Die Psyche
Seit zwei Jahren treffen sich die vier Freunde – Fulvio, Dietmar, Niday und der Professor – in der Gaststätte Loy zum Stammtisch. In der Vergangenheit wurden vor allem der genetische Hintergrund der Krebsentstehung und der Einfluss der Umwelt und insbesondere der Ernährung diskutiert. Aus diesen Diskussionen sind schon drei Bücher entstanden, die der Professor publiziert hat: „Die Sprache der Gene“, „Warum erkranken Menschen an Krebs?“ und „Krebsrisiko senken durch gesunde Ernährung“.
Eine Kritik von Niday in der Vergangenheit war, dass die Psyche viel zu wenig Platz in den Diskussionen bekommen hätte. Die vier Freunde sind wieder im Loy; gespannt horchen sie, was der Professor ihnen nun über die Psyche zu erzählen hat.
B.G.: Es ist wissenschaftlich fast nicht möglich, den Einfluss der Psyche auf Krankheitsprozesse zu messen. Klar bewiesen sind die negativen Auswirkungen von psychischen Störungen bei Krankheiten wie Depressionen, Neurosen, Manien und ähnlichen Erkrankungen. Auch die neurodegenerativen Prozesse wie Alzheimer, wo die Träger der Emotionen – die Hirnzellen – betroffen sind, werden wissenschaftlich klar erfasst. Extrem schwierig wird es hingegen, wenn man den normalen Zustand oder die positiven Auswirkungen einer psychischen Einstellung wissenschaftlich untersuchen will. Es gibt Wissenschaftler an exzellenten Universitäten, die sich mit diesem Thema einen Namen gemacht haben, wobei aber zum Beispiel das gesamte Feld der positiven Psychologie in den letzten Jahren eher ins Abseits geraten ist, weil so viele selbst ernannte Experten versuchen, mit billigen Glücksversprechen Profit zu machen oder aus Marketinggründen das Positive hervorheben.
Niday ist erstaunt. Über den Körper – die Physis – wissen wir durch die Forschung so viel, aber die Psyche ist scheinbar ein undurchschaubares Problem. Er will wissen, ob beide aus der Erbsubstanz, dem Genom, jedes einzelnen Menschen abgeleitet werden.
B.G.: Der Körper hat sich aus einer befruchteten Eizelle durch einen Reifungsprozess von verschiedenen Zellgruppen gebildet. Während des Embryonalstadiums schalten einzelne Zellen verschiedene Gruppen von Genen ein, z. B. in einer Zelle herzspezifische Gene, die dann zu einem Zellverbund führen und das Herz bilden. In einem anderen Zellverband werden Gene eingeschaltet, die dann Leberzellen und später die Leber formen. Auf diese Weise wird jedes Organ des Körpers gebildet. Genauso ist es mit dem Gehirn, das aus vielen Milliarden Neuronen besteht und die Psyche beherbergt. Die 25 000 Gene, die sich in der Erbsubstanz – dem Genom – jeder einzelnen Zelle des Menschen befinden, enthalten die vollständigen Informationen, die gebraucht werden, um einen Menschen zu bauen. In jedem einzelnen Organ werden aber nur die Kapitel abgelesen, die für die Struktur und die Funktion des jeweiligen Organs notwendig sind. Auch im Gehirn, dem Sitz der Psyche, sind nur ein Teil der 25 000 Gene aktiv eingeschaltet. Eine Zelle hat im Embryonalstadium die hirnspezifischen Gene aktiviert, um dann zusammen mit den Tochterzellen das Hirn zu bauen. Dieser Zellverbund interagiert untereinander, mittels Synapsen, den Verbindungen der Nervenfortsätze, und hormonähnlichen Stoffen – manche werden Neurotransmitter genannt – und erzeugen elektrische Entladungen der Zellmembranen oder Ionenflüsse, die das Empfinden und die Gedanken auslösen. Es gibt im Gehirn ungefähr 100 Milliarden Synapsen, einzelne Neuronen haben zwischen einer und 200 000 Synapsen. Durch das Abfeuern von einem Neuron werden circa 500 bis 1000 Gensequenzen abgelesen.
Diese Hirnzellen sind genauso wie die anderen Körperzellen durch die Evolution geformt worden. Nachfahren und Überlebensvorteile sind die Währung der Evolution. Umwelteinflüsse, denen alle Spezies ausgesetzt waren, führten zu den heutigen Körperformen, aber auch zum Verstand, der das Verhalten und die Gedankenmuster des modernen Menschen prägt. Vieles über Verhalten und Aussehen von Pflanzen, Tieren und Menschen im Laufe der Jahrtausende kennen wir nicht, weil es nicht überlebt hat. Andere Eigenschaften und Verhaltensmuster waren erfolgreicher, haben zu mehr Nachkommen und zum Überleben von unseren heutigen Pflanzen, Tieren und Menschen geführt. Die Plastizität der menschlichen Natur und der Erbsubstanz hat ein Überleben unter widrigsten Umständen wie Eiszeiten, Hitze-und Hungerperioden sowie anderen Gefahren erlaubt. Auch Gefühle, Glauben, Intellekt und andere Auswirkungen der Hirnzellen, die den modernen Menschen prägen, müssen Überlebensvorteile gebracht haben, sonst wären sie eliminiert worden.
Für Darwin sind die Menschen von heute das Produkt einer langen Kette von Siegen. Bei diesen Kämpfen ging es immer um das Überleben und die Fortpflanzung. Wenn Pflanzen, Tiere und Menschen ihre Erbsubstanz nicht mehr weitergeben, hört das Leben auf diesem Planeten schlagartig auf und die Erde wird zu einem fliegenden Felsbrocken, der wie die Venus oder der Mars durch das Weltall segelt. Ohne Leben gäbe es keine Evolution, keine Moral, keine Religionen mit ihren Göttern. Die Evolution hat nur eine Regel: Was die Weitergabe der Erbsubstanz fördert, ist wichtig, alles andere wie z. B. Moral, Ethik oder Glaubensüberzeugungen, spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Eigenschaften, die zu Vorteilen für die Weitergabe eines bestimmten Genpools führen, werden sich in der Bevölkerung vermehren und am Ende bei fast allen Menschen vorhanden sein. Dabei werden negative Emotionen über positive Emotionen triumphieren, weil z. B. ein ängstlicher Jäger und Sammler vorsichtiger und zurückhaltender durchs Leben geht und sich dadurch weniger Gefahren aussetzt als ein optimistischer draufgängerischer Kämpfer. Mehr ängstliche und vorsichtige Jäger werden deshalb überleben und die Gelegenheit haben, Kinder zu zeugen.
Die Gene sind ja nur der Bauplan, nach dem diese doch grundsätzlich unterschiedlichen Dinge gebaut werden. Woher stammen Körper und Psyche der Menschen?, fragt Fulvio neugierig nach.
B.G.: Der Sauerstoff, den wir atmen, der Wasserstoff, den wir im Wasser gebunden vorfinden, und das Eisen im Hämoglobin unserer roten Blutkörperchen und viele andere Elemente sind in sterbenden Sternen vor Millionen von Jahren entstanden. Durch eine Supernova, eine Sternexplosion, zu der es kommt, wenn die Gravitationskräfte in den Sternen den Kampf gewinnen, entstehen Sterne, die nur noch aus Eisenoxid bestehen. Dabei werden die Begleitumstände erzeugt, die notwendig sind, um Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel und viele andere organische Moleküle zu bilden. Nur unter diesen Umständen entstehen Temperaturen von ungefähr 100 Millionen Kelvin, die notwendig sind, um alle bekannten Elemente der Natur hervorzubringen. Wenn Sterne sich im Nebel des Universums bilden, entstehen die Bausteine des Lebens. Ein Neutronenstern entsteht durch den Kollaps eines Sterns, in dem ein Eisenkern, anfangs so groß wie die Erde, auf die Größe einer Stadt zusammenschrumpft. In jeder Sekunde kollabieren irgendwo im Universum Sterne und so entstehen die schwarzen Löcher im Universum, die erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckt wurden. Schwarze Löcher und schwarze Materie sind die mysteriösesten Objekte im Weltall. Nichts kann aus den schwarzen Löchern heraustreten. Die Gravitationskräfte sind so stark, dass nicht einmal das Licht entkommen kann. Diese sterbenden Sterne besitzen mindesten 50-mal mehr Masse als unsere Sonne. Und ganz unerwartet geben diese schwarzen Löcher nicht Aufschluss über den Tod, sondern über die Geburt des Lebens.
Also, Überreste der sterbenden Sterne formen diesen Nebel und der kann voller organischer Elemente sein, kommentiert Niday. Wir stammen also alle von der Milchstraße ab.
B.G.: Ja, denn diese Elemente sind die Grundbausteine jeden Lebens. Das Vorhandensein dieser organischen Elemente ist Voraussetzung, aber keine Garantie, für Leben, denn nur einige wenige Vorgänge sind komplex genug, damit Leben entstehen kann. Immer noch finden Astronomen in den entstehenden Sternen die frühesten Anzeichen von Leben, aber es gibt nur wenige planetenähnliche Gebilde im Universum, auf denen Leben in unserem Sinne entstehen könnte.
Im Universum – ebenso wie auf unserer Erde – herrschen ein Kommen und ein Gehen. Es ist als regierten die gleichen Gesetzmäßigkeiten. Sterne werden irgendwo gebildet, sie sterben und neue entstehen, und damit bilden sich die Bausteine für neues Leben. Ein Beweis dafür sind Meteoriten aus dem Weltall; sie enthalten Aminosäuren, die man auf der Erde findet. Aufgrund von stringenten wissenschaftlichen Kriterien und genauer Beobachtung der Sterne konnten Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten die Geschichte des Universums enthüllen, den Ursprung des Lebens erklären und das Verblassen der letzten Sterne und das Verschwinden von Lichtobjekten im Universum voraussagen.
Wie ist Leben aus diesen explodierenden Sternen entstanden?, will Fulvio wissen.
B.G.: Wenn in diesen Sternen die reichlich vorhandenen Heliumkerne zu Kohlenstoffkernen verschmelzen, treten extrem hohe Temperaturen auf. Unter diesen Begleitumständen sind die...