Alles hat seine Zeit oder Die angespannte Apathie
Wustrow, die Geisterinsel mit militärischer Vergangenheit: Beobachtungen in einem Kulturschutzgebiet an der Ostsee
Von Mark Siemons
Wustrow ist eine verbotene Insel. Über die schmale Düne, die sie mit dem Festland verbindet, ist kein Durchkommen. Im halbverfallenen grauen Wärterhäuschen neben dem Schlagbaum sitzen Tag und Nacht die Männer des »Sicherheitsdienstes« und passen auf, dass niemand sich an der Absperrung oder am Stacheldraht unten am Strand vorbeimogelt. »Zutritt verboten!« und »Lebensgefahr!« drohen die Schilder und, als ob das noch nicht genügte: »Bissiger Hund!« Die Insel Wustrow, gut dreißig Kilometer westlich von Rostock gelegen, wird man auf der Karte der Urlaubsziele in Mecklenburg-Vorpommern vergeblich suchen; perfekt wird die Tarnung dadurch, dass es auf der Halbinsel Darß ein anderes Wustrow gibt, das ein durchaus populäres Seebad in der Nähe von Ahrenshoop ist. Wustrow, die Insel, dagegen existiert eigentlich nicht, noch nicht.
Bis zum 18. Oktober 1993 existierte Wustrow nicht, weil es der Übungsstandort einer sowjetischen Garnison war und damit unter die militärische Geheimhaltung fiel. Heute existiert es nicht, weil es eine Immobilie von gigantischem Investitionsvolumen ist und damit unter die Diskretionsgebote der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft in Rostock fällt. In der ganzen Welt ist die Halbinsel im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland zum Verkauf ausgeschrieben worden: »Catch Your Island«, lautete der Lockruf. Von mehr als fünfhundert Interessenten sind drei mögliche Investoren aus Deutschland übriggeblieben, aber bislang hat keiner den Zuschlag bekommen. Die anliegende Stadt Rerik, das Land und der Bund stehen samt ihren zugehörigen Gremien noch in Verhandlung mit den in Frage kommenden Unternehmen, mit keinem darf man es sich verderben. Deshalb bekommt der junge Bürgermeister von Rerik jedes Mal ein nervöses Flackern im Auge, wenn er um Auskunft gebeten wird. Man hat seine Erfahrungen mit der westdeutschen Öffentlichkeit gemacht und ist lieber ein bisschen vorsichtig.
Die gesamte Ostseeküste ist wieder ein Politikum, wenn auch aus anderen Gründen als zu DDR-Zeiten. Damals war das Gebiet eine Sicherheitszone, der Fremdenverkehr wurde entsprechend sorgsam durch die Massenorganisationen reguliert und kanalisiert. Die Teile der Bevölkerung, die für diesen Betrieb nicht gebraucht wurden, kamen zu Lohn und Brot durch phantasievoll ausgedachte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Heute ist dies ein Grund für die hohen Arbeitslosenzahlen in Mecklenburg-Vorpommern, das seine Chance jetzt vor allem im Tourismus sieht. Um die besten Plätze an der Küste und deren Gestaltung entbrannte ein heftiger Verteilungskampf. Die Einheimischen sind hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf rasche Zuwachsraten und der Angst vor dem Ausverkauf, davor, das eigene Land bald nicht mehr wiedererkennen zu können. Nur wenige Kilometer östlich von Wustrow finden sich zwei auf gegensätzliche Weise warnende Beispiele. In Kühlungsborn wird die Bettenkapazität trotz bisher mangelhafter Auslastung mehr als verdoppelt, was voraussehbar zu einem Preiskampf und damit zu einem die bisherigen Dimensionen energisch sprengenden Massenbetrieb führen wird. Heiligendamm dagegen, das älteste deutsche Seebad, wird vom Herbst an von der Kölner Immobiliengruppe Fundus zu einer exklusiven und teuren Adresse umgestaltet, das sich die frühere Klientel kaum mehr wird leisten können. Rerik, die Stadt bei Wustrow, wartet nun in angespannter Apathie, was auf ihre Insel zukommen mag.
Die einzige Möglichkeit, sich in Teilen des verlassenen Eilands umzusehen, sind vorerst die Führungen, die die Kurverwaltung jeden Mittwoch und am Wochenende veranstaltet. Mehr als hundert Leute sammeln sich am Schlagbaum, überwiegend junge Familien in kurzen Hosen, aber auch Ältere, die die Insel noch als Kinder kannten, bevor sie Sperrgebiet wurde. »47 mussten wir hier raus«, vertraut eine Frau mit Dackel im Einkaufskorb dem dicken Wachmann am Tor an. Sie macht einen einigermaßen aufgeregten Eindruck. Wir sind alle aufgeregt.
Kaum haben wir die Absperrung hinter uns gelassen, werden unsere Schritte auf dem Kopfsteinpflaster fast schwerelos. Wir bewegen uns wie auf dem Mond, wie auf einem noch unerforschten Territorium voll ungeahnter Schätze. Wo gibt es das schon noch in Deutschland, dass ein Fleckchen Erde nicht bis ins letzte vermessen, verplant und vermarktet ist? Ausgerechnet seine militärische Nutzung hat Wustrow vor der flächendeckenden Durchkalkulation bewahrt, die die Orte der Bundesrepublik sonst so voraussehbar und prosaisch macht. Der Natur sind die Flak-Übungen, die hier stattfanden, gewiss nicht gut bekommen, der Kultur im Sinne einer nicht auf ihre touristische Wirkung berechneten Landschaftsgestaltung dagegen schon. Wustrow in seinem jetzigen Zustand ist eine Art Kulturschutzgebiet. Aber natürlich nicht mehr lange.
Der Weg wird nach einem Kilometer zu einer von hohen Pappeln gesäumten Allee. Wir betreten die von der Roten Armee verlassene Geisterstadt, die schon in den dreißiger Jahren im Auftrag der deutschen Wehrmacht errichtet worden war. Links und rechts der Straße stehen einstöckige Mehrfamilienhäuser mit Gärten voller Apfelbäume. Wo nicht die Rollläden heruntergelassen sind, sind die Fensterscheiben zerbrochen. Es sind insgesamt 72 solcher Wohnhäuser, die meisten für jeweils fünf Familien, die diese »Gartenstadt« bilden. Am 17. Februar 1933, also nur wenige Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, kaufte die Wehrmacht die Insel als Übungsplatz für eine neu geschaffene Flakartillerie-Einheit. Im vorderen Teil Wustrows wurde für die Zivilangestellten und die Familien der Offiziere die Gartenstadt errichtet. Im hinteren Teil entstand innerhalb weniger Jahre ein Militärkomplex mit insgesamt 314 Bauten: Kasernen, Wirtschaftsgebäuden, Werkstätten, ein Exerzierplatz und eine Schwimmhalle, die auch von der Zivilbevölkerung benutzt werden konnte. Gemäß den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens wurden die militärischen Anlagen samt Schwimmhalle 1945, nachdem die Insel kampflos an die Rote Armee gefallen war, gesprengt. Der hintere Teil der Insel wurde zur Besiedelung freigegeben. Doch schon 1949 rückten wieder Militärs ein. Die sowjetischen Truppen richteten sich häuslich ein und schlossen die Insel vor der Außenwelt ab.
Da die Offiziere ihre Familien mitgebracht hatten, war Wustrow eine eigene Stadt für sich – mit Postamt und der Volksschule und einem ehemaligen Kino, aus dem das »Haus der Kultur« wurde, in dem Komsomolzentreffen und Tage der deutsch-sowjetischen Freundschaft stattfanden. Spontane Verbrüderungen waren nicht gestattet, doch die russischen Offiziere gehörten mit ihren Frauen zum normalen Stadtbild von Rerik. Über sie lief wohl auch der rege Handel mit Benzin, Zigaretten und Wodka. Ganz offiziell wurden dagegen Hilfseinsätze der Armee zum Schneeschippen abgemacht. Zwischen 1990 und 1992 wurden zu Weihnachten in Rerik Paketaktionen für die russischen Kinder organisiert. Das Gras steht meterhoch zwischen den Gebäuden. Neben dem Kindergarten überwuchert es fast die Rutsche und die Schaukel, die auf dem Spielplatz stehen.
Die ursprüngliche Kommandantur mit einem Vorhaus und einer Terrasse aus Feldstein wurde bei den Sowjets zum Gästehaus; nur hier sind die Fensterscheiben noch unbeschädigt. Neben dem früheren Lebensmittellager steht ein kleiner Wachturm, von dem aus wohl nächtliche Diebe gestellt werden sollten. Eine Straßenlaterne liegt eingeknickt und aus ihrer Verankerung gerissen neben dem Weg. Offenbar sollte sie in die Heimat transportiert werden. Die Soldaten, die in eine ungewisse Zukunft zurückkehrten, hatten versucht, von Installationen bis zu Gehwegplatten möglichst viel mitzunehmen, als eine Art Lebensversicherung.
Wustrow hat eine Länge von zehn Kilometern und eine Breite von durchschnittlich zwei Kilometern, so dass man immer wieder zwischen Häusern und Bäumen einen Blick auf das Meer erhaschen kann. Am ehemaligen Hafen, den vornehmlich Patrouillenboote anliefen, sitzen bedrohlich ein paar Kormorane auf den rostigen Eisenbalken. Im hinteren Teil der Insel, der heute Naturschutzgebiet ist, fanden Ornithologen Vogelarten, die im übrigen Europa schon ausgestorben sind. Ansonsten ist die Natur von der Begegnung mit der menschlichen Zivilisation nicht unbeeindruckt geblieben. 250 Katzen sollen nach dem Abzug der Russen über die Insel gestreunt sein, von denen freilich nur die zähesten überlebt haben dürften. Unbekannt ist auch die Anzahl der Wildschweine. Die Schätzungen gehen von zweihundert bis fünfhundert Exemplaren aus. Viele davon, die Kreuzungen mit russischen Hausschweinen entstammen, sind schwarz-weiß gestreift.
Aus dem früheren Trauerhaus neben dem Lazarett wurde später eine Turnhalle mit Basketball-Vorrichtungen. Auf eine Mauer davor ist in leuchtend bunten Farben ein Kriegsschiff der baltischen Flotte gemalt. An die Wohnhäuser der Gartenstadt schließen sich die Baracken der Mannschaften an. Geht man noch einen Kilometer weiter, gelangt man an die Ruine des Gutshauses. Vermutlich gab es seit Anfang des 14. Jahrhunderts einen Bauernhof auf Wustrow. Gemäß den erhaltenen Urkunden war er zunächst im Besitz der Familie von Moltke, später derer von Oertzen. Unter diesem Geschlecht soll Wustrow eine besondere Blüte erlebt haben. 1524 wurde Matthias von Oertzen in den Ritterstand erhoben und damit zum letzten Ritter Mecklenburgs. Doch archäologische Funde deuten darauf hin, dass die Gegend schon vor Jahrtausenden besiedelt war. Im Schweriner Verlag »Stock & Stein« ist eine Broschüre über Wustrow von Alexander Schacht erschienen, die den...