Drei Brüder
CLES – VERVÒ
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als die Brüder Paul, Peter und Dominik Strudel von Venedig in ihre Heimat, das Nonstal, zurückreisten, benötigten sie für die Strecke acht oder zehn Tage. Heute dauert die Fahrt kaum mehr als drei Stunden. Bei Mezzocorona nördlich von Trient verlässt man die Brennerautobahn. Überschwemmungen schufen hier am Zusammenfluss des Noce und der Etsch in Jahrtausenden eine weite Schuttebene, die jetzt eine grüne Reblandschaft bildet. Durch einen langen Tunnel geht es zunächst vierspurig, dann auf einer gut ausgebauten, zweispurigen Straße immer tiefer in das Val di Non hinein, wie es im Italienischen heißt. Soweit das Auge reicht, klettern an den Hängen terrassierte Obstanlagen empor, ganz oben umkränzen es die zackigen Ausläufer der Brentagruppe. An den Rändern der Dörfer dehnen sich gewaltige Kistenlager für die Obsternte aus. Die Äpfel, welche an Verkaufsständen entlang der Straße angeboten werden, lagern in ebenso gewaltigen Kühlhäusern, um später, mit dem Marken-Aufkleber »Melinda« versehen, in weite Teile Europas verkauft zu werden. Ab und zu, wenn man über eine Brücke fährt und tief unten in einer Schlucht der Nocefluss vorbeibraust, kann man erahnen, wie gefährlich und mühsam das Reisen hier früher gewesen sein muss, als es nur Saum- und Treidelpfade gab. Verwitterte Burgen auf Hügelkuppen verraten jedoch, dass im Nonstal, welches über Pässe nach Norden hin mit dem deutschsprachigen Südtirol und nach Süden hin durch das Etschtal mit Venetien verbunden ist, schon immer ein reger Verkehr herrschte.
In Cles, dem Hauptort des Tales, fällt mir an einer Renaissancefassade das Wappen der Miller-Aichholz auf. Im 19. Jahrhundert, als Zuckerfabrikanten zu einem der reichsten Industriellengeschlechter des Habsburgerreichs aufgestiegen, hatten die Miller-Aichholz hier ihren Ursprung. Das Palais in der Prinz-Eugen-Straße im vierten Wiener Gemeindebezirk diente der Kunst liebenden Familie zur Ausstellung ihrer Preziosen, bis es während der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg an den Spekulantenkönig Camillo Castiglioni verkauft werden musste. Castiglioni werden wir später noch einmal in Triest begegnen. Schwieriger gestaltet es sich, im hübschen Dorf einen Hinweis auf die Brüder Strudel zu entdecken.
Vervò, St.-Martins-Kirche: Den linken Seitenaltar, den Heiligen Philipp und Jakob gewidmet, hat Pietro Strobli geschnitzt.
Mit seinem Roman »Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre« machte Heimito von Doderer die Monumentaltreppe im neunten Bezirk sowie den dazugehörigen Strudlhof berühmt. Weniger bekannt ist dessen Erbauer Peter Strudel sowie die Rolle, die er mit seinen Brüdern Paul und Dominik im Wien des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts gespielt hat. 1688 gründete Peter im Strudlhof eine private Kunstschule – sie gilt als Grundstein der ältesten Kunstakademie Mitteleuropas. Nach der überwundenen Türkengefahr beginnen Kaiserhof, Kirche und Adel mit einer imponierenden Bautätigkeit. Die Gründe dafür erklärte Antonio Bormastini, der Edelknaben-Sprachmeister am Kaiserhof – ja, diesen Beruf gab es damals auch!: »In einer solchen Statt« würden es »die Vornehmen einer … dem anderen zu Trutze thun, stattliche Gebäude aufzuführen.« Als Maler, Bildhauer und Architekten machten die Brüder aus dem Nonstal mit der Bau- und Repräsentierwut der Wiener Hautevolee gute Geschäfte. Venedig war die Zwischenstation auf ihrem Weg in die Hauptstadt gewesen.
Auch in der Serenissima war es nämlich im Zuge der Türkenkriege, die den Expansionsdrang dämpften und die Energien nach innen richteten, zu einer regen Bautätigkeit gekommen, berichtet Manfred Koller, dessen Biografie »Die Brüder Strudel« mir auf dieser Tour wertvollste Dienste leistet. Die meisten Lexika geben Cles als Geburtsort der Strudel-Brüder an. Nach Lehrjahren als Holzschnitzer in den Werkstätten des Nonstales gelangten der um 1648 geborene Paul sowie sein zwölf Jahre jüngerer Bruder Peter als angehende Künstler in die Serenissima. Der Tag ihrer Ankunft sowie genaue Geburtsdaten sind nicht bekannt. Sicher ist, dass das Duo in der Werkstatt des aus Bayern stammenden Johann Carl Loth nahe der Rialtobrücke tätig war. Dort ließ Loth nach Originalen sowie Kopien Tintorettos, Veroneses und Strozzis arbeiten und nahm es in seinem von Kunsthistorikern als »Bilderfabrik« gescholtenen Atelier je nach Preis mit der Qualität nicht so genau. Sieht man sich heute in den Antiquitäten- und Juwelierläden der Sotoportegos rund um die von Menschenmassen überflutete Rialtobrücke im Herzen Venedigs um, kann man in punkto mangelnder Qualität eine gewisse Kontinuität feststellen.
In die Steuerlisten der Malervereinigung, in welcher auch Händler von Masken, Leinwänden und Farben vertreten waren, ist »Piero Strubi« 1685 mit sechzehn Lire eingetragen. 1697, aus Wien erneut zurück in Italien, tauscht Peter Strudel in der Kirche San Bernardino in Verona ein Gemälde Veroneses gegen eine Kopie aus, das bis heute unauffindbare Original nahm er vermutlich in die Kaiserstadt mit. Drei Mönche des zugehörigen Klosters wurden für diese Nacht-und-Nebel-Aktion zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Diebstahl, Fälschung, dunkle Geldkanäle, Kunst und Verbrechen sind also keine Spezialität des 21. Jahrhunderts. Neben seinem eigenen Kunstschaffen wird Peter Strudel zeitlebens Geschäfte mit den Werken anderer machen, für die Kaiserin besorgt er etwa »italienische Galanterien«. Aber ist Piero Strubi überhaupt »unser« Strudel? In den Archiven tauchen die Namen »Strodl«, »Strobl«, »Strobli«, »Strobth«, »Strol«, »Strodlin« sowie »Strudl« auf – erst in jüngerer Zeit setzte sich die Schreibung »Strudel« durch. Bis heute werden die Künstlerbrüder verwechselt oder für eine einzige Person gehalten. Auch über ihre Herkunft gab es lange unterschiedliche Theorien, mittlerweile gilt als gesichert, dass die Familie aus dem oberbayrischen Mittenwald ins Nonstal eingewandert ist.
Der älteste Strudel-Bruder Paul gelangte um 1680 nach Wien, wo er nach dem Vorbild Berninis erstmals Großplastiken schuf und so in der Hauptstadt »sofort Furore« machte, wie sein Biograf Koller schreibt. Den großen Coup landete Paul Strudel, indem es ihm gegen alle Widerstände der lokalen Handwerker und Künstler gelang, mit der Projektleitung der Pestsäule am Graben beauftragt zu werden. Die von Kaiser Leopold I. während einer der letzten großen Pestepidemien 1679 versprochene Säule gehört zu den bekanntesten Kunstwerken Wiens. Ein grandioses Denkmal der Glaubensstärke, in welchem die irdische Welt der Sünden und Gottesstrafen (Türkenbelagerung und Pest), das Zwischenreich der Engel sowie die Sphäre der Dreifaltigkeit in einem himmelwärts stürmenden Rausch aus Gold und Marmor als eine große, alle Widersprüche auflösende Einheit dargestellt werden. 16 818 Gulden bekommt Paul Strudel für seine Arbeiten an der Dreifaltigkeitssäule – weit mehr als alle übrigen beteiligten Künstler. Unter anderem stammt Kaiser Leopold I., der mit schulterlanger Allongeperücke, Schnurrbart und seltsam vorgeschobenem Unterkiefer vor dem oberen Säulensockel kniet, aus der Hand Paul Strudels. Selbstbewusst platziert der Künstler als Einziger seine Unterschrift gleich dreimal an gut sichtbarer Stelle. Bis zu seinem Tod am 20. November 1708 vollendete Paul sechzehn der einunddreißig von Kaiser Leopold in Auftrag gegebenen, lebensgroßen Statuen aus weißem Marmor für die Habsburger Ahnengalerie, welche heute zum Teil den Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien zieren.
Aus vielen Quellen geht hervor, dass den Künstler Schulden und Existenzängste wegen der schlechten Zahlungsmoral hoher Auftraggeber plagten. Er habe »alles versetzt, um mein Versprechen zu manutenieren, die Verfertigung der Statuen zu größer Glori und ewiger Gedächtnuß des glorwürdigsten Ertzhauß …«, klagte Paul Strudel, als wieder einmal die vereinbarten Raten für längst auf eigene Kosten hergestellte Arbeiten ausblieben. Nach seinem Tod fertigte der jüngere Bruder Peter die restlichen fünfzehn Marmorfiguren für die Ahnengalerie an. Als »Direttore della Struttura delle Cesaree statue« war auch Peter ständig in Konflikte mit Auftraggebern um Geld verwickelt – mit Pauls Sohn Leopold stritt er sich um das Erbe.
Der Siegeszug des Zweitgeborenen in Wien ist noch beeindruckender als die Karriere von Paul Strudel. 1888 wird ihm der Titel »Kammermaler« verliehen. Nur ein Jahr später erhält der kaum Dreißigjährige vom Kaiser ein Jahresgehalt von dreitausend Gulden zugesprochen, mehr bekommt kein Hofkünstler. Im Gegenzug musste der Künstler sein Talent acht Monate im Jahr ausschließlich der...