Ablehnung jeder Zusammenarbeit mit Nicht-Schwarzen und Kommunisten entsprach durchaus Mandelas Überzeugungen, er hatte sich während der Debatten auf die Seite der «Afrikanisten» geschlagen. Xuma missbilligte die radikalen Forderungen der Nachwuchsaktivisten, konnte seine Kritik...