Der erste Termin beim Osteopathen – Wie und was er untersucht und fragt
Der Anfang des Gesprächs wird Ihnen vertraut vorkommen: Sie berichten über Ihre Beschwerden, der Osteopath macht sich Notizen und beginnt dann mit der Anamnese, also den Fragen zu früheren Krankheiten, Unfällen und Operationen sowie Lebensgewohnheiten und Arbeitsbedingungen. Und da kann es schon schwierig werden, wenn der Osteopath etwa wissen will, ob Sie irgendwann in letzter Zeit einmal mit dem Fuß umgeknickt sind, ob Sie als Kind gestürzt sind oder was Ihnen Ihre Eltern über den Verlauf Ihrer Geburt erzählt haben.
Was hat das zum Beispiel mit den Schmerzen in der linken Schulter zu tun? Möglicherweise eine ganze Menge. Bereits geringfügige Verletzungen an Knochen, Muskeln und Geweben, wie sie zum Beispiel beim Hinfallen entstehen, können zu Störungen führen. Die meisten dieser Störungen kann der Organismus selbst »reparieren« oder ausgleichen: So werden zum Beispiel überanstrengte oder geschädigte Muskeln und Gelenke automatisch entlastet, und andere Körperteile übernehmen, soweit möglich, ihre Aufgaben.
Hält dieser Zustand über lange Zeit an und kommen vielleicht weitere Belastungen dazu, kann das dazu führen, daß plötzlich scheinbar unerklärliche Probleme der Gelenke, Muskeln oder inneren Organe auftreten. Würde sich der Osteopath jetzt nur um diese Beschwerden kümmern, wären sie bald wieder da. Eine dauerhafte Besserung ist nur möglich, wenn auch die Ursache gefunden und behandelt wird.
Die ersten Informationen über Ihren Gesundheitszustand haben Sie dem Osteopathen unbewußt schon beim Betreten des Sprechzimmers gegeben: durch Ihren Gang und Ihre Haltung. Stehen und gehen Sie vorwärtsgeneigt, oder kippt der Körper nach hinten? Ist eine Schulter leicht hochgezogen? Sind die Knie gerade oder durchgedrückt?
Solche Merkmale geben wichtige Hinweise, zum Beispiel auf eine angeborene Bindegewebsschwäche, eine asymmetrische Haltung oder übermäßige Beweglichkeit der Muskeln und Gelenke. Bei vielen Menschen ist ein Bein von Geburt an etwas verkürzt. Je nachdem, wie groß der Unterschied ist, kann es sein, daß sich diese Menschen etwas zur Seite neigen und damit das Körpergewicht verlagern.
Abb. 1 Behandlung des Schädels
Das wichtigste Mittel zur osteopathischen Diagnose ist die körperliche Untersuchung; die Patienten ziehen sich dafür bis auf die Unterwäsche aus. Aufschlußreich ist zum Beispiel der Zustand der Haut: Ist sie gut durchblutet oder blaß? Fühlt sie sich trocken an, ist sie angenehm kühl oder feuchtkalt? Wird sie an bestimmten Stellen plötzlich wärmer? Um solche Veränderungen festzustellen, sieht sich der Osteopath die Haut nicht nur an, sondern tastet sie auch sorgfältig ab. Sein wichtigstes Diagnosegerät sind die Hände. Während der Ausbildung wird auf das Palpieren, das Abtasten und Fühlen, großer Wert gelegt. Die Hände sollen lernen zu »sehen« und zu »hören«, sie sollen während der Untersuchung »Fragen stellen« und die »Antworten« verstehen, die der Körper des Patienten ihnen gibt – eine Fähigkeit, an der Osteopathen ihr Leben lang arbeiten. Zur Untersuchung gehört außerdem, die Beweglichkeit von Gelenken und Wirbeln zu überprüfen. Blockierte Wirbel werden behutsam wieder mobilisiert.
Auch mit dem Kopf wird sich der Osteopath ausführlich beschäftigen. Beim Palpieren Ihres Schädels ertastet er minimale, rhythmische Veränderungen der Schädelknochen. Dieser »kraniosakrale Rhythmus« wurde von dem Osteopathen William Garner Sutherland (1873 bis 1954) entdeckt (mehr dazu auf ? Seite 132). Er beeinflußt nicht nur den Schädel und das Gehirn, sondern den gesamten Organismus. Beim Palpieren von Organen, etwa des Magens, kann der Osteopath feststellen, ob das Organ verhärtet ist oder seine Lage, seine Beweglichkeit und seine Eigenbewegung verändert hat. Solche Störungen kann der Osteopath ebenfalls durch behutsames Berühren behandeln.
Osteopathische Ursachenforschung. Auch, wenn ein Fall ganz eindeutig zu sein scheint – manchmal liegt die Ursache dann doch ganz woanders. Die Osteopathin Anne Wales, die noch bei dem großen William Sutherland gelernt hat, wurde schon früh mit dieser Erkenntnis vertraut:
»Im Frühjahr 1952 wurde ein Zahnarzt zu mir geschickt. Sein Problem: Er konnte den Mund kaum noch öffnen, seit sein Sohn, ebenfalls Zahnarzt, ihm einen Backenzahn im linken Unterkiefer gezogen hatte.«
Anne Wales konnte sich das nicht erklären und fragte Dr. Sutherland um Rat. Er ließ sich den Fall genau schildern und kam zu dem Ergebnis, daß der Auslöser der Blockade auf der rechten Seite des Schädels liegen müsse. Wahrscheinlich sei das Schläfenbein auf der rechten Seite bereits vor der zahnärztlichen Behandlung in Rotation nach innen fixiert gewesen. Beim nächsten Termin mit dem Patienten ging Anne Wales der Sache auf den Grund:
»Ich fragte ihn, ob er sich jemals an der rechten Seite seines Kopfes verletzt oder gestoßen habe. ›Aber ja‹, sagte der Mann. ›Vor einiger Zeit habe ich einen Golfball an den Kopf bekommen, direkt hinter dem rechten Ohr.‹«
Die amerikanische Osteopathin Anne Wales, D.O., F.A.A.O., F.C.A. (zu den Abkürzungen siehe ? Seite 15f.) hat unter anderem das Buch »Teachings in the Science of Osteopathy« ihres Lehrers William G. Sutherland herausgegeben.
Dauer und Kosten einer osteopathischen Behandlung
Bei akuten Beschwerden, die nicht auf eine chronische Krankheit zurückzuführen sind, genügen oft zwei Termine im Abstand von etwa einer Woche. Bei chronischen, immer wiederkehrenden Leiden können sechs oder mehr Sitzungen notwendig sein. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten für osteopathische Behandlungen in der Regel nicht.
Üblich und angemessen ist zur Zeit ein Stundensatz von 60 bis 120 Euro. Wer die Behandlungskosten selbst tragen muß, wird zu Recht überlegen, ob er sich das leisten kann und leisten möchte.
Grundsätzlich ist die Osteopathie jedoch eine »preiswerte« Medizin. Sie verstärkt schulmedizinische Therapien in ihrer positiven Wirkung, so daß der Behandlungserfolg schneller eintritt. Bei vielen Beschwerden und Krankheiten kann sie Medikamente ganz oder teilweise ersetzen; häufig ist sie eine sinnvolle Alternative zu einem schulmedizinischen Eingriff. Wichtiger Bestandteil der osteopathischen Lehre und Praxis ist auch die Vorbeugung von Krankheiten. Osteopathen beziehen die Eigenverantwortung jedes Menschen für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden in die Behandlung ein.
So erkennen Sie einen guten Osteopathen
In Deutschland ist der Beruf des Osteopathen gesetzlich bisher nicht anerkannt, und die Bezeichnung ist folglich nicht geschützt. Schlimmstenfalls können sich sogar Laien, die lediglich einige Wochenendkurse besucht haben, »Osteopathen« nennen. Inzwischen gibt es aber auch in Deutschland mehrere Berufsverbände und Fachgesellschaften für Osteopathie, deren Mitglieder festgeschriebene Qualitätsstandards erfüllen.
So wird zum Beispiel die Bezeichnung D.O. (Diplomate of Osteopathy) von Ärzten, Physiotherapeuten und Heilpraktikern geführt, die im Anschluß an eine mehrjährige (meist berufsbegleitende) Ausbildung in der Osteopathie eine Diplomarbeit eingereicht haben. Die zusätzliche Abkürzung M.R.O. bedeutet, daß der Osteopath oder die Osteopathin im Register der Osteopathen Deutschlands eingetragen ist. Alle Verbände (die Anschriften finden Sie auf ? Seite 185f.) verschicken auf Anfrage Adressenlisten ihrer Mitglieder.
Amerikanische Fachgesellschaften vergeben an einige wenige, herausragende Mitglieder die Auszeichnungen F.A.A.O. (Fellow of the American Osteopathic Association) oder F.C.A. (Fellow of the Cranial Association). Ein qualifizierter, souveräner Behandler wird Ihnen gern über seine Ausbildung Auskunft geben – scheuen Sie sich nicht, beim ersten Termin danach zu fragen.
Ob Sie bei einer Osteopathin oder einem Osteopathen im Wortsinn »in guten Händen« sind, können aber letztlich nur Sie selbst beurteilen. Ein Titel, ein Diplom an der Wand, breites Fachwissen, langjährige Erfahrung sind wenig wert, wenn Sie nicht auch das Gefühl haben: Dieser Therapeut ist offen für seine Patienten, er nimmt sie ernst, er ist während der Behandlung ganz für sie da, er ist mir sympathisch – ich kann mit ihm arbeiten. Sie sind ja gekommen, weil Sie wieder gesund werden wollen. Das bedeutet Arbeit. Ein guter Osteopath wird Sie dabei nach bestem Wissen unterstützen. Er wird Ihnen keine Wunder versprechen, sondern mit seiner Behandlung den natürlichen Selbstheilungskräften des Organismus genau den Impuls geben, den sie brauchen, um die Störung aus eigener Kraft zu beseitigen.
Der Organismus erzählt die ganze Geschichte. Die Begegnung eines Menschen mit der Osteopathie, geschildert von dem Osteopathen Franz Buset:
»Einen Patienten zu verstehen, das ist ein Prozeß in einer Reihe von Etappen, und es kommt vor, daß die eine der anderen widerspricht. Der erste Kontakt findet im allgemeinen am Telefon statt. Dieses Gespräch gibt dem Osteopathen eine Vorstellung, wie dringend die Behandlung ist, unter welchem Leidensdruck der Patient steht, in welcher seelischen Verfassung er sich befindet. Dann kommt der Moment des ersten »körperlichen« Kontakts, der erste Blick, das erste Lächeln, der erste Händedruck.
Erst dann beginnt die wirkliche Begegnung: Die ersten Worte werden gewechselt, der Patient vertraut sich an, nicht sofort, einige tun es widerwillig, sparen das eine oder andere aus. Manche sprechen viel und sehr schnell, um auch alles...