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Von Quarkjunkies und Krümelmonstern
Exorphine
Dass Schlafmohn oder Kokapflanzen Suchtstoffe enthalten, weiß jedes Kind. Überraschend aber war die Entdeckung, dass derartige Drogen auch in völlig unverdächtigen Speisen wie der Muttermilch oder dem Weizen vorkommen. Diese sogenannten Exorphine sind jedoch besser «versteckt» als Morphin oder Kokain, die als eigenständige Moleküle in der Pflanze herumschwirren. Exorphine sind kurze Aminosäureketten (Oligopeptide), die unauffällig ins Eiweiß eingebettet sind. Sie werden erst nach dem Verzehr von unserer Verdauung freigesetzt. Bei ihrer Entdeckung riefen sie zunächst große Irritationen hervor, denn sie waren immunologisch, biologisch und pharmakologisch von Morphium nicht zu unterscheiden.16, 18,19
Die meisten dieser Exorphine fand man in der Milch. Sie werden als Casomorphine bezeichnet. Die Muttermilch liefert auch den Schlüssel zum Verständnis, warum in Lebensmitteln überhaupt Exorphine enthalten sind. Das Stillen trägt seinen Namen nicht umsonst: Oft schlafen die hungrigen Schreihälse schon beim Füttern an der Brust ein, da die Exorphine beruhigen und zufrieden machen. Das kommt auch der «Milchspenderin» zugute. Zugleich lindern Exorphine Schmerzen wie das bei Säuglingen häufige Bauchweh.3
Auch die Säuglingsnahrung auf Kuhmilchbasis zeigt diese Effekte, da wir die biologischen Infos in der Milch anderer Säuger «lesen» können. Allem Anschein nach wirken die Casomorphine der Kuhmilch sogar stärker als die der Humanmilch.15 Ein Glas Milch am Abend fördert sogar bei manchen Erwachsenen den Schlaf. Vermutlich wurden sie schon als Babys von der Milch «abhängig». Liebe Drogenpolitiker: Vielleicht ließe sich ja mit einer strengen Höchstmenge für Muttermilch Schlimmeres verhüten …
Unter Milchmädchen
In dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo schildert Christiane F., wie ein typischer Morgen bei Heroinabhängigen aussieht. Sie wettet mit ihrer ebenfalls heroinsüchtigen Freundin, wer es länger bis zum nächsten Schuss aushält. In der Zwischenzeit rühren sie sich einen großen Topf Quark an. Als Christiane es nicht mehr aushält und zum Spritzen im Bad verschwindet, isst ihre Freundin den ganzen Quark auf, und es gibt fürchterlichen Streit.4 Quark ist eines der wenigen Lebensmittel, das Junkies noch gut vertragen und das sie auch in großen Mengen verzehren. Ansonsten wird das Essen völlig vernachlässigt.
Natürlich kann Quark keinen Schuss Heroin ersetzen, aber er mildert offenbar die Entzugserscheinungen. Nicht umsonst ist Magerquark ein typischer Bestandteil vieler Schlankheitsdiäten. Was die einen nur «zum Spucken» finden, gilt Diäterfahrenen als probater Sattmacher. Denn seine Exorphine lindern den Frust, der zwangsläufig bei einer Mangelernährung entsteht. Die Fettarmut des Quarks wird vom Körper toleriert, da mit sinkendem Fettanteil naturgemäß der Eiweißanteil steigt und damit auch die Exorphindosis.
Der Körper – eine Opiumhöhle
Der Wirkungsmechanismus ist – wenn man ihn erst einmal kennt – recht simpel: Exorphine gleichen strukturell körpereigenen Botenstoffen, den Endorphinen, die für Hochgefühle und für Schmerzfreiheit sorgen können. Wegen dieser Endorphinausschüttung spüren schwerverletzte Verkehrsopfer oder verwundete Soldaten manchmal keinen Schmerz. Da Endorphine opiatwirksam sind, ist damit zugleich eine Stimmungsaufhellung verbunden.
Aus diesem Grund können Extremsportler wie Marathonläufer oder Menschen, die hungern bzw. fasten, geradezu süchtig nach dem Endorphinschub werden. Man spricht dann vom «Runner’s High» oder von «Diätjunkies». Fastende interpretieren ihre Euphorie gern als «Entschlackung». Bei der Magersucht sind die Patienten vom Hunger ähnlich abhängig wie Junkies vom nächsten Schuss. Deshalb können Schmerz- und Hungergefühle genauso abhängig machen wie Morphin.7
Rein theoretisch sollten die Eiweiße aus der Nahrung im Verdauungstrakt in Aminosäuren aufgespalten werden. Insofern wäre für intakte Peptide, wie sie Exorphine darstellen, kein Platz. Doch im Gegensatz zur Theorie bleiben Exorphine im Verdauungstrakt intakt und können daher an die Opiatrezeptoren im Darm andocken. Exorphine und Morphine sind zwar völlig unterschiedliche Stoffe, dennoch passen sie auf dieselben Rezeptoren, da ihnen bestimmte Strukturmerkmale gemein sind (siehe Abb. 3 auf Seite 60).11,13 Nach ihrer Resorption gelangen diese Peptide in den Blutkreislauf, passieren die Blut-Hirn-Schranke und binden an die Opiatrezeptoren im Zentralnervensystem (ZNS).14
Willkommen in Molken-Kuckucksheim
Auch aus Fleisch und Blut werden während der Verdauung Exorphine (sog. Haemorphine) freigesetzt.2 Sie sind offenbar mit den Exorphinen der Milch des jeweiligen Tiers identisch. Welche Exorphine vom Menschen individuell bevorzugt werden, ist vermutlich auch eine Frage der Gewöhnung. Manche Rauschdrogen wirken erst beim zweiten oder dritten Konsum, weil die entsprechenden Rezeptoren erst vermehrt gebildet werden müssen. Gerade bei Lebensmitteln ist diese Strategie sinnvoll, um den Menschen zu einer für ihn vorteilhaften Ernährung zu verleiten: Erst wenn der Körper weiß, dass die Kost für ihn vorteilhaft ist, bildet er die jeweiligen Rezeptoren vermehrt aus.
Dies könnte erklären, warum der Fleischappetit des Menschen recht spezifisch ist: Während der BSE-Krise gelang es nicht, das Rindfleisch dauerhaft durch andere Fleischarten zu ersetzen. Rindfleischesser wechselten auf Käse – vermutlich, weil darin die gleichen Eiweiße enthalten sind. Nicht umsonst gilt β-Casomorphin als wichtiger Geschmacksträger des Käses, obwohl es bitter ist.16 Die Molke ist weitgehend frei davon. Sie schaffte es trotz jahrzehntelanger Marketingbemühungen und intensiver geschmacklicher Bearbeitung jedoch nicht, ihren Nischenmarkt zu verlassen.
Beim Sojaeiweiß ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: Vor kurzem wurden darin Exorphine entdeckt, die im Tierversuch dem Casomorphin der Milch vergleichbar waren.15 Vielleicht ist das der Grund, warum Sojaprotein bei geschickter Aufarbeitung nicht generell als ungenießbar angesehen wird und in Billigprodukten teures Milcheiweiß zu einem gewissen Grade zu ersetzen vermag.
Neben der Milch hat sich vor allem der Weizen unter den Exorphinlieferanten in unserer Nahrung einen Namen gemacht. Der Weizenkleber enthält ein Exorphin, das zehnmal so wirksam ist wie Morphin aus dem Schlafmohn.9
Brot, Nudeln und Kuchen aus Weißmehl erfreuen sich also nicht nur deshalb ausgesprochener Beliebtheit, weil sie über den Blutzuckeranstieg via Serotonin für eine bessere Stimmung sorgen. Mehlspeisen, Pizza und Gebäck sind auch dank ihrer Opiate pharmakologische Trostpflaster bei körperlichem oder seelischem Schmerz. Auch der große Konkurrent des Weizens, der Reis, verwöhnt uns mit ein paar Exorphinen.
Der träge Darm: Im Dunkeln ist gut munkeln
Der Verwöhneffekt des Frühstücksbrötchens hat manchmal auch eine unerwünschte Nebenwirkung. Er führt zur Verstopfung. Denn es sind drei Wirkungen, die Opiate kennzeichnen: Sie entspannen verkrampfte Atemmuskeln, sie verbessern die Stimmung, und sie verlangsamen die Darmperistaltik. Demgegenüber steht die populäre Vorstellung, die einen «trägen Darm» als Beweis für einen Mangel an Ballaststoffen wertet. Zunächst: Die Darmperistaltik ist autonom wie die Atmung. Wer die Darmperistaltik mit Ballaststoffen «aktivieren» will, könnte genauso gut mit Grippeerregern den Hustenreiz und damit die «Atmung anregen». Ballaststoffe sorgen auch nicht für Volumen und Konsistenz des Stuhls. Dafür ist ihr Anteil mengenmäßig viel zu gering. Wird die Darmperistaltik verlangsamt, dann resorbiert der Darm über einen längeren Zeitraum Wasser aus dem Stuhl – und die Fäzes schrumpfen und verhärten. Daher die Obstipation.
Ballaststoffe, vor allem unlösliche Pflanzenfasern, reizen die Darmschleimhaut. Um eine Entzündung zu vermeiden, schützt sich der Darm durch beschleunigte Ausscheidung. Dies ist ebenso wenig eine «Normalisierung des Stuhlgangs» wie eine Salmonellose, die ebenfalls der Peristaltik Beine macht. Wer zur «Regulierung des trägen Darms» über längere Zeiträume Ballaststoffe verzehrt, wird allenfalls mit einem Reizdarm (irritablem Colon) belohnt. Nicht umsonst wird bei Reizdarm leichtverdauliche, ballaststoffarme Kost verordnet.
Verstopfung ist – einmal abgesehen von organischen Ursachen wie dem Missbrauch von Abführmitteln – eine typische Folge des Verzehrs von Opiaten. Da das Weizenexorphin zehnmal so potent ist wie Opium, darf man sich nicht wundern, wenn es die Aktivitäten des Darms ein wenig bremst und manche Menschen mit Verstopfung reagieren.17 Dass wir zwar alle Weizen mögen, aber nicht gleichermaßen mit Verstopfung reagieren, hängt damit zusammen, dass es im Darm etwas andere Opiatrezeptoren gibt als im Zentralnervensystem – und dass sich diese Rezeptoren von Mensch zu Mensch unterscheiden (Polymorphismen).10 Gleiches gilt übrigens auch für Milch, die bei manchen Kindern chronische Verstopfung hervorrufen kann.5 Die Darmpassagezeit ließ sich im Tierversuch durch Milchexorphine verlängern – ein Effekt, der durch den Opiat-Gegenspieler Naloxon aufgehoben wurde.6,8
Obwohl Pommes weniger Ballaststoffe enthalten als Weißmehlbrötchen, stehen sie nicht als Ursache der Verstopfung am Pranger. Denn die psychotropen Stoffe der Pommes sind β-Carboline (siehe Seite 66). Diese Alkaloide docken nicht an die Opiatrezeptoren im Darm an. Bei Durchfall...