Lakritze, Schwarzkittel und Agenten – die „dunkle“ Seite von Babelsberg
Nicht alle, aber viele Wege führen nach Potsdam. Ich wähle für meinen ersten Spaziergang die Route aus, auf der wohl die meisten Besucher in die Stadt kommen werden: mit dem Auto über die Nuthestraße von Berlin. Dabei bewegt mich zugegebenermaßen ein etwas profaner Hintergedanke. Ich verlasse nämlich die Schnellstraße bereits an der Abfahrt Wetzlarer Straße und fahre Richtung Norden etwa 500 Meter weiter. Jetzt finde ich mich im Babelsberger Gewerbegebiet wieder, entsprechend nüchtern sieht es hier aus. Das Ziel meines Abstechers macht dabei keine Ausnahme: Katjes’ „Gläserne Bonbonfabrik“. Der helle Betonklotz auf der linken Seite ist wie auch die anderen Gebäude hier kein Blickfang. An dem würde man glatt vorbeifahren, wären da nicht diese überdimensionalen roten Bonbons auf der Rasenfläche davor. Hinter den nichtssagenden Mauern steckt allerdings etwas Bemerkenswertes. Hier lässt sich nämlich das Süßwarenunternehmen Katjes während der laufenden Produktion gern in die Karten schauen.
Ich bin mit Werksleiter Andreas Respondek verabredet. Der Diplomingenieur erzählt mir, wie an dieser Stelle im Jahr 2006 alles anfing. Nicht ohne Stolz erwähnt er, dass die „Gläserne Bonbonfabrik“ ein deutschlandweites Unikum ist. Während des Rundgangs fallen mir in der Belegschaft ungewöhnlich viele ältere Mitarbeiter auf. Zufall oder eher Ausdruck einer sozialen Ader der Personalleitung? Respondek schmunzelt. Tatsächlich hatte Katjes aus dem nordrhein-westfälischen Emmerich bei der Entscheidung über den künftigen Standort die schwierige Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt im Auge. Daher wollte man vor allem Angehörige der sogenannten „Generation 50+“ als neue Kollegen gewinnen. Bei einer solchen Offerte, so denke ich für mich, dürften die zuständigen Entscheidungsträger in Potsdam sicher schnell ihre Genehmigungsstempel aus der Schublade geholt haben. Heute sind es 75 Mitarbeiter, die in Babelsberg für Katjes die Lakritze-Hartbonbons herstellen.
Katjes-Werksleiter Andreas Respondek
In einem Gang im oberen Geschoss können die Besucher durch große Panoramafenster zusehen, wie nach einem langen, clever ausgeklügelten Fertigungsprozess am Ende jene berühmten dunklen Bonbons vom Band purzeln. Alles sieht hier blitzblank und sauber aus, die Inspekteure der amtlichen Lebensmittelüberwachung können sich den Kontrollbesuch in Babelsberg sparen. Leicht verständliche Schautafeln erklären, was hinter den Scheiben passiert, die Maschinen hat man praktischerweise entsprechend nummeriert.
Eines möchte ich von Herrn Respondek aber noch gerne erfahren. Wie vielleicht viele wissen, stecken hinter den No-Name-Produkten, die beim Discounter für wenig Geld in den Regalen liegen, namhafte Markenhersteller. Man munkelt, dass dabei minderwertigere Zutaten zum Zuge kommen. Ist da denn etwas dran? Andreas Respondek winkt ab. Die No-Name-Produkte sind nicht schlechter, höchsten nach einer geringfügig anderen Rezeptur hergestellt. Und dass sie letztendlich vergleichsweise so preiswert sind, liegt einzig und allein an den hohen Massen, wie sie nur die marktbeherrschenden Discounterketten – auch bei Katjes – in Auftrag geben können.
Lakritze-Hartbonbons sind nun sicherlich nicht jedermanns Geschmack, mich eingeschlossen. Aber Katjes, nach Haribo und Storck die Nummer drei auf dem deutschen Süßwarenmarkt, stellt ja noch viele andere süße Sachen her: von solch bekannten Fruchtgummi-Produkten wie den „Grün-Ohr Hasen“, den lakritzdunklen „Katzen Pfötchen“ über „GraniniFruchtbonbons“ bis hin, was nur wenige mit dem Namen Katjes in Verbindung bringen, zur kultigen „Ahoj-Brause“. Herr Respondek outet sich übrigens, jedenfalls was den Geschmack anbelangt, als ein konservativer Mensch: Seine Lieblingsmarke war, ist und bleibt das Lakritzbonbon „Sallos“. Dieses und noch so vieles andere aus dem großen Katjes-Sortiment gibt es an Ort und Stelle im hauseigenen Fabrikverkauf zu etwas günstigeren Preisen als an der Supermarktkasse zu kaufen.
Katjes-Produktionshalle
Katjes-Fabrikverkauf
Ich verlasse den Katjes-Shop um einige Euro ärmer, dafür aber um ein paar Erkenntnisse reicher. Ehe ich meine Fahrt fortsetze, werfe ich jedoch noch einen Blick auf das Gelände hinter der „Gläsernen Bonbonfabrik“. Dort befindet sich der sogenannte „Lok-Zirkus“. Wenn Sie das Gebäude mit dem Kuppeldach sehen, werden Sie wissen, warum es im Volksmund zu diesem Namen gekommen ist. Mit einem Zirkus hat die Industrieanlage freilich nichts zu tun, hier wurden vielmehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lokomotiven der Firma Orenstein & Koppel produziert. Das erklärt übrigens auch den etwas ungewöhnlichen Straßennamen Orenstein-&-Koppel-Straße, die Sie eben auf dem Weg hierher passiert haben. Das markante Bauwerk galt lange Zeit als unverkäuflich. Investoren zog es offenbar wenig an, dafür aber Locationscouts. So wurde der „Lok-Zirkus“ 2007 zur geeigneten Kulisse für die Hollywood-Produktion „The International“, die 2009 in die Kinos kam. Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Politthriller von Tom Tykwer mit Clive Owen als Interpol-Agenten und Naomi Watts als cleverer Staatsanwältin? In einer spannenden Schlüsselszene stellte darin der Babelsberger „Lok-Zirkus“, entsprechend aufgemotzt, das New Yorker Guggenheim-Museum dar. Alle Achtung! Von einer vor sich hin rostenden Fabrikhalle zur weltberühmten Kunstsammlung: eine solche Metamorphose kann es nur im Kino geben. Doch halt, auch in der Wirklichkeit soll mit dem Dornröschenschlaf der denkmalgeschützten Ruine ab Frühjahr 2018 Schluss sein. Ich lese nämlich gerade in der Lokalzeitung, dass die Stadt Potsdam nun doch noch einen Investor gewinnen konnte, der mit 45 Millionen Euro in der Tasche nach Babelsberg kommen wird. Die Ambitionen für den Umbau sind folglich gigantisch. Sie werden dann einmal an dieser Stelle vor einer viergeschossigen, hypermodernen Glas-Stahl-Konstruktion stehen mit dem überaus sinnigen Namen „Paradome“. Ein neues Domizil vor allem für Firmen aus der IT- und Medien-Branche, aber auch für ein innovatives Hotel. Der dafür gewählte Slogan „Bed & Bike“ verrät es bereits: Man hat dabei nicht Gäste mit dickem Geldbeutel im Visier, sondern vielmehr Potsdam-Besucher, die hier übernachten und ihre Elektrofahrräder aufladen oder solche ausleihen wollen.
Lok-Zirkus
Nun fahre ich zurück auf die Nuthestraße. Mein Ziel ist der Schlosspark Babelsberg. Ich nehme die Ausfahrt Friedrich-List-Straße und fahre rechts auf der Straße Alt Nowawes weiter. An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Hinweis zum Thema „Autofahren in Potsdam“ einfügen. Wie in allen Städten ist auch hier das damit verbundene Parkplatzsuchen ein leidiges Thema. Vor allem in der Innenstadt sowie in der Nähe häufig besuchter Sehenswürdigkeiten werden Sie die Folgen der sogenannten Parkplatzbewirtschaftung zu spüren bekommen. Zwar gibt es genügend Bereiche mit Parkscheinautomaten, doch wer will schon während eines längeren Spaziergangs unter Zeitdruck stehen, weil er seinen Parkschein erneuern muss? In diesem Zusammenhang wird schon länger eine Neugestaltung des öffentlichen Nahverkehrs diskutiert bis hin zu einer kostenlosen Nutzung durch Umlagefinanzierung. Nicht nur die Umwelt, auch die Potsdam-Besucher würden davon profitieren. Klingt also nach einer guten Idee. Bei meinem jetzt anvisierten Ziel gibt es jedoch einige Stellen, wo (noch) kostenloses und somit unbeschwertes Parken möglich ist – die Anwohner mögen mir den Tipp verzeihen.
Am Ende von Alt Nowawes erreiche ich das kleine Pförtnerhäuschen am Parkeingang und biege links in die Wollestraße ein. Nicht immer kann ich mich schon gleich hier über einen freien Parkplatz freuen. Das macht aber nichts, ich fahre an der Park Studios GmbH vorbei, gleich nach der Kurve fällt mir auf der linken Seite ein allein stehendes Haus auf, das einen ziemlich baufälligen Eindruck macht. In das Ensemble der neuen, schmucken Wohnhäuser in dieser Gegend will es so gar nicht passen. Ich halte kurz an und steige aus. An den drei Fenstern im Parterre und auch an der Eingangstür sind zahllose Zeitungsartikel und selbst geschriebene Zettel geklebt. Die Überschriften in fetten Buchstaben schreien den Passanten förmlich an. Da ist von „RAUS-Sanierung“ die Rede, von „Wie Westdeutsche im Osten absahnen“, „Vermieter droht mit Räumungsklage“ und „Schäm dich, du Miethai!“. Mir wird klar, dass auch dieses Gebäude der nicht nur in Potsdam zu beobachtenden Gentrifizierung zum Opfer fallen soll. Offensichtlich hat man aber die Rechnung ohne den einzigen hier übrig gebliebenen Mieter gemacht. Mit bitterbösen Bemerkungen pocht der Rentner auf sein Recht, in diesem Haus, in dem er auch...