Kapitel 1
Es war ein grauer Tag, so wie es ihn im Frühjahr oft gibt. Die
wärmende Sonne fehlte und man fühlte sich dem Winter näher
als den warmen Jahreszeiten. Irgendwie passte das nasskalte
Wetter zu einer Beerdigung. Es verlieh der Trauer der Anwesenden
vollen Ausdruck.
Der Pfarrer sprach von Erlösung. Aber jedem war klar, dass sie
heute und hier nicht zu bekommen war. Die Rede des Pfarrers
war immer wieder durch Musik unterbrochen. Wenigstens die Musik gab
dem Zuhörer eine vage Vorstellung von Trost und Ewigkeit, die nach der
Erlösung auf den Christen wartete.
Die weissen und blauen Blumen auf dem Kiefernsarg verliehen dem Ambiente
eine gewisse Eleganz.
Obwohl der Verstorbene ein Fremder in der Gemeinde war, waren
auch viele Einheimische zur Trauerfeier gekommen.
Das war wohl nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, wie der Verstorbene
zu Tode gekommen war. Es war ein spektakulärer Unfall gewesen,
der auch in der Presse eine besondere Beachtung gefunden hatte.
Der Verstorbene war mein Vater Johannis.
Ich, Manuela, seine Tochter, war mit meinem Mann auf dieser Trauerfeier.
Unsere beiden kleinen Kinder hatten wir zu Hause gelassen, bei meinen
Schwiegereltern.
Mein Bruder Christian mit seiner Frau Marlene und meine Schwester
Birgit waren auch da.
Unsere Mutter war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Dass mein Vater
ihr nicht helfen konnte, war für ihn das Schlimmste, was ihm passieren
konnte. Er stand hilflos daneben und musste zusehen, wie meine Mutter
langsam immer schwächer wurde.
Nach ihrem Tod ist er dann an den Bodensee gezogen und hat in Konstanz
ein Biologiestudium angefangen. Und nun dieses jähe Ende.
Das vorläufige Ergebnis der polizeilichen Untersuchung war, dass das Auto
meines Vaters von einem Lastwagen überrollt wurde. Der Lastwagenfahrer
war vermutlich am Steuer eingeschlafen und in einer 30iger Zone mit stark
überhöhter Geschwindigkeit auf die andere Fahrbahn gelangt.
Nach der Trauerfeier waren wir, die Familie, noch mit ein Paar Freunden und
Nachbarn in einem nahe gelegenen Gasthof eingekehrt.
Wieder im Haus meines Vaters angelangt unterhielten wir Geschwister uns
noch eine Weile über den abgelaufenen Tag.
Und es kam wie es kommen musste, die Frage nach dem Sinn des Lebens
wurde aufgeworfen.
Birgit, meine Schwester, war Biologin. Von ihr wurde sie ausgesprochen:
„Ich weiß nicht, was auf dieser Welt überhaupt Sinn macht? Wenn ich 10
Pinguine geputzt habe , sind an anderer Stelle vielleicht schon 100 Pinguine
gestorben.“
Sie sprach von ihrem letzten Einsatz bei einer Ölpest. Solch Einsätze
nahmen sie immer besonders mit, aber sie meldete sich immer wieder
dafür, vielleicht nur, um wenigstens etwas gegen das Artensterben tun
zu können. Im Grunde hielt sie es für unausweichlich.
„Aber die 10, die du geputzt hast, haben doch eine Chance“, warf ich ein.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich denke dass deine Kinder mehr Chancen
haben als meine Pinguine.“
„Da haben aber auch viele Generationen dran gearbeitet, indem die Hygiene
und die medizinische Versorgung verbessert wurde, indem das Penicillin
gefunden wurde und ich weiß nicht was noch alles“, gab mein Mann zu bedenken.
„Und meine Pinguine verlieren bald ihren Lebensraum durch die
Erderwärmung und dann? Man hat ein Problem gelöst und schon steht das
nächste noch größere Problem vor der Tür. Und schon wieder muss man etwas tun.“
„Und wenn man nichts tut, dann geht es auch weiter“, bemerkte Christian,
mein Bruder, dem das Thema ziemlich überflüssig vorkam.
„Nur das Individuum kann auf der Strecke bleiben. Die Art als Ganzes hat oft
eine Chance. Man wundert sich oft, wie die verschiedenen
Überlebensmöglichkeiten dann aussehen. Wildtiere, wie der Fuchs oder die
Amsel, leben heute ganz selbstverständlich in unseren Städten. Und alles
ohne dein Zutun. Es geht immer irgendwie weiter, man weiß nur im Voraus
oft nicht wie.
Und der Mensch als Art ist doch sehr erfolgreich. Und das Individuum hat im
Schnitt dadurch auch bessere Chancen.“
„Dem Individuum, das vorzeitig stirbt, nützt das aber nichts. Es kommt auf
den Lebensstil des Einzelnen an, wie vorsichtig jemand ist, welche
Entscheidungen er trifft“, warf Marlene ein.
„Sagt mal, wie sieht es aus, habt ihr euch schon Gedanken gemacht über
über die Zukunft dieses Hauses?“ fragte Christian unvermittelt.
„Nein“, sagte Birgit. „Aber du hast sicher schon einen Plan, so wie immer.“
„Wenn du das meinst, hast du gar nicht so unrecht.
Ich halte es für das Beste alles zu verkaufen und das Geld zu teilen.
Manuela ist als Immobilienmaklerin am Besten dafür geeignet, das in die
Hand zu nehmen.“
„Wenn ihr meint, will ich sehen, was ich tun kann. Wenn alle damit
einverstanden sind. Ich habe mich eh auf ein paar Tage länger hier
eingerichtet. Ich habe mir schon gedacht, dass es darauf hinausläuft“, mein
Blick ging zu Birgit, die etwas abwesend nickte.
So war es also beschlossene Sache.
„Wir sollten morgen noch einmal durchgehen und die Möbel verteilen und die
vielen Bücher.“
„Also ich will nichts haben. Ich lebe ja sowieso nur aus dem Koffer, bei
meinen verschiedenen biologischen Einsätzen und meine kleine Wohnung ist
eh voll“, war Birgits klare Antwort.
„Lasst uns schlafen gehen“, meinte ich, da ich fix und fertig war von dem
ganzen Tag.
„Du hast recht“, sagte Christian und erhob sich, um zu gehen. Er und seine
Frau wollten in dem Gasthof am Ende der Strasse übernachten. Birgit, mein
Mann und ich wollten im Haus übernachten.
„Was für ein Tag. So stellt man sich das nicht vor. Ein Mensch mitten aus
dem Leben gerissen. Ein Lebenswerk bleibt unvollendet. Dabei hatte er erst
etwas neues angefangen und es schien mir sehr vielversprechend“, sagte
Martin Berger. Er saß in seinem Sessel und starrt vor sich hin.
„Man muss aber auch die Familie sehen. Die Familie ist immer die
Leitragende“, gab Helene, Martins Frau, zu bedenken.
„Egal, ob für den Verstorbenen oder für die Angehörigen, der Tod ist immer
unwillkommen“, haderte Martin.
Martin war Vertreter der Pharmaindustrie gewesen. Wohl wissend, dass er
mit seinen Medikamenten nicht immer das non plus ultra verkaufte, so hatte
er auch keine bessere Idee, was Heilung bringen sollte. Und die
Lebenserwartung war in den letzten Jahrzehnten sehr stark angestiegen,
was ja einen gewissen Erfolg darstellte.
Nur gesünder waren die Leute nicht immer unbedingt.
Martin hatte seinen verstorbenen Freund Johannis bei einem Segeltörn auf
dem Bodensee kennengelernt. Sabine, die Johannis ein Haus auf ihrem
Anwesen verkauft hatte, hatte Johannis mit Martin und ein paar anderen
Leuten auf ihr Schiff eingeladen. Es war damals ein schöner Tag gewesen,
auf dem See. Ein leichter Wind liess das Schiff über das Wasser gleiten. Die
Sonne schien und wärmte die Crew auf dem Schiff und das Licht glitzerte
auf den leichten Wellen des Wassers. Martin hatte sich gleich mit Johannis
gut verstanden. Durch ihre früheren Berufe, den kranken Menschen zu
dienen, waren sie auf einer gemeinsame Wellenlänge, auch wenn ihre
Ansätze ganz verschieden waren.
Johannis war Heilpraktiker gewesen. Aber er stellte seine Tätigkeit immer in
Frage, weil sie doch zu leicht an ihre Grenzen stiess. Objektiv betrachtet,
führte er eine Heilung oder ein Nachlassen der Beschwerden oft auf die
Selbstheilungskräfte des Körpers zurück. In wieweit seine dem Patienten
verschriebenen Kügelchen an der Heilung beteiligt waren, liess sich oft nicht
nachweisen. Seiner Meinung nach musste es noch etwas anderes geben,
was eine Heilung brachte.
Martin hatte auch so seine Zweifel an dem einen oder anderen Medikament.
Ausser dem Penicillin war für ihn kein Medikament so wirksam und
uneingeschränkt hilfreich. Antibiotika waren eine wirklich bahnbrechende
Entdeckung. Sie haben dem Menschen eine Waffe gegen Infektionskrankheiten gegeben.
Nur das der Mensch diese Waffe oft falsch einsetzte, erboste ihn sehr.
Für ihn war es ein Unding, Tieren, die der Mensch als Nahrungsquelle
benutzte, Antibiotika als Dauermedikation zu geben. Über das Fleisch
gelangten die Antibiotika in den Menschen. Die Bakterien im Menschen
gewöhnten sich an die Antibiotika und konnten so Resistenzen entwickeln.
Bei einer ernsten Infektion konnte die Waffe Antibiotikum also stumpf sein.
Martin ließ in seinem Kopf diverse Begegnungen mit Johannis Revue
passieren. Ihre Auffassung von Krankheit und Heilung war eine ähnliche.
Das musste sich einfach anziehen.
Nachdem die Familie abgereist war,...