Der körperliche Weg: Das Finden der inneren Mitte
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Die Spiritualität ist bis jetzt ein Schuss in den Ofen. Ich kann das einfach nicht ernst nehmen, selbst wenn ich es versuche. Vermutlich hätte ich mich viel mehr auf »geistige Erfüllung durch Aufenthalte in Luxus-Spa-Hotels« konzentrieren sollen. Sogar Anne, die spirituellste Maus von Mexiko, sieht das so:
»Wir sind das falsch angegangen«, sinniert Anne an unserem Küchentisch und rührt gedankenverloren in ihrem Tee.
»Ich meine«, erklärt sie, »vermutlich hättest du dich viel mehr auf ›Geistige Erfüllung durch körperliche Erfahrungen‹ konzentrieren sollen!«
Wie kann der gleiche Gedanke zu so unterschiedlichen Rückschlüssen führen?, frage ich mich. Einig sind wir uns lediglich, dass die Gefühlsebene für Fusselhirne wie mich vielleicht einen direkteren, unkomplizierteren Weg darstellt, und Anne weiß auch gleich einen prima Einstieg für das Gefühlsding: Ich umarme einen Guru.
Ich umarme einen Guru
»Mein« Guru ist die »Mutter der Glückseligkeit« und sie kommt nach Deutschland. Ganz richtig, ich werde einen Guru umarmen – und das, obwohl ich nicht dazu neige, mir vollkommen unbekannte Menschen zu umarmen. Ich umarme aber auch nicht irgendeinen dahergelaufenen Allerweltsguru. Nein, ich treffe den Top of the Pops der Guru-Szene! Eine erleuchtete Seele mit weltweiter Anhängerschaft, die Mehrzweckhallen füllt wie Mario Barth! Einen Guru mit eigener Corporate Identity, eigenem Fernesehsender und einer eigenen Zeitung mit einer Auflage von 900 000 Exemplaren. Die wunderbare, die einzigartige und weltberühmte, heilige, umarmende Mutter:
Amma.
(Überlegen Sie ruhig ein bisschen, wie die weibliche Form von Guru heißen könnte, ich bin auch auf kein befriedigendes Ergebnis gekommen.)
Amma heißt gebürtig Sudhamani Idamannel und sie ist, mein Glück, mal wieder auf Welttournee. Anne ist schon seit Wochen völlig aus dem Häuschen deswegen. Anne war schon mal bei einem Event mit der Heiligen Mutter und jedes Mal, wenn sie davon erzählt (und sie erzählt in den letzten Wochen oft davon), bekommt sie diesen leicht entrückten Gesichtsausdruck, wie ihn Frischverliebte und Spinner haben.
»Es ist unglaublich, diese Energie, sie durchflutet dich, wenn sie dich umarmt«, schwärmt sie. Umarmungen, das müssen Sie wissen, sind Ammas Spezialität. Sie tut eigentlich, wenn ich das richtig verstanden habe, nichts anderes. Mitunter bis zu 24 Stunden am Tag umarmt die gute Frau Menschen, die teilweise teuflisch lange Anfahrten dafür in Kauf nehmen. Umarmt diese Leute denn sonst keiner?, fragt man sich da ja automatisch, aber Anne sagt, das habe damit nichts zu tun, ich würde schon sehen.
Wie bei allen Menschen, die mir nahekommen, möchte ich gerne vorher etwas über diejenige Person erfahren. Obwohl wir uns nicht bei einem hochprozentigen Getränk in einer Bar gegenüberstehen, ist die Fragestellung auch nicht viel anders als sonst auch: Wo kommst du her, was machst du so und was treibt dich an? Das habe ich herausgefunden:
Amma kommt, wie sich das für Gurus gehört, aus Indien. Sie wird 1953 als eines von 13 Kindern einer armen Fischerfamilie in einem Dorf an der Südwestküste geboren. Fünf der Kinder sterben früh und die kleine Sudhamani wird mit neun Jahren von der Schule genommen, um zu Hause mitzuhelfen. Die Familie gehört einer niedrigen Kaste an, sie kommen gerade so über die Runden und so ist es auch nicht ganz unverständlich, dass die Eltern alles andere als erfreut sind, als ihre kleine Sudhamani anfängt, das wenige Essen und die Haushaltsgegenstände an diejenigen zu verschenken, die noch weniger haben. In einer christlichen Mission macht sie eine Ausbildung zur Näherin, es heißt, sie ist bereits als junges Mädchen sehr religiös (oder sagt man da »spirituell«?), betet viel, singt Mantren, solche Dinge. Mit 22 erlebt sie angeblich ihren ersten Bhava, das bedeutet so viel wie »Verschmelzung mit Gott« (und wenn Sie auch nur annähernd so gestrickt sind wie ich, denken Sie dabei an etwas gänzlich Unspirituelles).
In den nächsten ein, zwei Jahren spalten sich die Geister: Während die junge Frau sich immer mehr in religiöser Hingabe übt, fastet und Visionen hat, beginnen die einen, sie zu verehren und in ihr eine spirituelle Führungspersönlichkeit zu sehen, die anderen reagieren mit Ablehnung und Verachtung – angeblich auch ihre eigene Familie. Dass die negativen Reaktionen mitunter sehr heftig ausfallen, hat auch den Grund, dass Sudhamani etwas für indische Verhältnisse völlig Unerhörtes tut: Sie umarmt die Trostsuchenden. Dabei ist es ihr egal, ob es sich um Fremde, um Andersgläubige, Kastenniedere, Unberührbare oder sogar Männer handelt. Es ist ein Skandal, ein Tabubruch und eine Revolution gleichzeitig, und so etwas provoziert nun mal.
Sie nennt sich nun Mata Amritanandamayi (»Mutter der unsterblichen Glücksseligkeit«) und schart die ersten Anhänger um sich, von ihnen bekommt sie den Namen Amma (»Mutter«). 1981 wird der erste Ashram gegründet, in dem ihre Lehren propagiert werden.
Im Hinduismus sind verschiedene Wege zu Gott oder zur Erlösung bekannt, Amma lehrt und lebt zwei davon: zum einen den Weg der liebenden Hingabe zu Gott, wobei durch Gefühle eine Vereinigung mit Gott erstrebt wird (Bhakti-Yoga), und zum zweiten Karma-Yoga, den Weg der guten (selbstlosen) Tat.11
Die Umarmungen sind so etwas wie Ammas Markenzeichen geworden und sie ist so erfolgreich damit, dass sie inzwischen jedes Jahr Reisen auf die verschiedenen Kontinente unternimmt, um sprichwörtlich die ganze Welt zu umarmen. Über 30 Millionen Menschen sollen es inzwischen schon sein, die Amma tröstend in die Arme geschlossen hat. Und ab morgen gehören Anne (zum zweiten Mal), Jana und ich dazu. Jana muss mit, denn alleine mit meiner entrückten Anne traue ich mich nicht unter die ganzen Shantis. Dass Jana überhaupt mitkommt, ist ein kleines Wunder und nur der Tatsache geschuldet, dass ich noch etwas bei ihr gut habe.
Das sieht man ihr an diesem Morgen auch an:
»Nun mach doch nicht so ein grantiges Gesicht«, versuche ich sie in der U-Bahn aufzumuntern, »da wird ja jeder Lassi sauer.« Anne hingegen strahlt, als hätte sie zu viele Cocktails erwischt.
Wir kommen schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn an, ab da werden nämlich Tickets ausgegeben. Das ist zwar Janas Laune überhaupt nicht zuträglich, aber vielleicht stehen wir dann nicht ewig an. Eine völlig unberechtigte Hoffnung, wie sich herausstellt. Vor der riesigen Funktionshalle, in der normalerweise Stefan Raab seine TV Total-Events abhält, steht bereits eine lange Schlange Leute, vorwiegend in wallende Gewänder gehüllt.
Ich spiele ja mit L. immer gerne »Konzert raten«: Wenn wir an einer Halle vorbeikommen, wo eine Menge Leute anstehen, dann raten wir anhand von Outfit und Alter, wer dort wohl auftritt. Auf was hätten wir hier wohl getippt? Hui Buh?
Böse Alex, schimpfe ich mich im Stillen selbst und versuche, das gleiche freundliche Lächeln aufzusetzen, wie es alle hier tragen. »Fängst du jetzt auch an?«, zischt Jana mir prompt ins Ohr.
Entsetzlich weit vom Eingang entfernt stellen wir uns an das Ende der Schlange. Überdurchschnittlich viele Armbänder aus Holzperlen sind hier vertreten und über allem liegt ein süßlicher Geruch. Jana blickt sich suchend um: »Kifft hier jemand?«, fragt sie und wir schnuppern in die Luft, aber Anne sieht uns glücklich an:
»Nein, die machen hier Laddu! Wartet hier, ich hole welche!«, und schon ist sie verschwunden. Jana sieht mich mit ihrer hochgezogenen Augenbraue an: »Hat sie Laddu gesagt?«
»Jepp«, nicke ich, »Laddu. Klar und deutlich.« Die Frau vor uns in der Schlange dreht sich zu uns um: »Das ist eine indische Süßigkeit aus Kichererbsenmehl, ganz köstlich!« Ich lächle zurück und stelle mich etwas vor Jana, die sich theatralisch die Hand an die Gurgel hält und Würgegeräusche simuliert.
»Jetzt reiß dich aber mal zusammen, echt«, schnauze ich sie an, und als Anne zurückkommt sind wir vermutlich die einzigen zwei Menschen auf dem über 100 000 Quadratmeter großen Gelände, die mit verschränkten Armen vor der Brust die Mundwinkel bis zu den Kniekehlen ziehen.
Als wir endlich an der Reihe sind, ziehe ich meinen Geldbeutel aus der Tasche, aber Anne winkt ab: »Nein, nein, das ist umsonst.« Ich sehe sie fragend an – wann war denn das letzte Mal irgendwas umsonst? Mit unseren Tickets dürfen wir die Halle betreten. Stuhlreihen sind aufgestellt, rundum ist ein Gewimmel aus Ständen wie auf einem Marktplatz und so wie es aussieht, haben wir auch genug Zeit, uns jeden Stand ganz genau anzusehen: Auf Monitoren werden die Ticketnummern angezeigt, die mit dem Umarmen an der Reihe sind. Nur so viel: Auf den Monitoren erscheint gerade B 8, unsere Tickets gehen mit K los …
Vorne auf der Bühne sehe ich einen kleinen weißen Punkt, um den viele Leute knien, das muss die Mutter sein. »Los, wir gehen gucken«, strahlt uns Anne an und winkt hektisch in Richtung der ersten Stände.
Zu kaufen gibt es alles, was L. als Shanti-Käse bezeichnen würde: Edelsteine, die heilen und Energien fließen lassen, ayurvedische Kosmetik, indische Kleidung, jede Menge Pülverchen, Nahrungsergänzungsmittel und Tees, es gibt indisches Essen und bunte Seidentücher. Auf einem kleinen...