Der Wecker klingelt. Nein, er klingelt nicht. Er krakeelt, er schreit und bohrt sich schließlich mit aller Macht mit seinem elektronischen Gedudel gnadenlos in mein noch im Tiefschlaf befindliches Hirn. Schlaftrunken taste ich nach dem Knopf, um diese frühmorgendliche Tortur zu beenden. Auf dem Weg zur Erlösung landet meine Hand im Wasserglas, und die daneben liegenden Kopfschmerztabletten purzeln auf den Fußboden. Endlich Stille! Ich atme durch, genieße die Ruhe, durchsetzt von tiefen Atemzügen neben mir.
5:55 Uhr. Fünf Minuten noch. Die gebe ich mir immer, sozusagen als Bonus für dieses viel zu frühe Aufstehen. Damit habe ich das Gefühl, ich hätte ja noch Zeit. Zeit, mein System in Gang zu bringen und mich innerlich auf den Tag vorzubereiten. Sören neben mir kann noch liegen bleiben. Er ist Lehrer und muss heute erst zur dritten Stunde in die Schule. Glückspilz! Ich schließe die Augen, atme ruhig und tief und … Jäh wird mir klar, dass dieser Wecker, ein Geschenk meiner Schwiegereltern, ein Folterinstrument ist. Und er hat genau jetzt ausgedient! Aus! Vorbei! Seine Zeit ist abgelaufen! Wieso habe ich mich eigentlich von diesem Monstrum an so vielen Morgen foltern lassen? Mir wird bewusst, dass ich doch selbst entscheiden kann, wie und von wem – oder besser gesagt wovon – ich geweckt werden möchte. Bei diesen Gedanken schiele ich das Ding aus den Augenwinkeln an, gerade so, als ob ich mich auf einen weiteren Angriff von ihm wappnen müsste. Aber es schweigt. Besser so.
Die fünf Minuten sind um und ich schäle mich missmutig aus dem warmen Bett. Im Zimmer ist es kalt. Sören schläft gerne bei offenem Fenster. „Ist gesünder!“, sagt er immer, obwohl die Nächte gerade sehr frostig sind. Auf dem Weg ins Bad greife ich mir den Wecker, dieses Prunkstück in quietschgelb, poppig pink und froschgrün. Was haben sich seine Eltern nur dabei gedacht? Nur weil wir keine Kinder haben, brauchen wir doch als Ersatz kein Kinderspielzeug! Ich lasse den Wecker ohne Sentimentalitäten im Mülleimer des Badezimmers verschwinden. Vorbei ist vorbei!
Während die Dusche warmläuft, sinniere ich auf der Toilette weiter über eine Weckalternative. Sanft sollte sie sein. Meine Lust aufs Aufstehen wecken. Mich liebevoll und genüsslich aus dem Schlaf kitzeln. Mein empfindliches Gehör nicht schon am frühen Morgen in den totalen Reizgau katapultieren. Ich beschließe, noch gleich heute nach einem eierlegenden Wollmilchwecker zu suchen. Noch immer von Schlaf und der falschen Stunde zerknautscht steige ich in die Dusche, die zumindest mit ihrer wohligen Wärme für etwas Entspannung und eine leichten Verbesserung meiner Laune sorgt.
Wieder zurück im Schlafzimmer hebe ich die abgestürzten Kopfschmerztabletten auf und lege sie in die Schublade des Nachttischs. Es ärgert mich immer wieder, aber nach den stressigen Arbeitstagen in der Firma habe ich in letzter Zeit häufiger Kopfschmerzen. Sören meint, ich solle mich mal ordentlich durchchecken lassen, aber mir ist klar, dass es an dem ständig gestiegenen Druck in der Arbeit liegt. Die Speditionsfirma, bei der ich beschäftigt bin, hat im letzten Jahr stetig expandiert und mit ihr auch meine Arbeit. Für Werbung und weitere Fahrer reicht das Geld, nicht aber für eine weitere Sekretärin. Meine Laune sinkt bei diesen Gedanken prompt wieder, und mein Kopf beginnt zu schmerzen. Ich konzentriere mich auf meine Kleiderwahl: BH, Bluse – geblümt, gestreift, uni? –, Jeans – die graue oder besser die blaue? –, Pullover, nein besser den Blazer, heute steht eine Sitzung mit dem Chef an, Schaltuch und Schuhe. Ach herrje, welche Schuhe? Ich verschiebe die Wahl auf nach dem Frühstück.
In der Küche werfe ich die Kaffeemaschine an, peinlichst darauf achtend, dass die Türen zum Schlafzimmer und der Küche fest verschlossen sind. Sören ist immer sehr ungnädig, wenn er so früh durch mein Geklapper geweckt wird. Auch eine Art von Wecker, denke ich zynisch. Brot und Apfel aufgeschnitten, Butter und Aufschnitt großzügig verteilt. Eine Schnitte gibt es jetzt, die anderen beiden und den Apfel zur Frühstückspause um halb elf. Kauend schnell noch einen Schluck vom viel zu heißen Kaffee genommen, autsch!, alle Brote und die Apfelstückchen in der Dose in meiner Tasche verstaut, Handy gesucht, Mantel übergeworfen, Schlüssel gegriffen und die Wohnungstür leise geschlossen. Mist! Ich habe noch meine Hausschuhe an. Wieder zurück, die erstbesten Schuhe gegriffen, angezogen und wieder raus. Jetzt ist mir nicht vom Duschen warm.
Ich haste die Treppen herunter und eile im Laufschritt zur Bahn. Sie kommt nur einmal in der Stunde. Wenn ich spät komme, ergattere ich keinen Sitzplatz mehr, aber wenn ich zu spät komme, bekomme ich ein ernstes Problem im Büro. Ich bin diejenige, die ab acht Uhr mit freundlich-professioneller Säuselstimme alle Kunden willkommen heißt und sämtliche Aufträge und Fragen mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs beantwortet. Eigentlich mache ich das wirklich gerne, aber die Anspannung und der Druck der letzten Monate vergällt mir dies immer mehr.
Keuchend und trotz der Kälte mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn versehen, komme ich auf dem Bahndamm an, als die letzten Fahrgäste einsteigen. Das bedeutet fünfunddreißig Minuten stehen. Ich ärgere mich über mich selbst und steige gottergeben in den übervollen Zug ein.
Allein die Zugfahrt hat mich schon geschafft. Zu eng, zu viele Menschen und diese Gerüche! Wie können Menschen bereits so früh am Morgen schon so schlecht riechen? Mit flacher Atmung quetsche ich mich den Großteil der Fahrt an die Waggontür, um bei jedem Halt befreit nach Frischluft zu schnappen. Aber noch schlimmer sind die Menschen, die ihre natürlichen Ausdünstungen mit künstlichen Düften übertünchen, meist so stark, dass sich selbst noch Minuten nach ihrem Aussteigen der Geruch ihres Parfüms oder Rasierwassers in meine Nase heftet.
Ich suche den Büroschlüssel. Ich suche ihn jeden Arbeitstag, jedes Mal mit der Angst im Nacken, ich könnte ihn unbemerkt verloren haben. Allerdings habe ich noch nie in meinem Leben einen Schlüssel verloren. Es ist mein Perfektionismus, der mich da täglich foppt. Das Bürogebäude ist mit einem Sicherheitsschließsystem ausgestattet, und diese Verantwortung trage ich ständig als schwere Last mit mir. Meine Tasche hat so ihre Nischen, ich nenne sie liebevoll meine Schatzeckchen. Immer wenn ich es nicht brauche, finde ich Interessantes oder lang Verschollenes wieder, nur wenn ich suche, finde ich nichts.
Endlich entdecke ich den Schlüssel schön ordentlich in der inneren Seitentasche, um beim Öffnen der Tür festzustellen, dass sie bereits entriegelt ist. Schnaubend stopfe ich meinen Schlüssel wieder in die Tasche und betrete das Haus. Hinauf in den dritten Stock, den Gang mit den flackernden Neonröhren und dem muffigen Teppichboden entlang bis zur vorletzten Tür. Sie steht offen, ich trete ein.
Das Büro unserer Spedition ist eine Raumflucht. Raum an Raum, nur der erste und der letzte Raum sind keine Durchgangszimmer. Das eine Ende ist der Rechenstelle vorbehalten, das andere dem Chef. Ich sitze, ganz meiner Funktion entsprechend, in der Mitte, in dem Raum mit der Eingangstür, die so einladend offen steht. Warum steht sie um diese Zeit eigentlich offen?
Wie gewohnt lege ich die Tasche auf meinen Schreibtisch und hänge meinen Mantel an die Garderobe. Wer ist eigentlich schon hier? Wer hat die Tür aufgeschlossen? Ein kurzer Blick zum Schloss bestätigt mir, dass es wohl keine Einbrecher gewesen sind. Ich werde gleich nachsehen, aber zuerst höre ich den Anrufbeantworter ab, um zu sehen, ob es irgendwelche Notfälle gibt.
Aufgeschreckt durch das Geräusch der gequetschten Stimmen vom Band steckt plötzlich Frau Platzek, die Frau des Firmenleiters, den Kopf um die Ecke. „Guten Morgen, Frau S., ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Ich wollte nur schnell ein paar Sachen aus dem Büro holen, weil Wolfgang, Herr Platzek meine ich, leider erkrankt ist. Nur, dass Sie Bescheid wissen. Ach ja, und die Sitzung heute Nachmittag ist auf kommenden Montag verschoben.“
Ich danke ihr und während ich mich, nun etwas entspannter, für mein Tagwerk an meinem Arbeitsplatz einrichte, überkommt mich ein Anflug von Unmut und Langeweile: immer dieselben Fragen, immer dieselben Beanstandungen, immer dieselben Abläufe. Und gleichzeitig diese permanente Unruhe im Büro. Ich habe keinen abgeschlossenen Raum, in dem ich mal für einige Stunden, ach, was sage ich, für ein paar Minuten konzentriert meinen Aufgaben nachgehen kann. Im Gegenteil, ich bin die ständige Ansprechperson in der Firma. „Sie haben eine Frage? Gehen Sie mal rüber zu Frau S. Die kann Ihnen sicher weiterhelfen!“ Nicht nur die Kopfschmerzen mehren sich in den letzten Monaten, nein, auch die Unmutsanfälle. Aber glücklicherweise gehen sie meist deutlich schneller als die Kopfschmerzen wieder vorbei.
Während des Arbeitstages gibt es nicht viel Zeit zum Grübeln. Die ersten Fahrer trudeln...