1.1 Noch ein Change-Buch?
Veränderung ist allgegenwärtig. Über nichts wird in Firmen mehr geredet und diskutiert. In jedem aktuellen Management-Journal gibt es Artikel zu diesem Thema. Bei allen großen Management-Events treten Sprecher auf, die Veränderungsprozesse aus dem einen oder anderen Blickwinkel beleuchten. Es gibt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Change-Beratern in Deutschland. Wer auf Amazon nach »Change Management« sucht, erhält mehr als 3.000 Ergebnisse. Es scheint, als ob alles gesagt wurde und alles getan wird, damit wir uns in die richtige Richtung verändern. Und jetzt: Noch ein Change-Buch? Ist das wirklich notwendig?
Unbedingt, sicher, aber natürlich! Denn wenn wir über Change reden, dann müssen wir uns intensiv mit der Frage beschäftigen, was eigentlich verändert werden soll. Wir können natürlich auf Prozesse, Strukturen, Strategien, Effizienz, Kommunikation oder andere wichtige Themen innerhalb unserer Firma fokussieren. Wir können »Total Quality Management« oder »Six Sigma« einführen oder »Kaizen« als Weiterentwicklungsmethode propagieren. Wir können Menschen in andere Büros setzen, sie in verschiedenen Computerprogrammen fit machen, Arbeitspläne umwerfen, Visionen entwickeln oder vielleicht sogar esoterische Ansätze in unsere Firma integrieren. Am Ende der ganzen Prozesse muss sich in den Köpfen der Menschen eine Veränderung vollziehen. Sie müssen etwas Neues lernen oder Werte verinnerlichen. Menschen müssen mit anderen Situationen zurechtkommen oder mehr auf Kunden fokussieren. Egal, welche Veränderung letztlich stattfindet, das Gehirn ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt jeder Veränderung. Und die Veränderungen im Gehirn müssen Hand in Hand gehen mit dem Verhalten, den Prozessen, der Strategie und den Kulturveränderungen innerhalb der Firma. Die Veränderungen müssen sich gegenseitig ergänzen und unterstützen. Bis jetzt hat die Literatur immer nur auf die Strategie, die Prozesse oder die Kultur fokussiert. Denkstrukturen und Glaubenssätze wurden zwar als wichtig erkannt, aber nie richtig in die Rechnung miteinbezogen. Keiner hat sich Gedanken darüber gemacht, wie wir mit dem Denken und Fühlen der Menschen umgehen sollten. Dieses Buch will die Change-Prozesse endlich mit Blick auf den kleinsten und letzten Baustein der Veränderung beleuchten: unser Gehirn.
Stellen Sie sich vor, Ihr Auto würde kaputtgehen. Bei einem meiner Verwandten war das neulich so. Seine Instrumententafel hat keinen Mucks mehr gemacht. Die Anzeigen bewegten sich nicht. Tacho, Drehzahlmesser, Tankanzeige – alles war tot. In der Werkstatt wurde ihm empfohlen, die Instrumententafel auszutauschen – für mehrere Tausend Euro. Nach der Reparatur fuhr er wieder nach Hause. Auf dem Weg machte es klack und die Instrumententafel war wieder kaputt. Durch einen Experten wurde schließlich klar, dass es sich nur um eine fehlerhafte Sicherung handelte. Kosten: ein Euro. Seitdem lasse ich nicht mehr irgendjemanden mein Auto reparieren, sondern nur noch jemanden, der sich mit den Details und den verschiedenen Funktionen des Autos bestens auskennt.
Deshalb ist dieses Buch so wichtig. Es befasst sich mit dem Thema »Veränderung« aus der Sicht des Gehirns, und damit aus der Sicht der kleinsten Einheit, die dem Veränderungsprozess unterliegt. Denn wenn wir das Gehirn und seine Veränderungsprinzipien besser begreifen, können wir den Change ganz anders beurteilen und managen. Wir haben Zugang zu Prozessen und Mechanismen, die sich im Hintergrund abspielen und die uns steuern, aber bis jetzt eine »Black Box« darstellen. Wir haben etwas hineingegeben und es ist auch etwas rausgekommen, aber wir haben bis jetzt nicht gewusst, wie das Ergebnis zustande gekommen ist. Dieses Buch soll den Change-Prozess ändern. Wir verknüpfen das Veränderungsmanagement mit den Neurowissenschaften, um endlich zu den Gründen für verschiedene Verhaltensweisen und Denkmuster vorzustoßen. Und natürlich, um Strategien zu entwickeln, die das Veränderungsmanagement effektiver machen.
Viele erzählen mir, dass sie die Funktionen des Gehirns nicht kennen müssen, um ein guter Manager zu sein. Schließlich müsse man auch kein guter Fußballer sein, um entscheiden zu können, ob jemand gut spielt oder schlecht. Ich kann dem nur begrenzt zustimmen. Management ist für mich ein Handwerk, keine intellektuelle Spielwiese, denn am Ende müssen Ergebnisse stehen. Neue, innovative Produkte, ein großer Verkauf oder ein gelungener Zusammenschluss zweier Firmen. Egal, was es am Ende ist, es beruht auf solider Arbeit und verlangt Qualität in der Ausführung. Auch Chirurgen oder Architekten sind für mich Handwerker. Wenn Sie sich vorstellen, dass ein Arzt in Ihren Eingeweiden herumschneidet, wollen Sie aber nicht nur, dass er im Umgang mit dem Skalpell geschickt ist. Sie wollen auch, dass er weiß, wie der Körper funktioniert – nicht nur oberflächlich, sondern im Detail. Genauso benötigt der Architekt solide Kenntnisse im Bereich der Physik und der Materialkunde, um eine Brücke oder ein Haus zu bauen. Bewehrt mit Gummistiefeln in der Erde herumzuwühlen und Steine aufeinanderzusetzen, reicht dafür nicht aus. Genauso scheint mir ein solides Hintergrundwissen um die Funktionen und Arbeitsprinzipien des Gehirns unerlässlich zu sein, wenn ein Manager sich mit Veränderung befasst. Schließlich braucht er eine Basis für seine Entscheidungen und für sein Verhalten.
Mit dem Gehirn ist es, wie mit dem Entschlüsseln einer uralten, unbekannten Schrift. Wir sehen die Schrift zwar, wissen aber nicht, was die verschiedenen Zeichen bedeuten. Wir haben keinen Zugang und keine Erklärung. Wir können nur raten und aufgrund des Fundorts und der Umgebung schlussfolgern, welche Bedeutung oder Funktion die Schrift in der Vergangenheit hatte. Die Schrift selbst ist eine »Black Box«, deren Wissen sich uns nicht erschließt. Wir können jetzt die einzelnen Schriftzeichen und Abfolgen interpretieren, aber wir können nicht sicher sein, dass unsere Interpretation stimmt. Kennen wir aber den Übersetzungsschlüssel, dann wissen wir um die genaue Bedeutung der Zeichen und können die Schrift verstehen. Und so etwas brauchen wir auch für unser Gehirn. Vieles, was es tut, ist für uns verborgen. Wir müssen es entschlüsseln und für uns greifbar machen. Genau das will ich mit diesem Buch erreichen.
1.1.1 Keine alternativen Fakten
Ich bin von Haus aus Wissenschaftler. Ich habe in einem großartigen Labor meine Doktorarbeit geschrieben und dort das wissenschaftliche Denken erlernt. Das war lebensprägend und hat meiner Suche nach Sinn und Erfüllung im Leben auch eine gewisse Struktur gegeben. Zumindest habe ich immer versucht, hinter die Fassade der meisten Theorien und Denkgebilde zu schauen. Ich halte viel von Wissenschaft. Schlussfolgerungen zu ziehen, die auf einer nachprüfbaren Beobachtung basieren, erfreut mein Herz. Genügend große Stichproben zu testen, um valide Aussagen treffen zu können, mag ich sehr.
Ich glaube, Wissenschaft macht die Menschheit besser. Das Streben nach Erkenntnis und nach Wahrheit halte ich für eine großartige Tugend. Das Begutachten von Fakten und das Ziehen vorsichtiger Schlüsse aus diesen Fakten halte ich für unglaublich wichtig. Diskussionen darüber, wie sich Ergebnisse interpretieren lassen, mit dem Ziel, die Wahrheit zu ergründen, machen mich glücklich.
Im Gegenzug bin ich kein Freund von Menschen oder Gruppen, die versuchen, Evidenzen abzuschwächen, oder sogar ihre Richtigkeit infrage stellen. So, wie das zurzeit mit vielen Themen geschieht. Wie kann man den Einfluss des Menschen bzw. seiner kulturellen Errungenschaften auf das weltweite Klima infrage stellen? Wie kann man vor Tausenden von aussagekräftigen Experimenten und Untersuchungen die Augen verschließen und sagen, man glaube etwas anderes?
Doch ich will auch nicht den Fehler machen, wissenschaftliche Erkenntnisse als die ultimative Wahrheit darzustellen. Wissenschaft funktioniert nach einem einfachen Prinzip. Wir sehen einen Sachverhalt oder postulieren einen Zusammenhang zwischen bestimmten Daten und Informationen. Auf dieser Grundlage formulieren wir dann unsere Hypothese oder erschaffen ein Modell. Dann testen wir das Modell und validieren, ob es die Wirklichkeit entsprechend abbildet oder nicht. Aufgrund der Ergebnisse verändern wir das Modell, verwerfen oder behalten es. Je mehr Experimente es gibt, die auf das gleiche Ergebnis hinweisen, und je größer die Testgruppen sind, desto glaubwürdiger ist das Modell.
Das heißt: Wir befinden uns auf einem Weg zu mehr Wissen und mehr Erkenntnis. Wir können niemals sicher sein, dass das, was wir jetzt wissen, auch in hundert Jahren noch gültig sein wird. Gerade in den Neurowissenschaften kommen die Ergebnisse Schlag auf Schlag. Was wir heute wissen, ist morgen vielleicht schon überholt. Davor ist auch dieses Buch nicht gefeit. Vielleicht ist das ein oder andere, das Sie hier lesen, schon überholt. Ich bin aber sicher, dass Vieles in diesem Buch noch aktuell sein wird, wenn Sie es lesen, und zu einem besseren und schöneren Leben beiträgt.
Unser Gehirn ist besonders...