Am Ende unseres Rundgangs, als wir den Dom bereits wieder verlassen hatten, sahen wir dann noch etwas Besonderes: die Schweizer Garden. Sie waren knallbunt gekleidet, trugen schräg sitzende Hüte und hielten Hellebarden in den Händen. So standen sie vor einem Tor herum, mit dessen Bewachung sie offensichtlich betraut worden waren.
Der Große Freund kniff die Augen zusammen und schien einen Moment lang zu überlegen. Dann zeigte sie mit dem Finger in die Richtung der Garden und fragte: »Karneval?«
Tianjiao und die Kunststudentin waren begeistert. »Shuai!«, riefen sie immer wieder, ein Wort, das männliche Attraktivität und Coolheit beschrieb.
Als wir die Garden zum ersten Mal sahen: shuai!
Als sie eine Ablösung durchführten und mit knallenden Hacken vor ihrem Wachhäuschen herumhüpften: shuai!
Als eine hutzelige Oma mit einem Brief in der Hand erschien und von den Garden mit großer Theatralik eingelassen wurde: shuai!
Nur der Riesenjunge schien sich nicht daran zu erfreuen. Ich fragte ihn, was los war.
»Na ja, ich finde es schade, dass wir die Statue mit dem Fuß nicht gefunden haben«, seufzte er.
Er sah sehr enttäuscht aus.
Wir blieben bei den Schweizer Garden stehen und machten unsere Fotos. Dann, als Reiseleiter Huang uns ein Zeichen gab, dass die Zeit gekommen war, gingen wir zurück zu dem Hügel mit der Busgarage. Wir wollten zum Trevi-Brunnen weiterfahren.
Die Ortsführerin war irgendwie immer noch bei uns. Während der Busfahrt bereitete sie uns darauf vor, dass der Brunnen, den wir vielleicht bereits aus dem ein oder anderen Film kannten, leider, leider gerade renoviert werde.
»Keine Angst, das ist nicht erst seit Kurzem so«, kam ihr Reiseleiter Huang zu Hilfe, »solche Sachen können hier in Europa schon mal ein bisschen dauern!«
»Wie lange denn ungefähr?«, fragte jemand.
Er lachte: »Jahre! Manchmal wird ein Gebäude gerade auf der einen Seite fertig renoviert, da muss man auf der anderen Seite schon wieder von vorn anfangen, weil es so lange gedauert hat. Kein Witz!«
Als wir am Trevi-Brunnen ankamen, verstanden wir, was er gemeint hatte: dort, im Inneren eines großen, trocken gelegten Beckens, kauerten Männer und Frauen und pinselten behutsam an den Statuenfundamenten herum. Reiseleiter Huang deutete in ihre Richtung und hob vielsagend die Augenbrauen. Die Werkzeuge, die sie benutzten, hatten die Größe von Zahnbürsten.
Wir stellten fest, dass der Boden des Brunnens mit Münzen übersät war.
»Das ist alles Geld, das von Touristen hineingeworfen wurde«, erklärte die Ortsführerin, »denn das soll Glück bringen.«
Ich sah die Augen des Riesenjungen aufleuchten, doch leider hatte die Ortsführerin noch nicht fertig gesprochen. »Wir werfen hier bitte NICHTS hinein!«, mahnte sie. »Denn wir wollen die Restaurateure ja nicht verletzen!«
Der Kopf des Riesenjungen sank herab.
Wir standen auf einem Besuchergerüst über dem Brunnen. Es war eng, und von hinten drängten unentwegt weitere Touristen heran. Manchmal hörten wir ein Klimpern, wenn von irgendwoher eine Münze zwischen den Restaurateuren landete.
»Das Geld aus dem Trevi-Brunnen darf nur von der Stadtverwaltung eingesammelt werden, da kommen pro Jahr mehrere Zehntausend Euro zusammen«, erklärte die Ortsführerin, »und weil die Römer schlau sind und darauf nicht verzichten wollten, haben sie für die Zeit der Renovierungsarbeiten einen Ersatzbrunnen geschaffen – extra nur zum Geldhineinwerfen!«
»Aber funktioniert das denn auch?«, fragte Tante Ju zweifelnd. »Ich meine, wenn man etwas in den Brunnen hier wirft, bringt es natürlich Glück, aber hat der Ersatzbrunnen die gleiche Wirkung?«
Die Ortsführerin lachte: »Das muss man wohl auf einen Versuch ankommen lassen!«
Ich beschloss, nicht mit dem Großteil der Gruppe zum Ersatzbrunnen zu gehen, sondern stattdessen mit Tianjiao und der Schicken Tochter Schaufenster anzuschauen.
Sie waren begeistert von den Preisen.
»Ein Paar Schuhe für zwanzig Euro!«, rief Tianjiao und schlug die Hände vor dem Mund zusammen.
»Kriegt man die nicht in Beijing mindestens genauso billig?«, fragte ich. Ich dachte an den Koffer, den ich mir in dem Marktgebäude gekauft hatte: schwarz, mit Rollen und sehr günstig. Und mit Gepäckgurt! Bisher war er noch nicht kaputtgegangen. Trotz der ganzen Bücher.
Tianjiao blickte mich an, als hätte ich schon wieder etwas unglaublich Dummes gesagt. »Bei uns sind nur gefälschte Sachen und No-name-Produkte günstig! Markenware ist fast immer viel teurer als hier.«
»Und das hier ist also eine Marke?« Ich zeigte auf das Paar Schuhe für zwanzig Euro.
»Wenn es keine wäre, würden die Schuhe dann mitten in der Innenstadt von Rom in einem Schaufenster liegen?«
Vermutlich hatte sie recht. Wir kauften aber selbstverständlich trotzdem nichts.
Als wir wieder im Bus saßen und uns auf eine mehrstündige Fahrt zu unserem nächsten Hotel einstellten, gab es eine Überraschung. Reiseleiter Huang zauberte eine DVD hervor und schmiss sie in Boris’ On-Board-Entertainmentsystem.
»Ein Film!«, riefen wir und klatschten.
Der Bildschirm über der Fahrerkabine leuchtete auf, und ein Alpenpanorama mit einem See erschien. Wir hörten ein Jodeln. Es kam von ein paar Männern mit Hüten, die auf einem Floß standen und ruderten. Dann war da ein dickbäuchiger Mann. Er angelte von einem Steg aus und wirkte schrecklich vergnügt.
»Hat es vielleicht schon jemand erkannt?«, flüsterte Reiseleiter Huang in sein Mikro, und von mehreren Stimmen kam ein verzücktes »Prinzessin Xixi!«.
Ich war verblüfft.
»Warum kennt ihr denn alle Sissi?«, fragte ich Tianjiao, die vor mir saß.
Sie lachte: »Ich kenne nur den Namen, aber aus der Generation meiner Eltern haben das so gut wie alle gesehen.«
»Warum denn das?«
»Das waren damals die ersten Filme aus dem Ausland, in den Achtzigern, glaube ich. Sissi und Klang der Musik und dann noch Schöne Frau in Zeiten des Chaos!«
»Schöne Frau in Zeiten des Chaos?«
»Na, der Film mit dieser schönen Frau eben!« Sie lachte: »Die, die sich nicht entscheiden kann, welchen Mann sie will, und überall ist Krieg, und am Ende ist der, den sie eigentlich will, dann weg!«
Es dauerte ein bisschen, bis wir herausgefunden hatten, dass es um Vom Winde verweht ging.
Mit Sissi wurde es eine schöne Fahrt. Der Film war auf Chinesisch fast noch kitschiger als auf Deutsch, was wohl auch daran liegen mochte, dass die Synchronisation sehr alt war und alle Stimmen nur von ein paar wenigen Sprechern eingesprochen waren, auch die der Kinder – das waren dann eben Sprecherinnen, die ihre Stimmen ein bisschen verstellten.
Außerdem hatte der Film viele lustige Momente. Der Kaiser zum Beispiel schien alt und verwirrt zu sein, und er hatte einen Lieblingsspruch, den er dauernd wiederholte. Auf Chinesisch sagte er dann tai bang le, was so viel wie »super« bedeutete und auf komische Art modern klang. Jedes Mal, wenn er tai bang le sagte, lachten wir. Und er sagte es oft.
An diesem Abend fuhren wir bis nach Imola.
Der Name sagte mir irgendetwas, aber ich wusste nicht, was es war. Als wir ankamen, war es bereits spät. Unser Hotel lag in einer Straße zwischen Spielotheken, Bars und Imbissen. Ich sah Neonlicht und junge Leute, die in getunten Autos auf und ab fuhren.
»Geht hier bitte auf keinen Fall vor die Tür«, warnte uns Reiseleiter Huang, und folgsam verschwanden wir in unseren Zimmern.
Ich legte mein Gepäck ab und setzte mich auf das Bett. Eine Weile nagte ich an der Stinkesalami und starrte dabei an die Wand, dann fiel mir plötzlich ein, woher ich den Namen Imola kannte. Ich stand auf und ging vor die Tür.
Ayrton Senna. Zwei Jahrzehnte zuvor, als im Kreis rasende Autos für mich noch eine der aufregendsten Sachen der Welt gewesen waren, hatte er sich hier in den Tod gefahren, auf der Rennstrecke von Imola.
Überraschenderweise lag sie in Laufweite unseres Hotels. Ich ließ die Straße mit den Neonlichtern hinter mir und kam durch eine Wohngegend mit einem Spielplatz, dann sah ich einen hohen Zaun. Es war völlig dunkel, weit und breit war kein Mensch zu sehen.
Hinter dem Zaun konnte ich die Rennstrecke erkennen. Ich lief an ihr entlang bis zu einem Tor, an dem die Straße in sie hineinmündete.
Es musste unglaublich laut hier gewesen sein, damals, kurz vor dem Rennen. Und während des Rennens. In dem Moment, als der Mann mit den Locken und dem Kinderlächeln die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Und dann, als schließlich der Helikopter kam und ihn zum Sterben ausflog.
Jetzt war es absolut still und dunkel. Ich konnte die Sterne sehen, und es roch ein bisschen nach Erde. Die Aufgeregtheit der Gruppenreise war fort.
Ich dachte an die anderen. Ihnen hätte dieser nächtliche Ausflug wahrscheinlich auch gut gefallen, besonders dem Riesenjungen, denn er mochte doch Autos so gern.
Ein Scheinwerferpaar tauchte in der Dunkelheit auf. Es schob sich langsam in meine Richtung. Ich blieb am Wegesrand stehen und sah ein Auto mit zwei Schatten darin an mir vorbeirollen. Einen Moment lang fragte ich mich, wo sie wohl hinwollten, auf dieser dunklen Straße am Rand der Rennstrecke von Imola. Dann ging ich in Richtung des Hotels, zurück zu meiner Gruppe.
Am nächsten Vormittag...