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E-Book

Neurogene Dysphagien

Diagnostik und Therapie

AutorRainer Dziewas, Tobias Warnecke
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl231 Seiten
ISBN9783170238435
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis49,99 EUR
Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Demenz oder Parkinson sind die häufigste Ursache von Schluckstörungen. Neurogene Dysphagien spielen in der ambulanten und stationären Versorgung aufgrund ihrer oft schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen sowie der zunehmenden Bevölkerungsalterung eine stetig wachsende Rolle. Neben der Neurologie sind zahlreiche andere Fachdisziplinen wie Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Phoniatrie, Geriatrie, Gastroenterologie, Pulmonologie, Rehabilitationsmedizin und Logopädie in die Versorgung von Patienten mit neurogenen Dysphagien involviert. In den vergangenen zehn Jahren hat eine rasante Fortentwicklung von neurologischer Dysphagiediagnostik und -therapie stattgefunden. Das vorliegende Lehrbuch behandelt praxisorientiert neurophysiologische Grundlagen sowie Diagnostik und Therapie neurogener Dysphagien auf dem aktuellen Stand der klinischen Forschung. Schwerpunkt des Buchs bilden die Durchführung und Befundung der fiberoptischen endoskopischen Evaluation des Schluckakts (FEES) inkl. spezieller neurologischer Untersuchungsprotokolle. ContentPLUS bietet FEES-Videobeispiele für verschiedene Störungsmuster neurogener Dysphagien.

Priv.-Doz. Dr. med. Tobias Warnecke und Prof. Dr. med. Rainer Dziewas sind an der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Münster, tätig.

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Leseprobe

1 Neuroanatomische und -physiologische Grundlagen des normalen und gestörten Schluckaktes


1.1 Der normale Schluckakt


Schlucken ist eine lebenswichtige motorische Aktivität des Menschen. Der Schluckakt dient dem Transport von Speichel und Nahrung von der Mundhöhle in den Magen unter gleichzeitigem Schutz der Atemwege. Obwohl der Schluckakt willentlich eingeleitet werden kann, läuft er meist unbewusst ab. Im Wachzustand schluckt der gesunde Mensch außerhalb der Mahlzeiten in Abhängigkeit von der Speichelproduktion etwa einmal pro Minute, im Tiefschlaf sistieren Speichelfluss und Schlucken nahezu vollständig. Die Schluckfrequenz steigt auf drei pro Minute, wenn ein Bonbon gelutscht wird und für eine kleine Mahlzeit werden etwa 30 Schlucke benötigt (Martin et al. 1994). Binnen eines Tages schluckt ein gesunder Erwachsener etwa 1000-mal (Dodds 1989).

Der Schluckakt lässt sich in die orale Vorbereitungsphase, die orale, pharyngeale und ösophageale Phase einteilen. Die einzelnen Phasen sind nicht strikt voneinander getrennt, sondern zeigen in ihren dynamischen Abläufen fließende Übergänge.

(1) In der oralen Vorbereitungsphase wird die Nahrung zerkaut und mit Speichel gemischt. Das Gaumensegel (Velum palatinum) ist gesenkt und schließt gemeinsam mit der Zunge die Mundhöhle ab (velolingualer Abschluss), um zu verhindern, dass Speisematerial vorzeitig in den mittleren Rachenabschnitt (= Oropharynx) gelangt. Der Luftweg ist offen, Rachen (Pharynx) und Kehlkopf (Larynx) befinden sich in Ruhestellung. Gegen Ende dieser Phase formt die Zunge einen Speisebolus und hält ihn im vorderen bis mittleren Gaumenbereich rundherum umschlossen. Dazu legt sich die Zunge hinter den oberen Schneidezähnen an den harten Gaumen an (► Abb. 1.1). Neben diesem »Schneidezahntyp» gibt es als Variante den sogenannten »Schöpflöffeltyp» (Dodds 1989), der den Bolus im vorderen Mundbodenbereich unter der Zunge positioniert und ihn zu Beginn der oralen Phase mit einer schaufelnden Bewegung auf den Zungenrücken hebt. Die Dauer der oralen Vorbereitungsphase hängt von Bolusgröße und -konsistenz ab und ist interindividuell variabel.

(2) Die Zunge befördert den Bolus in der anschließenden oralen Phase durch sequenzielle Wellenbewegungen am harten Gaumen entlang in den Oropharynx. Die Lippen sind dabei geschlossen, die Wangen tonisiert, sodass ein leichter Unterdruck in der Mundhöhle den Transport erleichtert. Das Ende dieser ebenfalls willkürlich ablaufenden Phase markiert die Triggerung des Schluckreflexes (► Abb. 1.1). Die orale Phase dauert weniger als eine Sekunde.

Abb. 1.1: Phasen des Schluckaktes.
A: Orale Vorbereitungsphase; B: orale Phase; C: Auslösung des Schluckreflexes am Beginn der pharyngealen Phase; D: pharyngeale Phase, E: Ende der pharyngealen Phase kurz vor Verschluss des oberen Ösophagussphinkters; F: ösophageale Phase.
Copyright © 2012 PD Dr. T. Warnecke und Prof. Dr. R. Dziewas, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Münster.

(3) Die pharyngeale Phase ist nicht mehr willentlich steuerbar und beginnt mit Auslösung des Schluckreflexes. Während bei jungen Menschen der Schluckreflex durch Kontakt des Bolus mit den vorderen Gaumenbögen ausgelöst wird, verlagern sich die Hauptauslösezonen bei älteren Menschen nach dorso-kaudal in Richtung Zungenbasis. Zu Beginn der reflektorischen Bewegungskette hebt sich das Velum, um den oberen Rachenabschnitt (= Nasopharynx) abzuschließen (velopharyngealer Verschluss) und eine nasale Regurgitation des Speisebreis zu verhindern. Die Atmung sistiert kurzzeitig, meist in der Exspirationsphase. Eine schnelle, kolbenartige Rückwärtsbewegung der Zungenbasis drückt den Bolus in den unteren Rachenabschnitt (= Hypopharynx). Zeitgleich heben sich Zungenbein (Hyoid) und Larynx nach superior-anterior, was zu einer Erweiterung des Hypopharynx führt und die durch Relaxation eingeleitete Öffnung des oberen Ösophagussphinkters unterstützt. Aus der Hebung des Kehlkopfs und der Erweiterung des geöffneten Speiseröhreneingangs resultiert ein Unterdruck, der den Bolus nach unten zieht (hypopharyngealer Saugpumpenstoß). Zum Schutz der Atemwege vor Aspiration schließt sich die Stimmritze (Glottis). Der Kehldeckel (Epiglottis) legt sich, dem Druck des Zungengrundes bei der Aufwärtsbewegung nachgebend, über den Larynxeingang. Der Bolus gleitet über die Epiglottis und die Sinus piriformes, wobei er durch sequenzielle Kontraktionen der Pharynxmuskulatur schlundabwärts transportiert wird (► Abb. 1.1). Die pharyngeale Phase dauert ca. 0,7 s.

(4) Wenn die Kontraktionswelle den oberen Ösophagussphinkter erreicht, erlangt dieser seinen Dauertonus zurück und die ösophageale Phase beginnt. Hyoid und Larynx sind in ihre Ruheposition zurückgekehrt. Der nasopharyngeale Verschluss ist wieder geöffnet, sodass die Atmung fortgesetzt werden kann. Durch eine primäre peristaltische Welle wird der Speisebrei in den Magen befördert, was je nach Nahrungskonsistenz bis zu zehn Sekunden dauern kann (► Abb. 1.1). Lokale Dehnungsreize in der Speiseröhre lösen im Anschluss eine sekundäre peristaltische Reinigungswelle aus (Dodds et al. 1990, Bartolome et al. 2010).

Insgesamt erfordert der stereotyp erscheinende, aber hoch komplexe Schluckakt die bilaterale, koordinierte Aktivierung und Inhibition von mehr als 25 Muskelpaaren in Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre. Hieran sind fünf Hirnnerven ebenso wie die Ansa cervicalis (C1 – C3) beteiligt: Die Koordination der Kaumuskulatur wird durch den 3. Ast (V3) aus dem N. trigeminus (V) vermittelt. Die orofaziale Muskulatur, die für den Mundschluss wichtig ist, wird durch den N. facialis (VII) innerviert. Der N. hypoglossus (XII) versorgt die intrinsische Zungenmuskulatur, wohingegen die ihn begleitenden Spinalnerven C1 bis C3 die extrinsischen Muskeln der Zunge innervieren. Die Muskulatur des weichen Gaumens, des pharyngealen Isthmus wie auch die Konstriktor- und Levatormuskeln des Pharynx werden von N. vagus (X) und N. glossopharyngeus (IX) aktiviert. Die Innervation der intrinsischen Kehlkopfmuskeln und der Speiseröhre erfolgt über den N. vagus (X). N. trigeminus (V3), N. facialis (VII) sowie die Ansa cervicalis versorgen gemeinsam die supra- und infrahyoidale Muskulatur, welche die Bewegungen von Zungenbein und Kehlkopf koordinieren (Donner 1985, Dodds et al. 1990).

Der Schluckakt wird in die orale Vorbereitungsphase, die orale, die pharyngeale und die ösophageale Phase unterteilt. An Steuerung und Ausführung des Schluckaktes sind die Hirnnerven V, VII, IX, X und XII sowie mehr als 25 Muskelpaare beteiligt.

1.2 Der gestörte Schluckakt


Der gestörte Schluckakt wird medizinisch als Dysphagie bezeichnet. Der Begriff Dysphagie leitet sich von der altgriechischen Vorsilbe dys = »gestört« sowie dem Verb phagein = »essen« ab, bedeutet wörtlich also »Störung des Essens«. Es wird angenommen, dass derzeit in Deutschland etwa fünf Millionen Menschen an einer Dysphagie leiden. Neurologische Erkrankungen stellen die häufigste Ursache von Dysphagien dar. Schluckstörungen, die durch neurologische Erkrankungen bedingt sind, werden als neurogene Dysphagien bezeichnet. Von diesen neurogenen Dysphagien müssen insbesondere Dysphagien infolge von Erkrankungen aus dem Bereich der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, wie z. B. Tumoren oder Entzündungen des Schlucktraktes, aus dem Bereich der Gastroenterologie, wie z. B. das Zenker-Divertikel oder die Refluxkrankheit, sowie aus dem Bereich der Psychiatrie, z. B. der Globus pharyngis, abgegrenzt werden.

Nach Schätzungen weisen etwa 50 % aller neurologischen Patienten eine neurogene Dysphagie auf. Bereits im Jahr 2001 wurde von Doggett und Mitarbeitern (2001) berechnet, dass in den USA pro Jahr etwa 300 000 – 600 000 Menschen an einer neurogenen Dysphagie erkranken. Die häufigste Form neurogener Dysphagien ist die schlaganfallbedingte Dysphagie (Prosiegel 2008). Neurogene Dysphagien können zu Störungen in einer, mehrerer oder aller der in ► Kapitel 1.1 beschriebenen Phasen des Schluckaktes führen. Daraus können vielfältige Symptome resultieren, die wichtigsten werden im Folgenden kurz beschrieben:

  • Leaking: Der Bolus gleitet unkontrolliert nach vorne aus dem Mund heraus (= anteriores Leaking) oder nach hinten in den Rachen hinein (= posteriores Leaking).
  • verzögerte Schluckreflextriggerung: Der Schluckreflex wird zu spät ausgelöst.
  • Penetration: Der Bolus gelangt in den Kehlkopfeingang, bleibt aber oberhalb der Stimmlippen liegen.
  • Aspiration: Der Bolus dringt unter das Niveau der Stimmlippen in die obere Luftröhre ein.
  • stille Penetration/Aspiration: Bolusmaterial gelangt ohne Auslösung eines Husten- oder Schluckreflex in den Kehlkopfeingang bzw. die Luftröhre. Stille Penetrationen/Aspirationen sind deshalb besonders gefährlich, weil sie weder vom Patienten wahrgenommen noch mithilfe der klinischen Untersuchung entdeckt werden.
  • Residuen oder Retentionen: Bolusmaterial verbleibt nach dem Schluckvorgang im Schlucktrakt und wird nicht weitertransportiert (in der Mundhöhle = orale Residuen, im Rachen = pharyngeale Residuen, in der Speiseröhre = ösophageale Residuen).
  • Reflux: Material aus tiefer gelegenen Abschnitten des Schlucktraktes fließt zurück in höher gelegene Abschnitte.
  • Odynophagie: Das Schlucken ist schmerzhaft. Ein schmerzhaftes...
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