I. Petrus – der Fels
Leben und Wirken
In der Peterskirche, der größten Kirche der Christenheit, in Rom ist das Grab des heiligen Petrus. Am Vatikanischen Hügel hat er, der Erste unter den Aposteln, den Kreuzestod erlitten. Über seinem Grab lesen wir heute in großer Mosaikschrift die Worte: „Du bist Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen.“ Bevor Papst Benedikt am 24. April 2005 in seine neue Aufgabe als Oberhaupt der katholischen Kirche eingeführt wurde, betete er am Grab des heiligen Petrus.
Wer war dieser Petrus, den Jesus vor zweitausend Jahren zum Grundstein seiner Kirche ausgewählt hat? Die Nachrichten über sein Leben und Wirken stehen nicht in einer „Heiligenlegende“, sondern in der Heiligen Schrift, im Neuen Testament. Sie sind aufs Engste verwoben mit den Berichten über das Leben und Wirken Jesu.
Über keinen Menschen, der den Lebensweg Jesu auf Erden mitgegangen ist, berichtet die Heilige Schrift so viel und so plastisch wie über Petrus. Nicht einmal Maria, die Mutter Jesu, wird so oft im Neuen Testament erwähnt wie der Apostel. Insgesamt umfassen die biblischen Aussagen über Petrus 163 Verse; über Maria sind es (nur) 118. Das zeigt, welch große Bedeutung Petrus im Leben Jesu, im Kreis der übrigen Apostel und im Leben der Menschen, zu denen er gesandt war, eingenommen hat.
Berufung am See Gennesaret
Simon, wie Petrus ursprünglich hieß, wurde in Betsaida, einem kleinen und unbekannten Dorf am nordwestlichen Ufer des Sees Gennesaret, geboren. Sein Vater hieß Johannes oder Jonas (Johannes 1,42; Matthäus 16,17). Wie sein Bruder, der spätere Apostel Andreas, lebte er recht bescheiden vom Fischfang. Denn wer damals kein Land besaß und bloß Fischer war, gehörte zu den armen Leuten. Täglich fuhr er mit seinem Boot auf den See hinaus und warf die Netze aus. Er verdiente sein Brot mit seiner Hände Arbeit.
Irgendwann ließ sich Petrus einige Kilometer weiter nördlich in Kafarnaum, der größten Ortschaft Galiläas, nieder. Dort zog er in das Haus seiner Schwiegereltern. Die Schwiegermutter hat Jesus, der sich öfters im Hause des Petrus aufhielt, durch ein Wunder von einer fieberhaften Erkrankung geheilt.
Im Markusevangelium heißt es über diese Heilung: „Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie (Simon, Jakobus und Johannes) sprachen mit Jesus über sie, und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie.“ (Markus 1,29–31)
Sicherlich wäre Simon einer der namenlosen und längst vergessenen Fischer geblieben, wenn er nicht eines Tages Jesus begegnet wäre. Der Evangelist Lukas berichtet davon (5,1–11):
Jesus war aus seinem Heimatdorf Nazaret an den See Gennesaret gekommen. Am Ufer des Sees drängten sich viele Menschen um ihn, die seine Worte über das Reich Gottes hören wollten. Die Menschenmenge war so groß, dass viele seine Worte nicht verstehen konnten. Da sah Jesus zwei Boote am Ufer liegen. Die Fischer waren ausgestiegen und reinigten in dem flachen Wasser am Ufer ihre Netze.
Jesus stieg in das Boot, das dem Simon gehörte, und bat ihn: „Stoß vom Ufer ab! Vom Boot aus will ich zu den Menschen sprechen.“ Da ließ Simon die Netze liegen und ruderte Jesus ein Stück weit auf den See hinaus.
Jesus sprach zu den vielen Menschen am Ufer und sie hörten seine Stimme: „Der Herr ist bei euch. Das Reich Gottes ist zu euch gekommen.“ Nachdem er seine Rede beendet hatte, sprach er zu Simon: „Fahrt hinaus auf den See! Dort sollt ihr eure Netze auswerfen!“
Aber Simon antwortete: „Herr, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen.“
Die Fischer ruderten auf den See hinaus. Und sie fingen eine so große Menge Fische, dass ihre Netze zu zerreißen drohten. Sie winkten ihren Freunden im anderen Boot, dass die ihnen helfen sollten. Gemeinsam füllten sie die beiden Boote bis zum Rand. So voll waren sie, dass sie beinahe untergingen.
Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sagte: „Herr, ich bin ein Mensch mit vielen Fehlern. Geh fort von mir, ich kann vor dir nicht bestehen!“ Denn er und alle seine Begleiter – dies waren sein Bruder Andreas sowie Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus – waren erstaunt und erschrocken, dass sie so viele Fische gefangen hatten.
Darauf sagte Jesus zu Simon: „Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen.“ Da zogen die Männer die Boote an Land, ließen alles zurück und wurden Jesu Jünger. – So weit der Bericht des Evangelisten Lukas.
Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, dass Jesus gerade diese einfachen Fischer in seine Nachfolge berief. Hätte es nicht bessere und qualifiziertere Leute gegeben? Theologen zum Beispiel, die sich auf die Auslegung der Schrift verstanden. Oder fromme Mönche aus Qumran, die ganz konsequent Gottes Wege gingen. Oder begabte Redner, die die Zuhörer faszinieren konnten. Nein, Jesus wählte bewusst diese einfachen Männer aus – Leute, die lieber zupackten als diskutierten –, um mit ihnen Menschen für Gott zu gewinnen.
Die Frage nach dem Lohn der Nachfolge
Jesus muss Simon tief beeindruckt haben, als er mit seinen Begleitern die Netze liegen ließ und ihm nachfolgte. Es war die Bindung an den Menschen Jesus aus Galiläa, der auf ihn eine besondere Anziehung ausübte und dem er sich anschließen musste – jetzt und sein ganzes Leben lang. Jesus hatte für ihn etwas Faszinierendes, etwas Neues, das er kennenlernen wollte. Er spürte, dass es sich lohnen müsse, das Leben auf ihn aufzubauen.
Sicher ist es Simon nicht leicht gefallen, seinen Beruf und seine Familie aufzugeben. Offensichtlich hatte er geglaubt, dass er für dieses Opfer eine kräftige Belohnung erwarten könne, nämlich dann, wenn das Reich Gottes kommen werde und die Jünger mit Jesus Herrscher über Israel sein würden. Wie viele Juden seiner Zeit stellte sich Petrus anfänglich die Messiasherrschaft als irdisches Königreich mit Glanz und Macht vor.
Petrus verstand erst ganz allmählich, dass Jesus kein machtvolles Reich auf Erden aufrichten wollte, sondern dass das Reich Gottes vielmehr die Menschen innerlich verwandeln und ihre Herzen und ihr Tun auf das Gute ausrichten sollte. Petrus musste lernen, dass es beim Reich Gottes nicht um einen glanzvollen Sieg Jesu auf Erden, sondern um Gottes- und Nächstenliebe ging.
Als Jesus eines Tages die anfänglich falschen Vorstellungen des Petrus vom Reich Gottes zurechtrücken wollte und von seinem Leiden sprach, da nahm dieser ihn beiseite und machte ihm heftige Vorwürfe. Darauf wies Jesus Petrus hart zurecht: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ (Markus 8,33)
Karl Hillenbrand schreibt zu diesem Wortwechsel zwischen Petrus und Jesus: „Petrus fügt sich nicht in Jesu Geschick, er will über ihn verfügen. Er nimmt Jesus in diesem Moment als Mittel zur Erfüllung seiner eigenen Hoffnungen. Seine Vorstellungen vom Messias verstellen ihm den Blick dafür, wie Jesus wirklich ist.“1
Noch einmal gab es eine Situation, in der Petrus Jesus die Frage nach dem Lohn der Nachfolge stellte. Er sagte: „Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.“ (Markus 10,28) Darauf antwortete ihm Jesus: „Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kind oder Acker verlässt, wird das Hundertfache dafür empfangen.“ (10,29)
Damit war natürlich nicht irgendein irdischer Lohn gemeint, sondern „in der kommenden Welt das ewige Leben“ (10,30). Darauf setzte Jesus im Gespräch mit Petrus seinen Maßstab dem Maßstab der Welt entgegen: „Viele, die jetzt die Ersten sind, werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein.“ (10,31)
Ehrgeizige und unausgewogene Gedanken
Simon Petrus war kein Heiliger von Anfang an. In seinem Kopf spukten immer wieder ehrgeizige und unausgewogene Gedanken. Die eben geschilderte Hoffnung auf Macht und Reichtum in der Nachfolge Jesu war nur eine der dunklen Seiten im Leben und im Charakter des Fischers aus Nazaret.
Die vier Evangelisten berichten fast übereinstimmend über die Schwächen des Mannes, den Jesus zum Grundstein und Fundament seiner Stiftung, der Kirche, ausgewählt und ausgebildet hat. Sie schildern Eigenschaften wie Unbeständigkeit, Kleinmut, Unverständnis und Zweifel im Leben des heiligen Petrus, obwohl dieser zu der Zeit, als sie ihr Evangelium verfassten, in der ganzen Kirche unbestrittene Verehrung genoss.
Uwe Jochum schreibt in seinem Taschenbuch Der Urkonflikt des Christentums (Paulus – Petrus – Jakobus und die Entstehung der...