DER MANN UND SEINE ZEIT
In der von Konkurrenzneid zerfressenen Adelsgesellschaft des Hochmittelalters hatte der Bischof Otto von Freising niemals ein entsprechendes Problem. Dort, wohin andere neidvoll aufblickten, war er durch Geburt schon angekommen: Enkel Kaiser Heinrichs IV. und Neffe Kaiser Heinrichs V., Halbbruder König Konrads III. und Onkel Kaiser Friedrich Barbarossas, Bruder zweier Herzöge von Bayern und eines Bischofs von Passau, Schwager des Herzogs von Böhmen und einer Nichte Kaiser Manuels I. von Byzanz. Man hatte ihn für ein hohes Amt in der Reichskirche bestimmt, aber er wehrte sich lange dagegen, letztlich erfolglos.
Wehrlos gegen moderne Mißdeutungen hinterließ er auch seine Werke, «Die Geschichte der zwei Staaten» und «Die Taten Kaiser Friedrichs», das erste angeblich eine geschichtstheologisch bestimmte Universalchronik mit pessimistischer Tendenz, das zweite ein vermeintlich so hoffnungsfroher Lobpreis der durch Barbarossa eingeleiteten Zeitenwende, daß der Autor den Widerspruch zwischen beiden Konzeptionen ungelöst habe stehenlassen müssen. Dennoch sei er nicht nur ein großer Historiograph gewesen, sondern auch ein dem Sinn des Geschehens unermüdlich nachspürender bedeutender Geschichtsphilosoph. Eine genaue Lektüre der Texte zeigt freilich, daß von beidem keine Rede sein kann. Otto suchte nicht nach dem Sinn der Geschichte, denn er kannte ihn schon und hatte längst anthropologische Begründungen dafür, als er auf Bitten eines Freundes daranging, dieses Wissen am Objekt empirisch und im einzelnen anschaulich zu demonstrieren. Er schrieb demnach nicht Geschichte, sondern bemächtigte sich des historischen Materials für die Erläuterung einer philosophischen Theorie. Wir werden das im einzelnen noch sehen und dabei feststellen, daß auch das Buch von den Taten Kaiser Friedrichs nicht historiographischen Neigungen des Autors entsprungen ist, sondern der in Todesgewißheit gesteigerten Sorge um seine einzige irdische Geliebte, seine Freisinger Kirche, die er schutzlos zurücklassen würde und dem Wohlwollen des Kaisers empfehlen mußte.
Beide Bücher antworteten auf klare Einsicht in die komplexe Struktur von Welt und Gesellschaft mit ihren zutiefst widersprüchlichen Forderungen an den kontemplativen Geist in hoher politischer Position. Das Reich, zu dessen fürstlicher Elite Otto gehörte, trieb einer Legitimitätskrise entgegen, denn in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erlebte das lateinische Europa einen intellektuellen, spirituellen und mentalen Umbruch, wie es ihn seit der christlichen Spätantike nicht mehr gegeben hatte. Er brachte Zweifel an den geltenden Traditionen und Autoritäten des Glaubens, des Rechts, der politischen und gesellschaftlichen Ordnung mit sich, ein deutliches Bewußtsein von Unsicherheit und Inkohärenz der Fundamente vertrauter Überzeugungen. Dieser irritierende Prozeß hatte in der Mitte des 11. Jahrhunderts mit der Frage begonnen, welche Bedeutung im Hinblick auf das Begreifen Gottes, der Trinität und der zentralen Heilswahrheiten dem Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch als der wichtigsten logischen Regel zukäme, ob die durch Boethius vermittelte aristotelische Dialektik, also die formale Logik, auf die Glaubenswahrheiten anwendbar sei oder nicht. Daraus entwickelte sich eine breite öffentliche Debatte mit erheblichen politischen Implikationen, ein zerklüftetes Massiv von Kontroversen, die immer weitere Kreise um das Verhältnis von Autorität und Dialektik, kirchlichem Lehramt und autonomer Vernunft zogen. Parallel dazu und mit der philosophischen Frage ebenso vielfältig wie kompliziert verbunden, entfalteten sich dynamische Programme zur Neudefinition und Neuordnung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt, zur Reinigung der kirchlichen Hierarchie von säkularen Mißbräuchen und zur Erneuerung der Christenheit. Die Konsequenzen dieser Bewegung werden etwas irreführend als «Kirchenreform» und in Deutschland, auf ihr machtpolitisches Segment verkürzt, als «Investiturstreit» bezeichnet.
In jener Umbruchzeit kam der künftige Bischof Otto von Freising als sehr junger Mann 1126 zum Studium nach Paris und blieb dort sechs Jahre – bemerkenswert lange für die Verhältnisse eines auswärtigen Scholaren. Den Abkömmling des salischen Kaiserhauses tangierte die von Papst Gregor VII. und seinen Nachfolgern betriebene Zerstörung der bisher als gottgewollt geltenden politischen Ordnung persönlich, und er war intelligent genug, um in Paris als dem neuen Zentrum der Wissenschaft mit seinen ungewöhnlichen Formen des Studiums zu begreifen, wie das traditionelle Gebäude der sicheren Glaubenswahrheiten samt den Methoden ihrer Vermittlung unter dem Druck vernunftgeleiteter Forschung in die Defensive geriet. Er wurde zum lebhaft interessierten Beobachter eines nur mit den Mitteln der Vernunft, sola ratione, geführten Kampfes um die Erkenntnis der Glaubenswahrheiten und erlebte in der intellektuellen Hauptstadt Europas den zweiten, am Ende trotz erbitterter Widerstände abermals gelungenen Versuch, mächtige philosophische Impulse der heidnischen Antike in das christliche System zu integrieren.
Die neuen hohen Schulen förderten diese Integration nicht zum wenigsten durch die optimistische Annahme, man könne Lücken des Verstehens vollständig schließen und verbleibende Widersprüche komplett beseitigen; diese Hoffnung lebte ihrerseits aus einem kohärenten Verständnis von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, das Quellen, Methoden und Ziele des Denkens prägte und durch die Sakramente auch das Individuum betraf. Zum ersten Mal war man mittels Textanalyse und Kommentar, durch methodisch kontrollierte Fragestellung und Systematisierung der Ergebnisse auf dem Weg zu einer konsensfähigen Ordnung des bislang unkoordinierten Erbes der antiken Geisteswelt, und damit wandelte sich zwischen 1100 und 1160 das gesamte intellektuelle Profil der westlichen Christenheit: «Wissen» war fortan nicht mehr einfach ein Fundus an Gelehrsamkeit, sondern Wissen entfaltete sich in einem Prozeß, dessen Ziel es war, die gefallene Menschheit wieder in jenen Stand vollkommener Kenntnis zu versetzen, den sie im Moment der Schöpfung besessen, aber in den Jahrhunderten zwischen Vertreibung aus dem Paradies und der Sintflut verloren hatte. Durch die Propheten und durch antike Gelehrte war dieses Wissen teilweise wiederentdeckt, aber seit den barbarischen Einbrüchen des 5. Jahrhunderts und der folgenden Zeit bis zum 11. Jahrhundert aufs neue geschädigt worden, so daß seit etwa 1050 durch systematisches Studium der autoritativen antiken und patristischen Texte ein zweites Werk der Rekonstruktion in Gang gesetzt werden mußte, damit Gott, die Natur und die menschliche Lebensführung so erkannt werden konnten, daß die Erlösung gefördert wurde. Dieses rational-wissenschaftliche Programm verfolgten die Schulen mit großer Energie und mit einer Zuversicht, die dem Philosophen das Monopol auf Weisheit zuerkannte: »Nur der Philosoph ist weise», hieß es schließlich bei Theodorich von Chartres, nullus igitur sapiens nisi phylosophus. Das damit verbundene und von gewerbetreibenden Lehrern gegen Honorar angebotene Studium war darüber hinaus nützlich für Karrieren, für die Vorbereitung auf weitergehende Beschäftigung mit den Gesetzen einer organisierten Gesellschaft, wie sie im Corpus Iuris Civilis entdeckt wurden, oder für die strukturelle Verbesserung des kirchlichen Lebens mit Hilfe von kanonischem Recht, Dekretalen und kurialer Bürokratie. Neben der philosophischen, und ihr vielfältig verbunden, wirkte eine Revolution von Recht und Rechtsdenken.
Wegen dieser Pragmatik war Otto nach Paris geschickt worden, aber er entdeckte dort den philosophischen Kern des gelehrten Betriebes und hat nach eigenem Zeugnis einen langen Reflexionsprozeß durchlaufen, an dessen Ende der Entschluß zur weitgehenden Distanz von den praktischen Forderungen des Tages stand: «Oft habe ich lange hin und her gesonnen über den Wandel und die Unbeständigkeit der irdischen Dinge, ihren wechselvollen, ungeordneten Verlauf, und wie ich bedenke, daß der Weise keinesfalls sein Herz an sie hängen soll, so finde ich durch vernünftige Überlegung, daß man über sie hinwegschreitend sich von ihnen lösen müsse.» Das darf nicht als geistliche, topisch-routinierte Weltverachtungsrhetorik mißverstanden werden, denn Otto hat sich intensiv und kritisch mit der allgemeinen Zeitgeschichte und der seiner eigenen Familie auseinandergesetzt. «Wir aber … lesen von den Mühsalen der Sterblichen nicht nur in ihren Schriften, sondern spüren sie infolge der Erfahrungen aus unserer Zeit in uns selbst.» Zu diesen Erfahrungen gehörte das fragwürdige Verhalten seines Vaters inmitten der vom Aufstiegskampf diktierten Parteiwechsel und Loyalitätsbrüche der Mächtigen, an denen man erkennen könne, «wie die Welt durch ihr Tun nur sonnenklar die Verachtung ihrer selbst erzeugt». Damit stand sein Lebensthema fest: Der verdorbene Zustand der Welt. Ihn wollte er als Leitmotiv aller Epochen nachweisen und mußte dafür zunächst eine literarische Darstellungsform suchen. Ein...