Athen und die neue Frage der Macht
Auch wenn Platon als Schöpfer der Ideenlehre und Initiator des abendländischen Philosophierens heute eher ein universeller Bezugspunkt der Philosophiegeschichte als eine konkrete Person, auch wenn seine Heimat eher die Unzahl der Bücher von Philosophen und Philosophiehistorikern als das Athen seiner Zeit zu sein scheint, seine Philosophie ist nicht im geschichtslosen Nirgendwo entstanden. Sie ist vielmehr eine Reaktion auf die politischen und geistigen Veränderungen, die sich in der vielleicht dynamischsten Epoche der griechischen Antike, im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ereignet haben. Der Tiefe, in der die Menschen von diesem historischen Wandel erfasst wurden, der Dringlichkeit, mit der sich dabei neue Probleme stellen mussten, entsprach eine in der Philosophie bislang unbekannte Radikalität, mit der Platon seiner Zeit und damit der europäischen Geistesgeschichte neue Perspektiven erschloss.
Selbstverständlich kann man sich mit der Philosophie Platons auch ohne Kenntnis des historischen Umfelds beschäftigen. Doch die elementare Kraft seines Denkens wird erst dann anschaulich begreifbar, wenn man weiß, woraus es sich speist: einem Unbehagen und einer Empörung über die Verhältnisse seiner Zeit. Es ist deshalb wohl kaum übertrieben, die letzten Wurzeln für alle in den platonischen Dialogen behandelten Probleme und Themen in den Konflikten und krisenhaften Momenten seiner Zeit zu sehen.
Platon wurde im Archontat des Diotimos geboren, also zwischen dem Sommer 428 v. Chr. und dem des folgenden Jahres 427 v. Chr. Kurz zuvor, 429 v. Chr., starb Perikles, jener Politiker, in dessen Regierungszeit sich die attische Demokratie fest etabliert hatte und Athen auf den Gipfel seiner Macht gelangt war. Der Weg von einem eher unbedeutenden griechischen Stadtstaat zur Großmacht hatte bereits mit den Perserkriegen begonnen, in denen den Athenern die bestimmende Rolle unter den griechischen Städten zugefallen war: Im Jahr 480 v. Chr. schlugen die Athener die persische Flotte bei Salamis vernichtend. Im Sommer 479 v. Chr. wurde bei Platäa auch das persische Heer besiegt. Durch diese beiden militärischen Entscheidungen war die Gefahr einer persischen Invasion gebannt. Die Behauptung der politischen Freiheit gegen die äußere Gefahr hatte auch Folgen im Inneren Athens: Ohne die Beteiligung aller Bevölkerungsschichten, ohne die Bereitschaft auch der nicht-adeligen Bürger, Verantwortung zu übernehmen, wäre der militärische Sieg über die Perser nicht möglich gewesen. Jetzt drängten diese Athener darauf, mehr Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Der Prozess, der zur Herausbildung der Demokratie führt, kommt in Gang. Ein zweiter Umstand unterstützte diese Bestrebungen: Athen war nicht länger ein kleiner, für sich existierender Stadtstaat, sondern hatte ein weit ausgreifendes Netz von Verbündeten geknüpft, besaß zahlreiche Inseln, nahm an vielen Stellen Einfluss und musste Politik größeren Stils betreiben. Zur Gestaltung der vielfältigen neuen Aufgaben Athens wurden weit mehr Menschen benötigt, als das vorher der Fall war. Innerhalb kürzester Zeit mussten die Athener lernen, die neu erworbene Machtfülle politisch zu gestalten. Dies führte zu einer Beteiligung der gesamten Bürgerschaft an der Politik. Ständig war man auf der Suche nach Feldherren, Schiffskommandeuren und Experten aller Art. Denn nun mussten politische Entscheidungen mit größerer Tragweite getroffen werden: Neues Wissen, neue Kenntnisse waren gefragt, um der gesteigerten Macht Athens gewachsen zu sein. Aus der Tradition ließen sich keine Maßstäbe, keine Hilfen für Handlungssicherheit gewinnen. Der Adel und sein Normgefüge verloren deshalb an Einfluss. Zu neu, zu entfernt von allem bisher Bekannten waren die politischen, gesellschaftlichen und geistigen Aufgaben, die nun der Gestaltungskraft aller Athener gestellt waren.
Diese Herausforderungen setzten einen guten Teil jener Energie frei, die zur geistigen und kulturellen Blüte, zur klassischen Periode Athens führte. Nahezu auf jedem kulturellen Feld entstanden höchste Leistungen, denen später das Prädikat des Klassischen verliehen werden sollte. Die attische Tragödie erreichte mit Aischylos, Sophokles und Euripides ihre Vollendung. Gerade in dieser Literaturform zeigt sich, wie sich die Athener in den Künsten ein Medium der Selbstreflexion geschaffen haben. Die Tragödien behandelten zwar mythische Stoffe, doch im Grunde genommen wurden die Probleme und Fragen der eigenen Zeit in verfremdeter Gestalt auf die Bühne – und in das Bewusstsein der Zuschauer – gebracht. Wie sich der Einzelne zum Staat verhalten sollte, welche Bedeutung der alte Götterglaube, die sich auflösenden adeligen Normen noch für sich beanspruchen konnten, wie die Macht den Menschen und das soziale Zusammenleben veränderte – alle diese Fragen brachten die Tragiker zur Anschauung. Ähnliche Bedeutung besaß die Geschichtsschreibung, in der Herodot und Thukydides Maßstäbe setzten. Besonders das Werk des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg zeichnet ein genaues Bild des zeitgenössischen Menschen. Den Lauf der Geschichte bestimmen bei ihm nicht mehr die Götter, sondern in der Natur des Menschen liegen die Antriebe wie Furcht, Hoffnung und das, was er das «Mehrhabenwollen» nennt. Das ästhetische Können und die ökonomische Macht Athens wurden in dieser Zeit gerade in den prachtvollen Bauten und den Skulpturen der Akropolis sichtbar. Hier entstand jener Festplatz der griechischen Götter, der bis heute als beispielhaft klassisch erscheint. Die Propyläen, der Nike-Tempel, der Marmorbau des Parthenon, in dem das berühmte Goldelfenbeinbild der Athena Parthenos, ein Werk des Bildhauers Phidias, aufgestellt wurde, ferner das Erechtheion mit der Korenhalle – alle diese Bauten sind Ausdruck des neuen Geistes und drücken die Leistungsfähigkeit Athens auf glanzvolle Weise aus. Die Athener scheinen sich an ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten geradezu berauscht zu haben. Ihr Selbstbewusstsein stieg beträchtlich, und es wurde durch die zentrale Bildungsmacht des 5. Jahrhunderts v. Chr., die Sophistik, noch weiter gehoben. Der Ansatz des sophistischen Bildungsprogramms war ausgesprochen optimistisch, verhieß es doch, mit gekonnter und wirkungsmächtiger Rhetorik ließe sich im Grunde jedes Ziel erreichen und diese Kunst sei – wie jede andere Fähigkeit auch – erlernbar. Durch ihre Bildungsangebote wollten die Sophisten das für eine politische Karriere notwendige Rüstzeug vermitteln. Insbesondere durch profunde rhetorische Schulung sollten ihre Schüler Leistungs- und Durchsetzungsfähigkeit erwerben, um den Kampf um Einfluss, hohe politische Posten und Prestige erfolgreich bestehen zu können. Der letzte Triumph dieses neuen Selbstwertgefühls war die Zuversicht, dass selbst der Zufall durch gekonnte Kalkulation auszuhebeln sei. Offenbar gab es eine derartig entfesselte Dynamik nur in Athen; Thukydides jedenfalls stellt dieses athenische Wesen gegen das der Spartaner: «Sie sind Neuerer, leidenschaftlich, Pläne auszudenken und Beschlossenes wirklich auszuführen, ihr [die Spartaner] aber, das Bestehende zu bewahren, ja nichts zu erfinden und im Handeln auch das Notwendige nicht zu erfüllen. Und wiederum sind sie Draufgänger über ihre Macht, waghalsig über jede Vernunft und in Nöten hoffnungsvoll […]. Und immer gehen sie frisch ans Werk gegenüber euch Zauderern, sind Weltfahrer gegen euch Nesthocker […]. Einen nicht durchgeführten Anschlag empfinden sie, als hätten sie vom Eigentum eingebüßt, aber jede Eroberung, als sei ihnen nur ein erster Anfang gelungen; wenn ihnen gar – selten genug – ein Versuch fehlschlägt, so schließen sie die Lücke schnell durch eine neue Hoffnung – denn bei ihnen allein ist es gleich, ob sie haben oder hoffen, was sie sich vorgenommen haben, weil sie jeden Beschluß so rasch ins Werk setzen.»
Die Sophisten ermöglichten ihren Schülern durch Rhetorik und Dialektik Einfluss im öffentlichen Leben zu gewinnen. Sie boten erstmals Wissen für Geld als ‹Ware› an.
Die Hauptvertreter sind:
Protagoras von Abdera, der ein stark subjektivistisch und relativistisch geprägtes Denken vertrat («Der Mensch ist das Maß aller Dinge.»);
Gorgias von Leontinoi, dessen Redelehre vor allem die Möglichkeiten psychologischer Beeinflussung heraushob;
Prodikos von Kos, dessen Synonymik in gewisser Weise der Definitionskunst des Sokrates vorarbeitete und
Hippias von Elis, der Lehrbücher zu unterschiedlichen Wissensgebieten verfasste.
Das Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten drückte sich vor allem in der Rhetorik aus, die nun zum prägenden Kommunikationsmedium wurde. Nicht dass es nicht schon vorher rhetorisches Sprechen und Sinn für sprachliche Wirkung gegeben hätte, das lässt sich schon bei Homer nachweisen. Doch im 5. Jahrhundert kam unter dem Einfluss der Sophisten der auf Wirkung zielenden Rede eine neue Qualität zu: Die Möglichkeiten, mit rhetorischen Mitteln Situationen zu beeinflussen, erweiterten sich erheblich, weil führende sophistische Denker zugleich einen erkenntnistheoretischen Relativismus vertraten. Gorgias von Leontinoi etwa stellte in seiner philosophischen Schrift «Über das Nichtseiende» drei Thesen auf: Es existiert nichts; sollte doch etwas existieren, ist es für den Menschen nicht erkennbar; und selbst wenn es erkennbar wäre, ist es nicht mitteilbar. Auf diese Weise koppelt er die Ebene der Sprache und der Verständigung von der der Wirklichkeit ab, und damit...