Kapitel 1
Nur mit Handgepäck
An verschiedenen Punkten unseres Lebens erstellen wir Listen der Ziele, auf die wir uns konzentrieren möchten. So mancher tut es zu Beginn jedes neuen Jahres. Da ich lange Zeit nicht wusste, wie man lang- oder auch nur mittelfristig plant, habe ich es erst im Alter von rund fünfzig Jahren gewagt, mir ein Ziel zu stecken: in meinem Leben hundert Länder zu bereisen. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich bei 73, aber bis Ende des Jahres werden noch mindestens zwei dazukommen, sodass es dann 75 sein werden. Ich gehe davon aus, dass ich es schaffen werde, die 100 vollzumachen. Ich weiß nicht, was ich durch diese Weltreise gewinnen werde, aber ich kann sagen, was es mir gebracht hat, 73 Länder gesehen, auf 4 Kontinenten (Europa, Amerika, Asien, Afrika), in 8 Städten (Bologna, Turin, Rom, Mailand, Paris, Kairo, Beirut, New York) und in 27 Wohnungen gelebt zu haben. Bis jetzt. Ich weiß nicht, ob meine abschließenden Überlegungen die Schlüsselfrage meines Vaters beantworten werden. Als ich ihm sagte, dass ich von Kairo nach Beirut umziehen würde, sah er – ein Installateur aus Bologna, der sich mit weit über achtzig Jahren noch schwarzer Haare rühmen kann und deshalb von meinen Freunden Highlander genannt wird – von seinem Teller auf und fragte: »Wozu soll das gut sein?« Ein Elektroschrauber ist zu etwas gut. Eine Million Euro sind zu etwas gut. Aber wenn man von Ägypten in den Libanon zieht, um eine andere Sicht auf den Nahen Osten zu bekommen, wenn man nach Luxemburg fährt, um eine Zahl in ein blaues Notizbuch schreiben zu können, wenn man eine Wohnung in Manhattan verkauft und sich eine in Brooklyn kauft, um aus der Aussicht zu verschwinden und sie dadurch endlich zu genießen, dann sind diese Dinge zu nichts »gut«. Sie sind (sehr) anstrengend, (hin und wieder) amüsant und (sofern man lernwillig ist) lehrreich.
Was man daraus lernt? Ich werde versuchen, die wichtigsten Schlussfolgerungen zusammenzufassen. Der Effekt wird ähnlich sein wie bei der Aufzählung namens Sonnenschutz. Was später zum Text eines erfolgreichen Songs wurde, war ursprünglich eine Rede vor einer Abschlussklasse einer Universität in Chicago. Sie enthält eine Reihe von Ratschlägen (»Merken Sie sich Komplimente. Vergessen Sie Beleidigungen. Falls Ihnen dies gelingt, verraten Sie mir wie.«), die man nicht unbedingt befolgen muss. (Denn »Ratschläge sind eine Art von Nostalgie. Wer sie anbietet, fischt die Vergangenheit aus dem Abfall, wischt sie ab, überpinselt die unansehnlichen Stellen und bringt sie für mehr in Umlauf, als sie eigentlich wert sind.«). Außer einem, dem man blind vertrauen soll: »Benutzen Sie Sonnencreme.«
Auch ich werde einige Schlussfolgerungen aus meinen Umzügen und Reisen ziehen, eine davon zur unumstößlichen Tatsache erklären und zum Schluss: »Reist nach Möglichkeit nur mit Handgepäck.«
Dazu muss man sich nach und nach einer Reihe von Überzeugungen entledigen wie überflüssiger Kleidungsstücke. Aber zuerst muss man sich in Bewegung setzen, denn der größte Einwand dürfte wohl lauten: Ich brauche weder einen riesengroßen Koffer noch einen kleinen Rucksack, ich bleibe zu Hause.
Wo findet man die Motivation zum Reisen? Ich fand sie vor langer Zeit an einem – wie nicht anders zu erwarten – brütend heißen Abend in Kigali, der Hauptstadt von Ruanda. Ich war gerade angekommen und wollte versuchen, ein Interview mit einem inhaftierten Bischof zu bekommen, dem Beihilfe zum Völkermord vorgeworfen und der Prozess gemacht wurde. Es war Samstag, im Hôtel des Mille Collines wimmelte es vor Mücken und Prostituierten und ich ließ Uhr, Geldbeutel und Pass im Safe, um mir ein wenig die Füße zu vertreten. Sogleich fiel mir auf, dass alle Menschen – ob allein oder in Gruppen – im Laufschritt unterwegs waren, als wären sie zu spät für eine Verabredung, den Zug, den Himmel. Wohin sie liefen, wusste ich nicht: Es gab weder Schilder von Cafés oder Kneipen noch Bushaltestellen. Nachdem ich das Phänomen eine Weile beobachtet hatte, gelang es mir, einen Jungen abzufangen, der Englisch sprach, und bat ihn um eine Erklärung. Er riss die von der Malaria gezeichneten Augen auf und sagte: »Sir, bewegliche Ziele sind schwerer zu treffen.« Mit der letzten Silbe war er schon wieder weg. Der Bürgerkrieg und die Scharfschützen hatten ihn etwas gelehrt, das sich auch auf weniger dramatische Umstände übertragen lässt: Wenn du dich bewegst, bist du nicht so leicht zu treffen. Wenn du immer im gleichen Haus, im gleichen Viertel, am gleichen Arbeitsplatz und im gleichen familiären Umfeld bleibst, kann der große Schütze Schicksal erheblich besser zielen. Danach kann der Tod natürlich auch in Samarkand warten, wohin du eilends fliehst, um ihm zu entgehen, weil du ihn dort gesehen hast, wo du zuvor gewesen bist. Ich aber glaube eher dem Jungen aus Kigali und rate deshalb zu raschen und häufigen Ortswechseln.
Viele vollgestopfte Koffer machen dieses Unterfangen unmöglich. Wovon können wir uns trennen? Für den Anfang von den Gewissheiten. Den größten, endgültigsten und deshalb schwersten, den absoluten Gewissheiten: Wir trennen uns davon, indem wir sie durch den Gedanken ersetzen, dass alles relativ ist. Ich spreche weder von der philosophischen noch der wissenschaftlichen Relativität (obwohl ich geneigt bin, auch daran zu glauben), sondern von einem Relativismus des Menschlichen. Wenn in anderen Breiten alles anders ist, hat es keinen Sinn, den eigenen Kompass, die eigenen Wörterbücher und das eigene Denken mitzunehmen. Alles ändert sich – auch die Zeit, die Bedeutung der Wörter, ja sogar die Bedeutung der Gefühle. Da man für einen Beweis drei Belege braucht, werde ich versuchen, dies anhand von drei Beispielen zu zeigen.
Im ersten geht es um die Zeit, oder besser, um ihre Einteilung. Ich schreibe dies an einem Montagmorgen in Europa. Es ist der vielleicht schwierigste Moment der Woche, wenn der Motor wieder anspringt, was häufig nicht gleich gelingt. Er folgt auf die Melancholie des Sonntagabends (die Staus bei der Rückkehr aus dem Wochenende, die in den Polemiken aus den Umkleidekabinen wiedergekäuten Spiele, die vor dem Schulbeginn am Montag noch schnell gemachten Hausaufgaben). Im Jahr 1919 veröffentlichte der ungarische Psychiater Sándor Ferenczi einen Artikel mit dem Titel Sonntagsneurosen, in dem er Patienten mit wiederkehrenden Symptomen beschrieb: vom Überschwang am Vortag bis zur darauffolgenden Depression.1 Dieser stete Rhythmus durchsetzt das ganze Dasein der Menschen im Westen. Er durchsetzte auch das meine – bis ich nach Kairo zog. Dort war der Sonntag plötzlich am Freitag, dem islamischen Feiertag. Hätte ich die Grenze überquert, um in Tel Aviv zu leben, wäre der Sonntag am Samstag gewesen, dem jüdischen Feiertag. Religionen, Zivilisationen, Regierungen nutzen den Kalender als Machtmittel, denn die größte Macht liegt in der Kontrolle der Zeit. Die Sumerer, Ägypter, Griechen und Römer unterteilten das, was für uns Jahre, Monate und Wochen sind, in anderer Weise. Aber die Natur kennt eine solche Unterteilungen nicht, da die Zeit einfach fließt. Die großen Revolutionen versuchten immer auch, den Kalender zu reformieren – mit wunderlichen Resultaten. Im 18. Jahrhundert setzte sich in England der blaue Montag durch, dem in Italien noch Friseure und Fischhändler verpflichtet sind.
Der Architekt und Philosoph Witold Rybczynski fasst das Durcheinander in seiner scharfsinnigen Abhandlung Am Freitag fängt das Leben an folgendermaßen zusammen: »Jede Kultur entwickelt hinsichtlich Arbeit und Muße ihre eigenen Strukturen, und indem sie dies tut, macht sie zugleich eine gewichtige Aussage über sich selbst. Sie erfindet bestimmte Muster, oder sie übernimmt alte und kombiniert sie in neuer Weise; von daher die lange Liste von Tagen, die der Muße gewidmet sind: öffentliche Feiertage, Familienfeste, Markttage, tabuisierte Tage, Unglückstage, heilige Tage, religiöse Festtage, blaue Montage und Dienstage, Gedenktage, Sommerurlaub – und Wochenenden.«2 Letztere scheinen zwar »naturgegeben« zu sein, wurden in Italien aber erst am 20. Juni 1935 eingeführt, als ein nationales Gesetz den sabato fascista (dt. »faschistischer Samstag«) in Kraft setzte und vorschrieb, dass die Produktionsaktivitäten an diesem Tag mittags um ein Uhr einzustellen seien.
Nun, wenn wir am Freitag in Kairo, am Samstag in Jerusalem, am Sonntag in Rom wären, könnten wir drei Feiertage aneinanderreihen und der Relativismus der Einteilung der Zeit wäre eine unbestreitbare Tatsache. Reisten wir nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit, könnten wir bis in alle Ewigkeit weiterfeiern. Darum lassen wir diese Gewissheit zu Hause – genau wie den Glauben, Wörter hätten eine exakte Bedeutung und könnten sich nicht dem Willen dessen beugen, der sie benutzt. Dies ist der zweite Beleg für den Relativismus.
Als ich nach New York kam, machte ich mich auf die Suche nach einer Mietwohnung. Es waren die 1990er-Jahre, das Internet befand sich am Anfang und man überflog noch Anzeigen auf Papier. Folgendes Angebot stach mir ins Auge: »A terrific apartment with a dramatic view«. Es wäre stümperhaft, dies als »furchtbares Apartment mit dramatischer Aussicht« zu übersetzen, aber das sind die Wurzeln dieser beiden Adjektive: Schrecken und Drama. Nur in den Vereinigten Staaten, im Land des Optimismus, bedeutet terrific »großartig«. »You look terrific« heißt nicht, dass du Augenringe, wirres Haar und ein eingefallenes Gesicht hast, sondern genau das Gegenteil: Du bist...