1. Endstation Sehnsucht oder:
Am Anfang war die Flucht
»Und Er ist mit euch, wo ihr auch seid.«
Koran (57:4)
Am Anfang war die Flucht; eine Flucht, die leise flüsterte und doch schamlos meine Kindheit ergriff. Plötzlich verflüchtigte sich diese, ohne Abschied zu nehmen; als wollte sie zurückkehren. Geblieben ist eine Ruine; namenlos, erfüllt von Erinnerungen, die Augenblick für Augenblick aus meinen Händen rinnen, um Vergangenheit zu sein; vergangen wie die letzten Verse eines Rilke-Gedichtes, die enden, um wiederholt zu werden, und immerfort. Jede Flucht ist Abschied und Neugeburt. So bin ich geboren in der Flucht – ohne Heimat. Ohne Heimat?
Wenn ich heute an meine Heimat denke, dann sehe ich einen Jungen. Er sitzt auf der Wiese vor einer kleinen Moschee im Herzen von Kabul und rezitiert laut den Koran. Es ist Krieg; überall lauert Gefahr. Doch der Koran verzaubert ihn. Er ist im Singen des Koran beheimatet. Ich sehe, wie er dort für immer bleiben möchte, um nicht auf dem Weg nach Hause von einer Rakete heimgesucht zu werden; aber die Rakete kann ihn ebenso gut hier treffen. Der Junge hat keine Heimat. Der Krieg hat sie ihm gestohlen; und die Flucht lehrt ihn, dass Heimat eine Illusion ist. Mit dreizehn Jahren fragte ich mich, was Heimat überhaupt sein soll, wenn sie doch Krieg ist.
Wer flüchtet, kann keinen Abschied nehmen. Wie sollte ich mich von meiner Familie und meinen Freunden verabschieden? Mit welchen Worten und welchem Versprechen? Ich habe mich von meiner Schule verabschiedet, indem ich mit meiner Handfläche die Wände und die Tafel des Klassenzimmers streichelte. Es war, als ob ich dort Spuren hinterlassen wollte; aber meine Hand trug die Spuren der Wände und der Kreide. Als ich aus der Schule trat, lief ich rückwärts, um die Schule im Gedächtnis zu verankern; bis es nicht mehr ging. Mein intimster Abschied war der von meinem Fußball. Vielleicht hätte Anne Frank verstanden, warum mich das so schmerzte. Als ich Jahre später ihr Tagebuch las, war sie mir sehr nahe; nur Flüchtlinge, so dachte ich, können heute nachempfinden, was es bedeutet, wenn Anne Frank am 20. Juni 1942 schreibt: »Juden müssen ihre Fahrräder abgeben.« Nicht bloß ein Gegenstand, die Würde wird weggenommen. Mein Fußball war nicht einmal neu, er hatte viel mitgemacht, die Vorstellung, dass ich ihn nicht mehr mit dem Fuß berühren würde, war mir unbegreiflich. Ich küsste ihn und ließ ihn rollen.
Mir wurde mein Geburtsort entrissen. Meine Heimat ist in mir begraben; ein gebeugter Baum, der sich jeden Herbst neu entblättert. Der Abschied endet nie. Das Entreißen und Entrissensein geht weiter. Niemals flüchten wir ganz. Ich ließ einen Teil von mir dort und nahm einen anderen Teil mit. Ich habe Kabul und mich selbst zerrissen. Das ist eine afghanische Geschichte; eine Geschichte von Zerrissenheit, Flucht, Brüchen. Und mitten darin ist mir dieser kleine Junge, der ich selbst war, verloren gegangen. Auch das gehört zu dieser Geschichte. Wo ist dieser kleine Junge heute, der mit zitternden Händen flüchtige Welten formen wollte, Welten aus Worten, die sich von rechts nach links fortbewegten, sinnlich und zerbrechlich zugleich, ein Flüchtling, der mit seinem suchenden Blick, atemlos, fremde Landschaften berührt? Die Flucht ist ohne Ort. Dieser Nichtort lässt den Flüchtling nicht los. Ich bleibe ein Zwischenweltler und fühle mich anderen Zwischenweltlern verbunden. Sind sie meine Heimat geworden?
Francis Ford Coppola wählte im zweiten Teil von Der Pate (The Godfather) für den neunjährigen Vito Corleone als ersten Aufenthalt nach dessen Flucht aus Sizilien die Quarantäne. Ein Raum, der sich zwar inmitten der Wirklichkeit befindet, aber von ihr getrennt ist, ein Nichtort eben, eine Zwischenwelt. Der kleine Vito, der bis dahin kein Wort gesprochen hat, sitzt in einem bescheidenen Zimmer auf einen Stuhl und blickt durch das Fenster auf die Freiheitsstatue, während er ein sizilianisches Lied singt. Spätestens jetzt, in dieser Zwischenwelt, wird ihm gewahr, dass er alles verloren hat, seine Eltern und Geschwister, seinen Namen und seinen Geburtsort. Er besingt teilnahmslos die neue, fremde Landschaft. Es ist ein bezauberndes Lied, wie es nur empfunden wird, wenn wir uns im Vertrauten beheimatet fühlen.
Unsere Flucht aus Afghanistan beschrieben mir meine Eltern wie ein Abenteuer; so fühlte es sich auch an. Am 2. August 1992 saßen wir – meine vierjährige Schwester, von meiner Mutter fest an die Brust gedrückt und zugleich meine Hand haltend, und mein Vater, der wie jeder andere Vater eine gelassene Miene zu machen versuchte – am Flughafen Kabul. Wir warteten auf unser Flugzeug und zitterten innerlich. Der Raketenangriff auf Kabul nahm kein Ende. Einer von so vielen. Tausende starben damals in Kabul, Hunderttausende waren auf der Flucht vor den sich bekämpfenden Mudschaheddin. Der Flughafen bebte. Einige Scheiben gingen zu Bruch. Die Gesichter meiner Eltern wurden immer bleicher. Ihre Stimmen zitterten bei dem Versuch, mich zu beruhigen; alles würde gut werden. Ich beobachtete, wie jede Familie, die an jenem Tag unser Schicksal teilte, von demselben Gefühl gefangen gehalten wurde; ein Gefühl, das sich nicht entscheiden konnte zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Wir lächelten uns an, ohne ein Wort. Als nach einigen Stunden Ruhe eingekehrt war, erschienen zwei Männer und befahlen, dass wir mit unserem Gepäck zum Flugzeug rennen sollten. Wir rannten; mein Vater schaffte es, die beiden Koffer, die wir dabei hatten, im Flugzeug unterzubringen. In der Maschine herrschte Unruhe. In dem Augenblick, als sie sich in Bewegung setzte, begann ich, meine Lieblingsverse aus dem Koran zu rezitieren: »Und Er ist mit euch, wo ihr auch seid« (Koran 57:4). Dabei blickte ich meine Eltern an und sah, dass auch sie aus dem Koran vor sich hin flüsterten. Wir sprachen nicht darüber. Aber wir hatten einen unsichtbaren Begleiter; seine Gegenwart berührte mein Herz. Mir war schlecht, ich konnte nicht gut atmen. Jahre später, als wir bereits in Deutschland angekommen waren, fühlte ich mich ertappt, als im Film Der Drachenläufer der Junge Amir auf der Flucht aus Afghanistan in einem düsteren Panzer zu seinem Vater sagte: »Ich kann nicht richtig atmen, Bâba!« Sein Vater rät ihm, dass er an etwas anderes denken, dass er am besten ein Gedicht rezitieren solle. Um seinen inneren Drachen zu überwinden, trägt der Junge aus Kabul ein Gedicht von Rumi vor: »Wenn wir einschlafen, sind wir trunken von Ihm / Und wenn wir erwachen, sind wir in den Händen von Ihm / Wenn wir weinen, sind wir Seine Regenwolke / Und wenn wir lachen, so sind wir Seine Blitze / Wenn wir wütend sind und streiten, sind wir ein Bild Seiner Gewalt / Versöhnen wir uns und vergeben wir, dann sind wir ein Bild Seiner Barmherzigkeit / Wer sind wir in dieser diffizilen Welt?« Um diese Verse im Original zu lesen, habe ich die Nacht, nachdem ich Der Drachenläufer gesehen hatte, mit Rumi verbracht. In den Morgenstunden stieß ich endlich auf das Gedicht; beim Lesen weinte ich. Als Überschrift zum Gedicht bemerkt Rumi: »Dieses Gedicht ist eine Interpretation des Verses aus dem Koran: ›Und Er ist mit euch, wo ihr auch seid‹.«
Als wir in Neu-Delhi ankamen, wurde uns schnell klar, dass wir dort nicht lange bleiben könnten. Nicht nur erschreckte uns die missliche Situation der Flüchtlinge in Indien, auch stand die Entscheidung, oder sagen wir: der Wunsch meiner Eltern, fest, nach Deutschland zu gelangen. Deutschland war der Traum meines Vaters. Er besuchte die deutsch-afghanische Schule in Kabul, die er später leitete, und vor allem studierte er Anfang der Siebzigerjahre in München. Dies mag auch meine Zuneigung zum FC Bayern entschuldigen.
Als ich zum ersten Mal hörte, wir würden kein Visum für Deutschland erhalten, sondern könnten nur illegal dorthin kommen, begriff ich die volle Bedeutung der Illegalität, auf die wir zusteuerten, nicht. Meine Eltern waren in den nächsten Wochen damit beschäftigt, unsere Weiterreise zu organisieren. In Kabul waren sie mit dem einzigen Gedanken befasst gewesen, so schnell und so unauffällig wie nur möglich aus Afghanistan zu flüchten. Indien gehörte zu den ganz wenigen Ländern, die für besondere Fälle afghanischen Bürgern ein kurzfristiges Visum erteilten. Spätestens in Neu-Delhi dürften meine Eltern begriffen haben, dass sie Flüchtlinge waren und keine Auswanderer. Was uns unaufhörlich im Nacken saß, war die Unmöglichkeit, nach Kabul zurückzureisen. Mein Vater hätte das Land niemals verlassen dürfen, hatte er doch als Schulleiter ein öffentliches Amt inne. Bei allem Bemühen, nach Deutschland zu gelangen, mussten wir zugleich darauf achtgeben, nicht abgeschoben zu werden.
Was macht man nun, wenn man in Indien ist und illegal nach Deutschland einreisen möchte? Von einem Augenblick zum anderen befinden sich ehrliche Bürger mit ihrer ganzen Familie inmitten der Kriminalität. Bereits nach einer Woche kamen meine Eltern mit einem ehemaligen Schüler meines Vaters in Kontakt, der ein viel beachteter Mann geworden war: ein Schleuser. Ich erinnere mich an seine auffallend dünnen Beine, an seine braune Hose, an die feinen Gesichtszüge, seine klare, sanftmütige Stimme. Ziemlich untypisch für so einen Beruf schien er mir. Vertrauenswürdiger, vielleicht sogar »qualifizierter« wäre mir ein Charakter wie Luca Brasi erschienen, ein Mafia-Handlanger, jemand mit der unübersehbar brutalen Aura eines Berufsverbrechers.
Jedenfalls einigten sich meine Eltern mit dem Schleuser. Der Plan war, dass wir zunächst nach Moskau fliegen, zwei Wochen später nach Polen fahren und schließlich zu Fuß durch den Wald nach Deutschland laufen sollten. Das kostete pro Person mehrere Tausend Dollar. Das Geld...