Einleitung
Geschichte wird von Menschen gemacht, wenn auch nicht »aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«, wie es Karl Marx im »Achtzehnten Brumaire« formulierte. Auch die Geschichte Afrikas wurde von einzelnen Afrikanern und Afrikanerinnen gestaltet – als Historikern, aber auch als Akteuren. Zu Letzteren gehören viele Personen, über die es keine zeitgenössischen Belege gibt, was angesichts der Seltenheit afrikanischer Schriftquellen vor dem 19. Jahrhundert kaum verwunderlich ist. Dass die Biographien solcher Personen viele »magische« Elemente enthalten, ist für den Historiker kein besonderes Problem – schließlich ist es mit der Geschichte des europäischen Mittelalters kaum anders. Problematischer ist die Tatsache, dass wir diese Biographien nicht in ein herkömmliches chronologisches Gerüst einordnen können. Das gilt nicht zuletzt für jene Personen, die in ihrer eigenen Gesellschaft eine zentrale historische Rolle spielten, wie etwa Fumo Liyongo, Held vieler Swahili-Epen, der vielleicht im 12. oder 13. Jahrhundert auf Pate und an der Küste des heutigen Kenias lebte; Kimera, König von Buganda, der möglicherweise im frühen 15. Jahrhundert herrschte; oder Nehanda, Gründerin des zentralafrikanischen Staates Mutapa im 15. Jahrhundert (aber erst in einer Quelle von 1609 belegt) sowie Okomfo Anokye, der – vielleicht Ende des 17. Jahrhunderts – mit religiösen Mitteln den »goldenen Hocker« aus dem Himmel herunterholte und auf den Knien des ersten Königs der Asante-Konföderation landen ließ, um anschließend die ewigen Gesetze dieses Staates zu verkünden.[1] Hier befinden wir uns im Grenzbereich zwischen Geschichte und Mythos. Es gibt allerdings zahlreiche Personen aus der Zeit vor 1850, die durchaus historisch im herkömmlichen Sinne sind, und mit einigen von ihnen wird sich dieses Buch befassen.
Dazu gehören zum einen die Herrscher. Für Staaten wie Äthiopien (ab dem 12. Jahrhundert), Mali (im 13. bis14. Jahrhundert), Songhai (im 14. und 15. Jahrhundert), Kongo (ab dem 16. Jahrhundert), Asante und Dahomey (ab dem späten 17. Jahrhundert) und andere liegen uns mündlich tradierte Listen der Könige vor, die ein plausibles chronologisches Gerüst darstellen, weil die mündlichen Überlieferungen durch Schriftquellen ergänzt werden können. Über manche der darin aufgeführten Herrscher wissen wir relativ viel: zum Beispiel über den äthiopischen König Yekuno Amlak, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit Hilfe des Mönchs Iyasus Moa die Salomonische Dynastie gründete und der orthodoxen Kirche eine wichtige Rolle im äthiopischen Staat verlieh; über Askia Mohammed Turé, den General, der 1493 die Macht in Songhai übernahm und in den folgenden 35 Jahren im Bündnis mit den muslimischen Gelehrten von Timbuktu den Einfluss des Songhai-Reichs in Westafrika ausdehnte; über Njinga, Königin der westzentralafrikanischen Staaten Ndongo und dann Matamba von 1624 bis 1663; oder über Shaka, der zwischen 1818 und 1828 im heutigen KwaZulu-Natal durch Eroberung sowie Tributforderungen einen Zulu-Staat aufbaute.
Karte: Das heutige Afrika (2016)
Hinzu kommen Intellektuelle und religiöse Führer: muslimische Gelehrte des 16. Jahrhunderts wie Mahmoud Kati, Autor der in Timbuktu geschriebenen Chronik Ta’rikh al-fattash; der Rechtsgelehrte Ahmad Baba al-Massufi al-Tinbukti; Leo Africanus, der in Italien ein berühmtes Reisewerk über den West- und Zentralsudan schrieb; die Anführer von heiligen Kriegen wie Usuman dan Fodio, der Anfang des 19. Jahrhunderts das große Sokoto-Kalifat im heutigen Nordnigeria gründete; christliche Heilige wie Tekle Haymanot, der 1313 in Äthiopien starb, nachdem er ein eigenes Kloster gegründet und später als asketischer Einsiedler gelebt hatte; Henrique Kinu a Mvemba, Sohn des Kongo-Königs Afonso, der 1518 in Rom zum Bischof ordiniert wurde und von 1521 bis zu seinem Tod 1531 als solcher im Kongo tätig war; oder Beatriz Kimpa Vita, Anführerin einer religiösen Bewegung im Kongo, die 1706 am Scheiterhaufen verbrannt wurde. Schließlich wären einige erfolgreiche Geschäftsleute zu nennen, besonders (denn von dort ist die Überlieferung am dichtesten) an der Küste Westafrikas: Händler wie Jantie Snees (Mitte des 17. Jahrhunderts in Klein-Komenda und Cape Coast), Jan Conny (Anfang des 18. Jahrhunderts in Princes Town) oder Antera Duke (Mitte des 18. Jahrhunderts in Old Calabar) und Sklavenhändlerinnen wie Rosa de Alverenga Carvalo (Anfang des 19. Jahrhunderts im heutigen Guinea Bissau) oder Ana José Aranha (Ende des 18. Jahrhunderts bei Benguela).
Es fehlt also durchaus nicht an historischen Persönlichkeiten – zumindest für bestimmte Regionen und Epochen –, so dass die Geschichte Afrikas keineswegs entweder als »Stammesgeschichte« oder als eine Geschichte von Europäern in Afrika präsentiert werden muss. Zugleich aber ist festzustellen, dass Einzelpersonen hier nicht unbedingt dieselbe Rolle spielen wie in der Geschichte Afrikas seit 1850 oder etwa in der Frühen Neuzeit in Europa. Wie Joseph Miller gezeigt hat, ist es kein Zufall, dass vieles in der frühen Geschichte Afrikas anonym bleibt.[2] Das liegt nicht nur daran, dass archäologisches Material fast per Definition anonym ist oder dass frühe nichtafrikanische Reisende und Ethnographen dazu neigten, individuelle Geschichten in ihren Betrachtungen zu vernachlässigen. Auch in den indigenen mündlichen Überlieferungen, deren Erzählungen sich auf spezifische Kulturhelden und Herrscher beziehen, geht es meist nicht um diese Menschen als Individuen, sondern um den Konsens, den das Erinnern an sie verkörpert. Natürlich gab es in afrikanischen Gesellschaften genauso viel persönlichen Ehrgeiz wie anderswo, aber wer seine eigenen Erfolge zu sehr hochspielte, ging das Risiko ein, dass man ihm Hexerei oder Kannibalismus vorwarf. Durch ein Ethos der kollektiven Verantwortung wurden bis ins 19. Jahrhundert viele Bestrebungen nach individualistischer Autonomie in Schach gehalten, so dass eher die öffentlichen als die privaten Folgen von Handlungen in Erinnerung blieben, auch wenn diese Handlungen oft aus persönlichen Motivationen hervorgegangen waren.
In diesem Buch sollen sowohl das Individuelle als auch das Kollektive in der Geschichte Afrikas berücksichtigt werden, was in der Geschichtsschreibung nicht immer der Fall ist. Das liegt auch an der Einordnung dieses Feldes innerhalb der Geisteswissenschaften. An deutschen Universitäten wird die Geschichte Afrikas südlich der Sahara – wenn sie überhaupt vertreten ist – sehr unterschiedlich verortet. Für manche Universitäten ist sie ein (nahezu) gleichberechtigter Teil des Historischen Seminars. Andere ordnen sie eher der Ethnologie oder der Afrikanistik zu, also einer der area studies (Regionalwissenschaften oder Orientwissenschaften). Teilweise hängt das einfach mit den merkwürdigen Wendungen der Wissenschaftsgeschichte zusammen. Aber es gibt auch gute Gründe, warum sich die Geschichte Afrikas nirgendwo wirklich zu Hause fühlt.
Wissenschaftshistorisch geht das Dilemma aus dem seit dem 19. Jahrhundert stillschweigend angenommenen Gegensatz hervor zwischen dem, was man »Geschichte« nannte, und dem, was ab diesem Zeitpunkt »Ethnologie« hieß – eine damals neue Wissenschaft, die sich den »schriftlosen«, vermeintlich »primitiven« Völkern der Welt widmete. Dahinter lag die Vorstellung zweier Arten von Kausalität: In der Geschichte ging es in erster Linie um Ereignisse und Konstellationen, die nicht notwendigerweise so hätten sein müssen, in der Ethnologie eher um kollektive Gesetzmäßigkeiten.[3] Seit gut 70 Jahren gibt es Versuche, diese Dichotomie zu überwinden, Strukturen im Wandel zu betrachten und in der Geschichte auch nach Bedeutungen zu suchen. Diese Versuche haben auch die Herausbildung der Geschichte Afrikas als neues Forschungsfeld seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beeinflusst. Nichtsdestotrotz stehen viele Historiker der Afrikanistik, vor allem jenen Forschungen, die sich mit der vorkolonialen Geschichte des Kontinents beschäftigen, skeptisch gegenüber.
Einige Gründe dafür liegen auf der Hand. Wir haben es vorwiegend mit ländlichen Gesellschaften zu tun, in denen die meisten Menschen über Jahrtausende entweder in Gehöften und Dörfern lebten, als halbsesshafte Hirten Wanderweidewirtschaft betrieben (Transhumanz) oder Nomaden waren. Sie verwendeten meist weder das Rad noch die Schrift. Vor allem interessierten sie sich nicht besonders für das, was heute »Entwicklung« genannt wird; die Vorstellung einer Zukunft, die anders wäre als die Gegenwart, war ihnen vermutlich fremd. Insofern lag in der Bemerkung Hegels über den Kontinent Afrika, »er ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen«, zwar ein Irrtum, aber die gegenteilige Meinung, wir sollten die Geschichte Afrikas lediglich als...