Zur Einstimmung
Die Briefe des Apostels Paulus werden als Teil der von den christlichen Kirchen für kanonisch erklärten Heiligen Schriften im Gottesdienst öffentlich gelesen, gepredigt und von der Gemeinde weitergesungen (z.B. Paul Gerhardt zu Römer 8: EG 351). Sie wurden und werden aus diesem Grunde und zu diesem Zweck immer neu kommentiert.
Anders verhält es sich mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelforschung. Hier werden die Briefe, losgelöst aus ihrem gottesdienstlichen Sitz im Leben, Objekt kritischer Untersuchung mit dem Ziel, die Gedanken des Paulus, seine Theologie – falls sich aus den einzelnen Gedanken etwas Kohärentes herstellen lässt – im Kontext seiner Zeit zu rekonstruieren. Dabei ergibt sich von Anfang an eine Spannung, wenn nicht ein Widerspruch dieses Gedankenkonstrukts zu dem, was man hinter den Evangelienschriften über das Leben und die Verkündigung Jesu, den Paulus ja nicht persönlich gekannt hat, historisch erheben zu können meint. Natürlich kann man dann doch versuchen, mit verschiedenen Mitteln u. U. eine geistige Brücke zwischen Paulus und Jesus zu schlagen. In einer Zeit indes, in der die dogmatische Christologie verstärkt als problematisch empfunden wird und eine ‚Jesulogie‘ an ihre Stelle tritt, gilt Paulus in der kirchlichen Praxis gegenüber der vermeintlich einfachen Verkündigung Jesu als schwer verständlich, sein Denken oft als unzeitgemäß.
Für die um Vorurteilsfreiheit bemühte, gleichwohl immer interessengeleitete wissenschaftliche Beschäftigung mit Paulus bleibt, unbeschadet theologischer Grundsatzprobleme, genug Arbeit zur Aufklärung textlicher Detailprobleme und zur Einordnung der Briefe in einen als sinnvoll erscheinenden geistes- und religionsgeschichtlichen Zusammenhang.
Sollte ein Forscher des ‚trocknen Tons‘ bisweilen satt sein, so mag er sich an einem Paulus-Roman versuchen (David Trobisch), um seinem Gegenstand eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, was einem gelehrten Buch sonst kaum gelingt. Dabei dürfen sich Theologen, was Publizität angeht, hin und wieder auch philosophischer Konkurrenz erfreuen, falls sie, sei’s auch verärgert, erstaunt oder beschämt, wahrnehmen, welch leidenschaftliches Interesse Paulus als Denker außerhalb des routinierten kirchlichen und theologisch-akademischen Betriebs finden kann (z.B. Jacob Taubes, Giorgio Agamben). Auch der Recherche-geübte Journalist und Schriftsteller (Dieter Hildebrandt) erlaubt womöglich einen frischen Blick auf Paulus und sein Werk, worüber der Fachmann nicht gleich die Nase rümpfen sollte. Kurz: Wer sich mit Paulus beschäftigt, dem bietet sich eine Fülle von Möglichkeiten.
Eine Tatsache scheint mir bei der Paulus-Interpretation leicht unterschätzt zu werden. Die Briefe wollen laut gelesen, weil gehört werden, hat Paulus sie doch diktiert und zur öffentlichen Verlesung bestimmt. Solche Art des Lesens ergibt freilich noch keine schlüssige Methode. Dabei gebe ich zwei Aphorismen des theologisch beschlagenen Philosophen Hans Kudszus zu bedenken: „Bekommt das Denken ‚Angst vor der eigenen Courage‘, so flüchtet es in die Methode.“ Und: „Große Denker wissen mehr als sie sagen. Sie verraten sich durch die von ihnen verschwiegenen Gedanken, die der Interpret zur Sprache bringen muss.“
Den verschwiegenen Gedanken des Apostels, seinem das Sagen übersteigenden Wissen, dürfte streng methodisch kaum beizukommen sein. Es empfiehlt sich darum, Paulus nicht auf theologische Aussagen zu reduzieren, sondern ihn zuerst und zuletzt als biblischen Propheten (‚Prophet des Gottesreiches‘: Karl Barth) wahrzunehmen. Nicht das Gedachte, das schwarz auf weiß Geschriebene schon, das man getrost nach Hause tragen kann, kennzeichnet den Propheten, sondern ein die ganze Existenz beanspruchendes Denken, das den Bewegungen Gottes in der Zeit zu folgen versucht. Das Wort Gottes, das göttliche Tat-Wort, durch das sich der kommende Gott in der Geschichte vergegenwärtigt, ist niemals auszusagen. Es muss gerade als geschriebenes (5. Mose 31,19; Jes 8,16f.) nicht sofort verstanden werden (wie Paulus mit allen Propheten schmerzlich erfahren musste), sondern braucht Zeit, um zu seiner Zeit seine Kraft und Klarheit zu entfalten.
Es hat darum in der Geschichte der Kirche immer wieder besondere Augenblicke gegeben, in denen ausgerechnet das Wort des Paulus Menschen und Verhältnisse in Bewegung brachte, Feuer und Hammer (Jer 23,29), nicht nur aufbauend, sondern auch zerstörend. Strahlend und weltvernichtend erschien das paulinische Evangelium Marcion (Gal 1,1; 4,24ff.), von dem bis heute ein Schatten auf die Paulus-Rezeption der Kirche fällt, solange sie nicht, statt Marcion zu verketzern, den Mut hat, aus diesem Schatten herauszutreten. Licht und Schatten auch sonst, aber immer ein gewaltiger Stoß gegen das Bestehende: Augustins Lebenskehre (Röm 13,13f.), Luthers reformatorische Zeitenwende (Röm 3,21), Speners kirchenkritische Hoffnung besserer Zeiten (Röm 11,25f.), Kierkegaards Generalangriff auf die bestehende Christenheit (1. Kor 1,23), Barths Revolution Gottes (Röm 1,18).
Darf man auch für unsere Zeit einen solchen Kairos erwarten, in dem das prophetische Wort des Apostels, Anstoß und befreiende Kraft, aufs neue hörbar würde? Das muss dahingestellt bleiben. Das allgemeine kirchliche Gerede, das auch in der Anmaßung des ‚Prophetischen‘ nicht über moralisch-politische Allgemeinplätze hinauskommt, macht taub für das konkret ergehende prophetische Wort. Nötig wäre dann eine beständige Übung des Gehörs (womit nicht zufällig auf musikalischen Sinn angespielt wird), ein Lauschen auf den unverwechselbaren ‚Ton‘, die ‚Stimme‘, mit der sich der Herr der Herrlichkeit, der König seines Reiches, unter den Menschen zu erkennen gibt (1. Kön 19,12).
Wenn Paulus darunter leidet, dass er als Briefschreiber seine Stimme nicht wandeln kann (Gal 4,20), so ist solches Leiden unausweichlich für den, der diktierend und ‚mit großen Buchstaben‘ (Gal 6,11) schreibend, auf eins gestimmt ist: den EINEN Gott, das eine in der Schrift bezeugte Evangelium (Röm 1,2; 3,21; Gal 1,6–9), dessen himmlische Musik jetzt in aller Welt erklingt (Ps 19,5; Röm 10,18) für jeden, der darauf zu hören versteht (Gal 3,2).
Dabei geht es eben nicht um den Popanz der Allgemein-Verständlichkeit der Sprache Gottes, sondern um ihre Deutlichkeit. Weil das Wort Gottes die Kraft hat, kritisch zu scheiden und zu unterscheiden, darum müssen Flöte und Laute deutliche, d.h. unterscheidbare Töne hören lassen (1. Kor 14,7). Und die Posaune Gottes, der biblische Schofar, gibt das Signal, was unverwechselbar jetzt an der Zeit ist: das Amen der Gemeinde im Kampf um die Bewahrheitung des prophetischen Wortes, die Hoffnung darauf, dass Gott selbst im Augenblick der Versöhnung alles durch den Tod Getrennte sich in IHM wiederfinden lässt (Jes 27,13; 1. Thess 4,16; 1. Kor 14,8.16; 15,50–55; 2. Kor 1,20).
Der außerweltliche Ton des Schofar macht die Musik, der demjenigen ‚barbarisch‘ (1. Kor 14,11) erscheinen muss, dem im (selbst-)kritischen Hören nicht das Herz im gleichen Takt zu schlagen beginnt mit dem Herzen des Gottes Israels, der sich in der den Namen des messianischen Herrn Jesus anrufenden Versammlung aus Juden und Nichtjuden selbst vergegenwärtigt (1. Kor 1,2; 14,20–25), herzzerreißend und herzerhebend (1. Mose 22,16; vgl. Röm 8,32). Das Wunder der Übersetzung der fremden Sprache Gottes in ein Wort, das jeder als er selbst zu hören und zu sagen ermächtigt ist, macht das Wort gerade nicht zum Besitz; es bleibt das dem Hörenden von außen (hebräisch: Amen!) zukommende, dem Lobpreis Gottes und der Erbauung des Anderen geschuldet.
Was jeder gute Übersetzer weiß, dass nämlich das Beste an einer Übersetzung sich in ihrem Gespür für das Unübersetzbare zeigt, das sie vermittelt, wird für den heutigen Übersetzer der Worte des Paulus, der als Jude zu den Völkern gesandt wurde, zu einer ungleich radikaleren Herausforderung: Das von der siegreichen Weltkirche fraglos vereinnahmte Evangelium muss als umstrittenes jüdisches Evangelium dem Schweigen Gottes zurückerstattet werden, aus dem heraus es von Paulus in überwältigender Klarheit vernommen wurde. Zukunftsmusik für eine kommende Menschheit: „… was … kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist“ (1. Kor 2,9).
So lese ich die Briefe des Paulus kreuz und quer, zwischen den Zeilen und auch gegen den Strich, immer ganz Ohr nur für die Stimme des Einen in unzähligen Variationen. Mit Abraham Joshua Heschel könnte ich meine Arbeit als ‚Tiefentheologie‘ bezeichnen im Unterschied zu einer begrifflich abstrahierend und verallgemeinernd verfahrenden Theologie, die das Gesagte zu begreifen versucht, was eine ständig notwendige Aufgabe bleibt. Aber wenn Paulus von dem zu bewahrenden Schatz der Erkenntnis sagt, er habe ihn ‚in irdenen Gefäßen‘, dann zielt er auf ein Mehr, ein Überfließendes, Unerhörtes (2. Kor 4,6). „Theologie könnte man mit Bildhauerei vergleichen, Tiefentheologie mit Musik.“ (Heschel)
Unbeschadet der als wahrscheinlich anzunehmenden Chronologie der Briefe und möglicher Entwicklungen im Denken des Paulus versuche ich in diesem Buch seiner prophetischen Theo-Logik in drei Abschnitten nachzuspüren.
Ein Erster Teil skizziert die Aporie, die mit dem besonderen Apostolat des Paulus gegeben ist. Den als Mann der Schrift (I.), als Jude (II.) im Auftrag des Messias Jesus zu den Völkern Gesandten kann nur ein Tun Gottes legitimieren, was in der...