New Family
Familie ist alles
Patchwork, Single-Eltern,Regenbogen, Lat & Co
„Familie“ ist ein dehnbarer Begriff geworden. Ein-Eltern-Familien gehören dazu, genau wie Patchwork- oder Regenbogenfamilien, wie Familien mit späten Eltern oder solchen, die in getrennten Wohnungen leben - und sich lieben. Meist sind es noch Prominente, wie Boris Becker und sein Clan (rechts), die in der Öffentlichkeit für neue Lebensformen stehen. Dabei hat jede einzelne Familie, die neue Wege geht, eigene Extravaganzen, eigene Probleme – und stets ganz viel eigenes Potential für das große Glück. Fakten zum bunten Familienleben in Deutschland.
Aufgeschlossenheit und Weitblick gelten seit jeher als karrierefördernde Tugenden; heute muss diese Offenheit die Akzeptanz neuer Familienformen umfassen. Der geniale Programmierer und US-Amerikaner Brendan Eich besitzt diese Toleranz nicht – und deshalb kam seine bislang steile Karriere nun abrupt zum Stillstand. Gerade erst war der 53-jährige zum Chef des US-Internet-Giganten Mozilla gekürt worden, schon musste er seinen Platz wieder räumen. Zu heftig waren die Proteste gegen ihn gewesen: Eich hatte nämlich eine Kampagne gegen Homo-Ehen unterstützt. Diese Haltung nimmt die Öffentlichkeit heute nicht mehr hin. Denn längst wird ein moderner Partnerschafts- und Familienbegriff gewünscht – und gelebt.
Selbst in der erzkonservativen katholischen Kirche ist die Botschaft angekommen. Papst Franziskus, ein Freund des Telefonats, rief kürzlich aus heiterem Himmel die 38-jährige Römerin Anna Rosa Marino an. Er versicherte der frisch geschiedenen Mutter, er bewundere ihren Mut zur Trennung und freue sich, dass sie nun endlich den Mann heiraten könne, den sie liebe.
Deutlichere Zeichen kann es kaum geben: Unsere Gesellschaft ist im Umbruch, auch und gerade das Familienleben betreffend. Die Statistik belegt den Trend. So ist die klassische Familie – die Ehe mit Kind – zwar immer noch die häufigste Familienform und macht gut über 50 Prozent der 8,1 Millionen deutschen Familien mit Kindern aus. Dennoch ist sie ein Auslaufmodell. Allein in den letzten zehn Jahren ist ihre Zahl um über zehn Prozent gesunken. Dagegen wächst die Anzahl von Single-Eltern, Patchwork-und Regenbogenfamilien stetig.
Der Traum von der großen Liebe
Wieso? Zwar träumen fast alle Bundesbürger von der großen und ewigen Liebe (mehr als 90 Prozent aller Deutschen sehen ihr höchstes Lebensziel in einer erfüllten Partnerschaft), tatsächlich aber zerbricht in Deutschland jede zweite Ehe; rund 150 000 minderjährige Kinder sind jedes Jahr davon betroffen. Nicht aufgeführt sind hier die Zahlen von frisch getrennten Beziehungen ohne Trauschein. Immerhin werden inzwischen 34 Prozent aller Kinder in Partnerschaften geboren, in denen die Eltern nicht miteinander verheiratet sind.
Einer der Gründe für den Trennungsboom: Finanzielle Argumente ziehen in Zeiten der Emanzipation kaum noch, wenn ein Elternpaar nicht mehr glücklich ist. So werden heute deutlich mehr als die Hälfte der Scheidungen von Frauen eingereicht.
Die bunte Vielfalt des Familienlebens
In der Folge bilden nun bei uns etwa zwei Millionen Alleinerziehende gemeinsam mit ihren Kindern schon eine Bevölkerungsgruppe von mehr als fünf Millionen Menschen. Jede fünfte Familie, so neueste Daten, lebt als Ein-Eltern-Familie. Und der Trend geht klar zur Zweit-Familie: Fast jede sechste Familie in Deutschland ist inzwischen eine bunt zusammengesetzte Patchwork- oder Stieffamilie; das ergibt, laut dem Bundesamt für Statistik, gut 12 Millionen Haushalte. Mindestens 18 000 Kinder wachsen außerdem in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung auf, ein Tabu ist diese Familienform nicht mehr. Und das ist nur die offizielle Zahl der Kinder bei Eltern mit „eingetragener Lebensgemeinschaft“. Tendenz steigend, so oder so, denn das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare soll bald erleichtert werden. Eine weitere Variante der Vielfalt des Familienlebens heute: Rund 30 Prozent der offiziell allein lebenden Singles sind tatsächlich glücklich in einer so genannten LAT-Beziehung. Die Abkürzung steht für „living apart together“; die Liebenden wohnen nicht zusammen, sondern führen zwei Haushalte – oft auch mit Kindern. Und selbst bei ganz klassisch verheirateten Paaren ändert sich das Bild: Immer häufiger bekommen sie in fortgeschrittenem Alter ein Kind; dank der – bei uns zum Teil verbotenen – Methoden der Reproduktionsmedizin im In- oder Ausland. Statistische Daten zeigen: Die Geburtenzahl bei Frauen ab 40 steigt seit Jahren an. Heute führen eben viele Wege ins Familienglück.
Nur selten äußern sich Mütter frei darüber, dass sie erst nach einer Eizellenspende in England, Belgien, Tschechien oder Polen schwanger nach Hause zurückkehrten. Unter anderem deshalb, weil der in Deutschland eng gesteckte rechtliche Rahmen für die Reproduktionsmedizin diese Methode verbietet. Die Folge der Verschwiegenheit: Betroffene Familien kämpfen auf sich allein gestellt mit völlig neuen Situationen und Anforderungen. Um nur eine zu nennen: Immerhin ist die Mutter mit dem Baby, das sie geboren hat, genetisch nicht verwandt... Kann das die Beziehung stören?
Prominente zeigen uns Gefühle
Einen unbefangenen Umgang mit der Thematik neuer Familienstrukturen leisten sich – vorläufig – meist nur Prominente. Sie stehen schließlich sowieso unter Beobachtung. Da verkündete etwa der britische Sänger Elton John lieber selbst freudestrahlend die Geburt seines ersten Sohnes per Leihmutter. Und die 48-jährige US-Schauspielerin Sarah Jessica Parker konnte auch nicht verbergen, dass sie ihre inzwischen vier Jahre alten Zwillinge nicht ausgetragen hat, sondern eine Leihmutter dafür engagierte. Fakt ist: Probleme, Freuden und Gefühle millionenfach gelebter Familienkonstellationen lassen sich im Moment noch am deutlichsten an Persönlichkeiten darstellen, die Publicity nicht scheuen.
Erschütternd zum Beispiel die tiefe Trauer, die das Geschwisterpaar Meret und Ben Becker, aufgewachsen in einer Patchworkfamilie, nach dem Tod ihres Stiefvaters Otto Sander im letzten Herbst zeigte. „Ottos Tod ist das Schlimmste in meinem Leben bisher“, bekannte dessen 45-jährige Ziehtochter Meret.
Berührend auch, wie junge Leute die Fürsorge in einem Elternhaus zu schätzen wissen, das nur aus einer Person besteht. „Alleinerziehende Mütter sind die coolsten Menschen dieser Erde“, erklärt etwa Samu Haber, Frontmann der finnischen Band „Sunrise Avenue“. Der 38-jährige TV-Liebling hat an seine Kindheit bei einer Single-Mom nur gute Erinnerungen. „Wir waren arm, aber trotzdem konnten meine Geschwister und ich unsere Träume verwirklichen. Respekt, Mama!“ Ähnlich empfindet US-Schauspieler Jared Leto, der soeben für seine Darstellung eines Transsexuellen mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Die weltweit übertragene Dankesrede widmete er seiner Mutter. „Sie hat die Schule abgebrochen und war eine allein erziehende Mutter, doch es ist ihr irgendwie gelungen, das Leben für sich und ihre Kinder besser zu gestalten. Ich liebe Dich!“
Seltener melden sich Kinder von Single-Dads zu Wort. Natürlich gibt es auch weniger von ihnen; nur etwa 10 Prozent der Alleinerziehenden sind Männer. Doch oft ist bei Kindern, wie Psychologen feststellten, die Scham darüber groß, ausgerechnet von der Mutter verlassen worden zu sein. Das macht sie zu Außenseitern, auch unter den anderen Kindern von Alleinerziehenden und sie sprechen nicht gerne darüber. Anders Ex-FDP-Parteichef Philipp Rösler. Die Ansprache zu seinem vierzigsten Geburtstag geriet zur Lobeshymne an seinen einst alleinerziehenden Vater Uwe. Als Findelkind aus Vietnam war Philipp Rösler im Alter von neun Monaten zu seinen Adoptiveltern nach Deutschland gekommen. Das Ehepaar Rösler, er Bundeswehrpilot, sie Krankenschwester, ließ sich scheiden, als Philipp vier Jahre alt war. Der Junge blieb bei seinem Vater. Eine bis heute eher ungewöhnliche Lösung. Egal. „Familie bedeutet, dass man Verantwortung füreinander übernimmt“, hat Philipp Rösler gelernt. In welcher Konstellation auch immer.
Familie ist allen wichtig
Nicht nur für Philipp Rösler ist die Familie ein zentrales Thema. Für 90 Prozent der Deutschen hat Nestwärme oberste Priorität. Das gilt ebenfalls für junge Menschen: 72 Prozent der 12- bis 25-jährigen sind der Meinung, dass man zum Glück unbedingt eine Familie braucht. Im Zweifel auch erst im zweiten Anlauf. Das ist aber gar nicht so leicht.
Denn wer einmal gescheitert ist, fürchtet leicht, ein zweites Mal das Glück zu verlieren. Damit tragen neu zusammengewürfelte Patchworkfamilien sogar eine noch größere Hypothek an Erwartungen als Erstfamilien. Das bedeutet Druck für alle Beteiligten.
Tatsächlich legen wissenschaftliche Studien nahe, dass das Leben in Stieffamilien nicht immer rund läuft. So stellte die Münchner Psychologieprofessorin Sabine Walper, Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut, fest, dass das Klima in Patchworkfamilien oft weniger positiv ist als in Familien mit allein erziehenden Müttern. Der Zusammenhalt ist manchmal brüchig, es gibt Krach, Jugendliche beschweren sich über die Unberechenbarkeit der Eltern. Dabei stehen die oft schlicht unter Stress: Es gilt viele unterschiedliche Charaktere und verschiedene Vorstellungen unter einen Hut zu bringen und Stolperfallen zu vermeiden.
Stolpersteine sind Familienfeiern...
Nie wird das deutlicher als bei Familienfesten, an Feier- oder Geburtstagen. Das ganze Jahr über. Nach Ostern ist so auch wieder nur vor Weihnachten...
Was gemeinsame Feiern so schwierig macht, ist die uralte Vorstellung von der harmonischen Familie. „Das ist ein...