Wissenschaftler gelten ja auch heute noch oft als eher seltsame Menschen. Sozial isoliert, schlecht angezogen, unfähig, über etwas anderes zu sprechen als ihre Arbeit, und allein auf die Forschung konzentriert. Sie haben kein Privatleben und sitzen nur im Labor. Und wenn das alles auch maßlos übertrieben ist: Auf Isaac Newton würde die Charakterisierung zutreffen. Er war nicht nur ein Nerd, er war der Nerd. Das ist ja eigentlich sympathisch – und die Nerdiness des 17. Jahrhunderts wird Ihnen auch in diesem Kapitel zunächst noch fast niedlich erscheinen. Doch dabei war Newton eben auch kompromisslos bis zum Äußersten. Wenn es darum ging, etwas über die Welt zu erfahren, kannte er keine Rücksicht auf seine eigene Befindlichkeit oder die anderer Menschen, keine sozialen Konventionen. Aus Wissensdurst resultierte eine Radikalität, bei der die Grenze zur Arschlochhaftigkeit nicht selten überschritten wurde.
Humphrey Newton, sein Assistent in Cambridge (und nicht verwandt), beschreibt Newtons Verhalten so: »Er hat sich keinerlei Erholung oder Freizeit gegönnt und war der Meinung, dass jede Zeit verschwendet war, die er nicht mit seinen Studien verbringen konnte. Er war so eifrig und so ernsthaft mit seinen Studien beschäftigt, dass er kaum aß und manchmal sogar völlig vergaß zu essen. Wenn ich ihn daran erinnerte, aß er ein oder zwei Bissen im Stehen, und ich habe ihn dazu nie am Tisch sitzen gesehen. Er ging selten vor 2 oder 3 Uhr ins Bett; manchmal erst um 5 oder 6 und schlief nur 4 bis 5 Stunden. Man sah ihn kaum bei den gemeinsamen Abendessen, außer bei offiziellen Anlässen, und auch da war er nachlässig gekleidet, mit abgenutzten Schuhen, unordentlichen Strümpfen und kaum gekämmten Haaren.«4
Und selbst wenn sich Newton mal die Zeit für einen kurzen Spaziergang nahm, konnte es passieren, dass er, von einem spontanen Gedanken überkommen, zurück in sein Studienzimmer raste, um dort an seinem Schreibtisch weiterarbeiten zu können. Im Stehen, wie Humphrey Newton erklärt – Isaac wollte sich offensichtlich nicht einmal die Zeit nehmen, sich hinzusetzen.
Es gibt leider keinerlei Aufzeichnungen oder Berichte von Studenten, die seine Vorlesungen besucht haben. Das liegt vielleicht auch daran, dass deren Zahl extrem überschaubar war. »Wenige kamen und noch weniger verstanden ihn«, schreibt Humphrey Newton. Newton schien das nicht zu stören, und wenn die Studenten seinen Vorlesungen fernblieben, dann sprach er eben zu den leeren Wänden des Hörsaals.
Sieht man von der Welt in seinem Kopf ab, schien Isaac Newton während seiner Zeit an der Universität Cambridge einzig an seinem Gemüsegarten interessiert gewesen zu sein. Dort ging er spazieren und jätete regelmäßig das Unkraut, welches er, wie Humphrey Newton berichtet, absolut nicht leiden konnte.
Wenig Schlaf, Essen im Stehen, Vorlesungen in leeren Räumen und eine Abneigung gegen Unkraut: Isaac Newton erfüllte schon früh alle Kriterien eines verwirrten Professors. Er war allerdings keine harmlose Witzfigur – denn wenn es darum ging, die Welt zu verstehen, kannte er kein Pardon.
»Frische Luft, fasten und wenig Wein« lautete sein Rezept für eine erfolgreiche Forscherkarriere das er in einem seiner Notizbücher aufschrieb. Aber auch: »Wer zu viel studiert, wird verrückt.« Vielleicht hätte er sich ein wenig besser an diesen Ratschlag halten sollen, denn wenn man sich seine Arbeitsweise ansieht, scheint es so, als hätte er die Grenze zur Verrücktheit weit überschritten.
Zum Beispiel, als er sich als junger Mann eine Nadel ins Auge rammte, um mehr über die Natur des Lichts herauszufinden. Eine komplett durchgeknallte Aktion, aber er wollte eben um jeden Preis Wissen erlangen. Wie gesagt: Newton kannte kein Pardon. Und er war definitiv kein Warmduscher.
Sprechende Hunde und kotzende Salamander
Man darf auch nicht vergessen, in welcher Zeit Newton lebte. Im ausklingenden 17. Jahrhundert gab es eine »Naturwissenschaft« im heutigen Sinn nicht. Und so gut wie jeder Bereich der Natur war voller Rätsel und Fragen ohne Antwort. Nicht nur Newton war seltsam; der gesamte Wissenschaftsbetrieb erscheint uns von heute aus absurd. Dazu reicht ein Blick in die damalige Fachliteratur. Im März 1665 erschien die erste Ausgabe der »Philosophical Transactions of the Royal Society«, in der die Gelehrten der damaligen Zeit sich über ihre Forschung austauschten. Zusammen mit der drei Monate früher gegründeten französischen Zeitschrift »Journal des sçavans« sind die »Philosophical Transactions« die älteste wissenschaftliche Zeitschrift der Welt.
Auch wenn man fast ein wenig daran zweifeln könnte, wenn man die Artikel betrachtet, die dort publiziert wurden. Ein »Mr. Colepresse« berichtet zum Beispiel gleich in der ersten Ausgabe über »Einen seltsamen Vorfall bei zwei älteren Menschen«: Joseph Shute, 81 Jahre alt, und Maria Stert, 75 und neunfache Mutter, wuchsen trotz ihres hohen Alters noch einmal neue Zähne. Und dieser Vorfall wurde offensichtlich als ausreichend bemerkenswert erachtet, um in der neuen wissenschaftlichen Fachzeitschrift publiziert zu werden.
Das ist aber noch gar nichts im Vergleich zum »Auszug aus einem Brief, der vor nicht allzu langer Zeit in Rom geschrieben wurde, in dem Aussagen über Salamander, die im Feuer leben, korrigiert werden«.5 Ein nicht näher genannter »Gentleman« hatte einen Salamander aus Übersee ins Feuer geworfen, um zu sehen, was passiert. Das Tier begann, die Flammen auszukotzen, und setzte die Löscharbeiten mit dem eigenen Erbrochenen so lange fort, bis es zwei Stunden später wieder aus dem Feuer entfernt wurde; um »ihm weiteren Stress zu ersparen«, wie es im Bericht heißt. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte darf bezweifelt werden; so wie viele andere der »Forschungsarbeiten« der damaligen Zeit. Man hielt einfach alles für berichtenswert, was auch nur irgendwie außergewöhnlich war. Ein Stein, der im Kopf einer Schlange gefunden wurde. Die Geburt eines Kalbes mit zwei Köpfen. Ein englischer Kaufmann, der in Syrien von einer Schlange gebissen wurde. Ein mysteriöser Fischregen, der über England niederging (aufgezeichnet von einem »ehrenwerten Gentleman«, der die seltsamen Fische vom Himmel eingesammelt und konserviert, aber leider dann verlegt hatte und deswegen nicht vorzeigen konnte).
Die ziellose und ungezügelte Neugier der damaligen Forscher erkennt man vielleicht am besten an einem Artikel, der in der vierten Ausgabe der »Philosophical Transactions« erschien. Dessen schöner Titel lautet »Ein Auszug aus einem Brief von M. De la Quintiny, verfasst vor einiger Zeit in Französisch an den Herausgeber und betreffend seine Art, Melonen anzuordnen; nun auf Englisch übermittelt zur Befriedigung der Neugier einiger Melonenzüchter in England«.6 Auf erstaunlichen vier Seiten wird hier darüber berichtet, wie man Melonen im Beet anordnet, ihre Blätter schneidet und wie sie zu behandeln und ernten sind; komplett mit entsprechenden Diagrammen.
Die Welt war also ein einziges großes Geheimnis, und die Menschen machten sich daran, es zu entschlüsseln. »Wissenschaftler« nannten sich diese damals nicht. Diejenigen, die sich wie Isaac Newton daranmachten, die Welt mit wissenschaftlichen Methoden zu verstehen, waren »Naturphilosophen«. Das, was sie taten, wies zwar tatsächlich Spuren von dem auf, was wir heute unter »Philosophie« verstehen, war am Ende aber doch das, was im Laufe der Zeit zur echten Naturwissenschaft wurde. Dazu musste man aber endlich beginnen, der Welt auf neue Weise auf den Grund zu gehen. Und dabei waren monströse Baby-Kühe, Melonen oder ins Feuer kotzende Salamander ebenso interessant wie das, was wir heutzutage als »echte Forschung« bezeichnen würden. Bedeutende Forscher wie Robert Hooke oder Robert Boyle berichten in den »Philosophical Transactions« auch über ihre Arbeit mit Vakuumpumpen, über astronomische Beobachtungen oder über neue optische Gerätschaften. Robert Boyle zum Beispiel legte damals die Grundlagen für die moderne Chemie und entwickelte das heute noch auf jeder Universität gelehrte »Boyle’sche Gesetz« (bzw. eigentlich das »Boyle-Mariotte-Gesetz«) über die Eigenschaften eines idealen Gases.7 Er fand aber auch nichts Seltsames darin, einen Artikel wie »Untersuchungen an einem monströsen Kopf« zu veröffentlichen, in dem er sich im Detail mit dem missgebildeten Schädel eines neugeborenen Fohlens beschäftigte. Gottfried Wilhelm Leibniz, einer der größten Gelehrten der damaligen Zeit (und einer von Newtons Erzfeinden, siehe Kapitel 7), ist heute noch zu Recht als genialer Mathematiker, bedeutender Philosoph und Computerpionier bekannt und wird als »letzter Universalgelehrter« bezeichnet. Aber er schrieb auch Artikel für das »Journal des sçavans« mit Berichten über »eine Ziege, die eine extrem ungewöhnliche Frisur hat«. Anscheinend lebte dieses Tier in Zwickau bei einem Herrn Winckel und hatte sich zunächst völlig normal, dann aber eine komische Frisur entwickelt, nachdem es einen Passanten getreten hatte und deswegen eingesperrt worden war. Leibniz, ganz kurioser Naturforscher, machte sich Gedanken, warum das so war, und spekulierte, dass womöglich die Trauer der Ziege über die Freiheitsberaubung für die Veränderung von Fell und Haaren verantwortlich gewesen war.
Einige Jahre später berichtete Leibniz von einem sprechenden Hund in der sachsen-anhaltinischen Stadt Zeitz. Ein Kind habe dem Hund ein paar Wörter...