Es begann ungefähr im einundvierzigsten Altersjahr. Akademische Schreibweise gewohnt, hatte ich den Eindruck, dass der Schwung in der Schrift verändert war. Es war eine subjektive Wahrnehmung, objektiv war es für den Hausarzt weder von Auge noch im Schriftbild nachvollziehbar. Ein halbes Jahr später, eine Bekannte war unerwartet an einem Gehirntumor verstorben, verlangte ich die Abklärung. Ein erster Neurologe fand nichts, sprach von Schreibkrampf[2] und einer Ursache in der Hirnrinde. Der nächste, ein Jahr später, fand auch noch nichts Konkretes, verwies mich aber wiederum ein Jahr später aufgrund nun doch objektiv fassbarer motorischer Einschränkungen[3] an einen auf Feinmotorik spezialisierten Kollegen. Dieser kam nun, im dritten Jahr der Störung, nach eingehender Untersuchung zu einer Annäherungs-Diagnose. Dabei blieb es vorerst für ein Jahr, in welchem die Schreibstörung nur leicht zunahm. Daraufhin kam der vierte Neurologe zusammen mit anderen Spezialisten zum Schluss, dass es sich um ein Parkinson-Syndrom handeln musste[4]. In den folgenden zwei Jahren verschlechterte sich sodann nicht nur zunehmend die Motorik bis zur praktischen Unfähigkeit zu schreiben, sondern die Einschränkung war nun auf der ganzen rechten Seite ausgeprägt und nicht mehr zu verbergen.
Die familiären Verhältnisse sind auffällig, weil ich mich aus der Kindheit nur an wenig erinnere[5], die Erinnerung wohl verdrängt habe. Mein Vater starb, als ich gerade elf Jahre alt war. Ich verbrachte die folgenden acht Jahre in einem Internat, einem humanistischen Gymnasium, mit Ordensleuten, allein unter vielen, als Einzelgänger. Mit meiner Mutter verband mich nicht viel. Ich hatte ihr Kontrollsystem mit anderen Strukturen ohne Individualität vertauscht und war froh, sie auf Distanz zu haben. Genug Raum für mich hatte ich schon als Kind nicht und was ich auch tat, richtig machen konnte ich es sowieso nicht. Meine schulischen Glanznoten waren bereits in der Primarschule nicht gut genug und auch in der Mittelschule anerkannte niemand meine Leistungen. Die erste Liebe war eine Enttäuschung, weil ich zu spät merkte, was da entstand, und sie nicht bereit war zu warten. Der erste Sex, viel später, war eine Katastrophe, weil keine Liebe uns verband. Jahre vergingen ohne Bindung, mit flüchtigen Beziehungen, ohne Emotionen[6], bis sie kam und zehn Jahre blieb. Liebe hielt uns zusammen, Angst[7] liess uns nicht zu nahe kommen und trieb uns immer wieder auseinander. Das Ende kam, nicht weil wir uns nicht mehr mochten, sondern weil es uns nicht gelungen war, die richtige Distanz zu finden.
In diese Zeit fielen auch akademische Leistungen, die ich aber vorerst beruflich nicht umsetzen konnte. Ich brauchte sie nur, um mir – und anderen[8] – zu beweisen, dass ich etwas konnte. Es kamen Jahre der Wissenschaft[9], der Irrtümer und der Einsamkeit. Als ich dann beruflich losliess, ging es blitzartig bergauf, machte mich noch viel einsamer. Mit der Angst vor menschlichen Konflikten liess sich aber auch die berufliche Leistung nicht halten. Der Bruch kam inmitten des ersten Erfolges. Ich zog mich in eine monatelange Depression zurück. Doch dass es eine Depression war, realisierte ich erst viel später.
Die folgende Phase war stets begleitet von mehr oder weniger lange dauernden Partnerschaften, welche jedoch immer daran scheiterten, dass ich emotional[10] nicht das bieten konnte, was die Partnerinnen – zu Recht – von mir erwarteten. Beruflich ging es noch einmal aufgrund meiner professionellen Kompetenz bergauf. Am Ende standen aber die Unfähigkeit, mich den menschlichen Erfordernissen stellen zu können. Was vorher offenbar mit grösstem Erfolg verdrängt war, brach durch: Angst und Scham.
Diese - etwas ungewöhnliche - Anamnese ist natürlich etwas später entstanden mit etwas mehr Einsicht in das Geschehen. Und so nüchtern, wie sich diese Darstellung präsentiert, ist die Erfahrungswirklichkeit auch nicht. Aber sie widerspiegelt den damaligen Zustand der Trennung von emotionaler und rationaler Wahrnehmung[11]. Ich war vorerst nur Beobachter. Zeitlich stehen wir damit im Jahre 1995, am 4. Dezember 1995 ganz genau, am Anfang einer persönlichen Erfahrung sowie einer Auseinandersetzung mit einer Krankheit, welche nach wie vor als unheilbar gilt, ja von welcher letztlich nicht einmal die Ursache bekannt ist: die idiopathische Parkinson-Krankheit.
Ich war mit einem psychischen und vor allem physischen Zusammenbruch plötzlich arbeitsunfähig geworden. Innert kurzer Zeit verwandelte ich mich in einen hilflosen Menschen und war mit einer Krankheit konfrontiert, welche ich so nicht akzeptieren mochte. Mein Aufbäumen war rational, meine Ansätze weitgehend intuitiv, aber sie gaben mir damals die Kontrolle über ein Geschehen[12], welches ich wohl nicht so leicht überstanden hätte, wenn ich den Schmerz hätte zulassen können.
Ich habe meine Geschichte unter dem Titel „Erlernter – verlernter Parkinson, Meine Heilung des Parkinson-Syndroms begann da, wo die Krankheit sitzt: im Kopf“ angefangen zu schreiben, was irgendwie den langsamen Prozess widerspiegelte, welcher auch wirklich dahinter stand und steht. Es war ein Lernprozess – und natürlich ein Suchprozess. Ich lernte, auf den Körper zu hören und ich lernte, seine Sprache zu sprechen und nicht nur jene verstandesmässige, welche so viel Distanz zur Umwelt schafft und vor allem zu sich selbst.
Auf den Titel mit der Emotion brachte mich am 24. April 2004 mein Freund und Neurologe Rafael González Maldonado, ein profunder Kenner der Parkinson-Krankheit, anlässlich eines Abendessens in Madrid.[13] Er schlug „A la recherche de mon dopamine perdue“[14] (und zwar in französischer Sprache) vor, was den Bezug der Emotionen zu den endokrinologischen Prozessen herstellen sollte. Wir haben über den „Kampf“ mit der Krankheit und von deren „Überwindung“ gesprochen, was uns aber als zu wenig ermutigende Begriffe erschienen. Man müsse den Blick von der Krankheit und deren Ursachen ab- und hin auf eine bessere Zukunft wenden, meinte Rafael González. Der Blick zurück blockiere, die Suche nach der Lösung führe weiter. Der Titel sei auch gleichzeitig eine Diagnose, meinte er schliesslich beiläufig auf dem Weg zum Hotel.
Die Reise, von welcher ich hier berichten will, führt den Leser oder die Leserin vorerst auf den Weg meiner Suche nach einer Erklärung für das, was mir zugestossen war. Das war zwar der Blick zurück, welcher aber nicht unbedingt nutzlos sein musste. Ich stellte dabei vor allem fest, dass nicht nur Angst eine Rolle spielte, sondern auch Scham[15] und vor allem Hilflosigkeit involviert waren. Anschliessend kam eine Phase, in welcher ich versuchte, meine psychologischen Erkenntnisse in neurochemischen Prozessen zu erklären. Rafael González hat mich jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht einmal die Spezialisten wirklich wissen, was da genau im Hirn endokrinologisch und physiologisch vor sich geht. Schliesslich geht daher die Reise über in die Suche nach einer Lösung, die Suche nach der „verlorenen Wut“ oder eben die Suche nach der Angst, welche das Erleben der Emotionen verdrängt hat[16].
Ich muss vorweg klar machen, dass ich die Parkinson-Krankheit nicht als psychische Krankheit betrachte. Ich denke, dass sich bei dieser Krankheit vorhandene Prozesse, ein biologischer oder genetischer und ein emotionaler sowie ein kognitiver, überlagern. Ich bin überzeugt, dass der psychologische Prozess emotionale, kognitive und allenfalls noch weitere Aspekte einschliesst und Ausmass sowie Progression der Symptome beeinflusst. Ich bin aber auch ziemlich sicher, dass ein biologischer oder genetischer Faktor die Prädisposition für eine Verletzlichkeit schafft, weshalb die Veränderung der emotionalen Parameter einen entscheidenden Einfluss auf die Krankheit haben müsste[17].
Ich lege mit diesem Buch einen sehr persönlichen Bericht vor. Ich habe mit dessen Publikation lange gezögert, habe ihn umgeschrieben, Kapitel gestrichen und neue hinzugefügt. Am Ende komme ich jedoch auf das zurück, was ich als meine Krankheit erlebt habe oder was von dieser geprägt war und immer noch ist. Und das ist im wesentlichen meine Biographie der letzten 20 Jahre.
Die Reise, welche ich hier beschreibe, begann aber nicht erst 1995 bei meinem Zusammenbruch, sondern hatte schon einige Jahre früher angefangen. Nämlich ganz genau an einem grauen Morgen im November 1990.
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