I. Einführung, Gegenstand, Methode
1. Recht als historischer Gegenstand
Der geschichtliche Blick auf das Recht ist der eines Beobachters; er richtet sich von außen auf das Recht. Sein Motiv ist die Neugier des Historikers, der herausfinden will, wie früheres Recht funktionierte, wie es die sozialen Beziehungen ordnete, welche «Spielregeln» galten und wie Regelverletzungen sanktioniert wurden.
Dieser Blick setzt voraus, dass Recht überhaupt als veränderbar erfahren und verstanden wird und dass es möglich ist, Dokumente der Vergangenheit daraufhin zu befragen, welche Vorstellungen ihre Verfasser von Recht hatten und wie sie über Recht kommunizierten. Solche Fragen können erst gestellt werden, wenn Gesellschaften sich selbst als geschichtlich begreifen, wenn sie darüber reflektieren, wie sich ihr Dasein und ihre Rechtsordnung auf dem Zeitpfeil von der Vergangenheit in die Zukunft bewegen. Das ist keineswegs selbstverständlich; denn viele menschliche Kulturen lebten und leben in zyklischen Modellen von Wiederkehr und periodischer Erneuerung. Ihnen war und ist die Vorstellung fremd, sich selbst als Teil einer auf ein «Weltende» oder ein «Jüngstes Gericht» zulaufenden Bewegung zu verstehen. Kulturen, die von der Vorstellung der Wiederkehr geprägt sind, denken tendenziell «ungeschichtlich», entweder in Kreisläufen oder in stufenförmiger Vervollkommnung. Auch die Rolle des Individuums und seiner Rechte ist eine andere. Es kann aus den Familien- und Sippenzusammenhängen nicht gelöst werden. Das Individuum ist in solcher Weltsicht nicht, wie westliches Denken der Neuzeit voraussetzt, eine mit subjektiven Rechten ausgestattete Monade, welcher materielle und immaterielle Güter zugeordnet werden. Erst durch Überschreitung der traditionellen eurozentrischen Perspektive können die tieferen Gründe für interkulturelle Spannungen ermittelt werden.
Gleichwohl muss man sich, um die eigene Rechtsordnung zu verstehen, erst einmal auf die allgemeine Geschichte Europas und die europäische Mentalität einlassen. Sie versteht seit der Christianisierung den geschichtlichen Prozess als ein lineares Voranschreiten auf ein fernes Ziel. Ob es sich dabei um eine Heilsgeschichte mit der Hoffnung auf Erlösung oder um eine säkularisierte, von gelegentlichen «Rückschlägen» betroffene Fortschrittsgeschichte innerweltlicher Befreiung von Zwängen handelt oder einfach um einen Prozess mit offenem Horizont und mit ungewissem Ausgang, ist zu verschiedenen Zeiten je unterschiedlich gesehen worden. Ein schlüssiges Deutungsmuster der in Europa vertretenen Geschichtskonzepte gibt es nicht, aber eines ist ihnen doch allen gemeinsam: Sie sehen sich eingebunden in einen Raum des geographischen «Europa» und in ein Zeitkontinuum, das von der Spätantike bis zur Gegenwart reicht[1].
In diesem Europa kann der Beginn der «Neuzeit» unterschiedlich markiert werden. Viel spricht dafür, relativ früh einzusetzen, um Langzeitprozesse und die Verschiebungen der gesellschaftlichen Grundlagen zu erkennen[2]. «Früh» meint hier das 12. und 13. Jahrhundert. In dieser Zeit beobachtet man die Entstehung einer verrechtlichten Weltkirche, eine zunehmende Verschriftlichung der Kommunikation, der Politik und des Rechts, die Entstehung von Stadtlandschaften, die Verdichtung der Bevölkerung und signifikante technische Neuerungen wie etwa Uhren, Wind- und Wassermühlen, Verbesserungen im Schiffsbau und in der Architektur. Gleichzeitig entwickeln sich Theologie und Philosophie auseinander[3]. Für die Rechtsgeschichte beginnt die Neuzeit traditionell mit der Wiederentdeckung der Digesten in Oberitalien, also der 533 in Ostrom (Byzanz) in Kraft gesetzten «Kodifikation» oder «Kompilation» des römischen Rechts. Auf der Grundlage einer einzigen erhaltenen Handschrift dieser spätantiken geordneten Zitatensammlung begann von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zunächst in Bologna, dann in Padua und Pavia, später in ganz Europa die Tätigkeit der «Juristen». Indem sie die römischen Texte lehrten und erklärten, kommentierten sie sie auch, passten sie an die Bedürfnisse der Praxis an und schufen so das römisch-italienische Recht des Mittelalters. Ebenso bedeutsam war die gleichzeitige Zusammenfassung der in rund 1000 Jahren entstandenen verstreuten Regeln des Kirchenrechts in einer Sammlung (1140), die rasch offiziellen Charakter gewann. Ihr Schöpfer war der ebenfalls in Bologna lehrende Mönch Gratian[4]. Von nun an gab es zwei Arten «gelehrten Rechts», das weltliche römisch-italienische Recht und das Recht der römischen Weltkirche.
Das weltliche, wesentlich auf den Digesten beruhende römische Recht entwickelte sich über Italien, Frankreich, die Niederlande und Deutschland zum «gemeinen» (allgemeinen) Recht Süd- und Westeuropas, während England, Nord- und Osteuropa hiervon nur mittelbar oder gar nicht erfasst wurden. Südosteuropa, soweit es im Mittelalter von Byzanz beherrscht wurde, lebte bis ins 15. Jahrhundert in ungebrochener Tradition unter «römischem» Recht in der speziellen Form, die sich dort im Kontext orthodoxen kirchlichen Lebens ausgebildet hatte. Am Ende nannte man die Summe der Texte das Corpus Iuris Civilis und entwickelte aus ihm die allgemeinen Regeln des Zivilrechts. Erst im 18. und 19. Jahrhundert wurde es europaweit durch nationale Gesetzbücher ersetzt. In Deutschland, das ab 1870 eine nationale Kodifikation in Angriff nehmen konnte, galt das gemeine Recht sogar bis zur Ablösung durch das BGB am 1. Januar 1900.
Das kirchliche «kanonische» Recht – so benannt nach den canones (Regeln) – wurde in vergleichbarer Weise an den Universitäten des späten Mittelalters gepflegt und weiter angereichert, um in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts seine amtliche Form zu erhalten. Es galt als Corpus Iuris Canonici in der römisch-katholischen Kirche bis 1917. Seit den Reformationen des 16. Jahrhunderts (Luther, Zwingli, Calvin) bauten sich die reformatorischen Kirchen zwar eigene Rechtsordnungen auf, betrachteten aber das überlieferte Kirchenrecht als subsidiär fortgeltend, soweit es dem evangelischen Bekenntnis nicht widersprach.[5]
Seit dem 16. Jahrhundert, dem langsam entstehenden Nationalgefühl folgend, wuchs auch das Interesse am einheimischen Recht. Die Humanisten-Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, meist Calvinisten oder Lutheraner, begannen mit Editionen früher Stammesrechte (leges barbarorum) aus der Zeit der Völkerwanderung, interessierten sich aber auch speziell für die mittelalterlichen Kämpfe zwischen Kaiser und Papst, um Argumente in den konfessionellen Auseinandersetzungen zu gewinnen[6]. Auch Dorf- und Stadtrechte traten nun in den Blick der gelehrten Juristen, teils aus praktischen Gründen, um vor Gericht zu bestehen, teils aus patriotisch-wissenschaftlicher Neugier.
Mit anderen Worten: Die heutige in Deutschland betriebene Rechtsgeschichte hat drei Hauptfelder. Das eine ist besetzt vom antiken römischen Recht und dem aus ihm entwickelten «gemeinen Recht». Behandelt werden dort überwiegend Themen des heutigen Zivilrechts, also Personenrecht, Schuldrecht, Sachen- und Erbrecht. Das zweite Feld enthält die einheimische Rechtsordnung vor und neben dem römischen oder gemeinen Recht, erschließt das quellenmäßig kaum fassbare «germanische» Recht, die frühmittelalterlichen Stammesrechte, das mittelalterliche und frühneuzeitliche Recht mit seinen städtischen und ländlichen Rechts- und Gerichtsbüchern, schließlich die Entwicklung des aus vielen partikularen Sonderrechten bestehenden «deutschen» Rechts. Das dritte Hauptfeld wird vom kirchlichen Recht gebildet, das zunächst für das «lateinische» Europa gemeinsam war, sich aber seit den Reformationen des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger getrennt entwickelte.
2. Ius publicum – Öffentliches Recht
Weniger beachtet wurden in der Rechtsgeschichte die Entstehung und die Funktionsweise des öffentlichen Rechts. Das antike römische «Staatsrecht» war mit dem Untergang des Reichs in der Völkerwanderung verschwunden. In Ostrom (Byzanz) lebte es weiter und wurde dort zu einer charakteristischen Symbiose mit dem orthodoxen Kirchenrecht gebracht. 1453 endete diese Traditionslinie mit dem Fall von Byzanz im Kampf gegen das Osmanische Reich[7].
Was sich im westlichen Mittelalter an Staatsrecht neu bildete, wenn man es so nennen mag, bestand aus Gewohnheitsrecht, wenigen politisch zentralen Urkunden und einigen von den mittelalterlichen Juristen gebildeten Leitsätzen[8], aus denen in Frankreich und Deutschland dann Leges fundamentales (Grundgesetze) hervorgegangen sind. Von den deutschen «Grundgesetzen» (Goldene Bulle von 1356, Ewiger Landfriede und Reichskammergerichtsordnung 1495, Wahlkapitulationen von 1519 bis 1654, Augsburger Religionsfriede 1555, Westfälischer Friede 1648, Jüngster Reichsabschied 1654 u.a.) wird noch die Rede sein. Insgesamt bildeten sie ein normatives Konglomerat, das schon bald «Reichsverfassung» genannt wurde. Diese Verfassung, nach Ansicht der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zur «gothischen Ruine » werdend, hielt...