1 Das gute Alter ist möglich
Herr Tanaka steht hoch oben auf der schwankenden Leiter. Der Papayabaum ist alt und knorrig, vielen Unwettern hat er getrotzt, vielen Stürmen standgehalten. Die Papayas, auf die es Herr Tanaka abgesehen hat, sind gelb, fleischig, voller Saft und duften verführerisch. Richtig zum Reinbeißen. Da kann auch er nicht widerstehen. So wie jedes Jahr im Juni, wenn die Saison hier beginnt. Es ist heiß und schwül in Okinawa. Wir sind rund tausend Kilometer vom japanischen Festland entfernt, mitten im Pazifik. Heute wird es wohl wieder ein Gewitter geben. Dann dampft die Luft und das Arbeiten wird noch mühsamer. Deswegen legt Herr Tanaka noch einen Zahn zu. Er will seine mitgebrachten vier Säcke ordentlich voll machen, denn er hat seinen Freunden Versprechungen gemacht: Heute bringe ich euch wunderbare, frische Papayas. Die Freunde warten schon ungeduldig. Die Ehefrauen wollen Papaya-Mus zubereiten, da braucht es Nachschub. Ein prüfender Blick zum Himmel: Da braut sich was zusammen, „aber die vier Säcke kriege ich noch locker voll“, sagt er zu mir. So ein Sack wiegt gut und gerne seine 15 Kilo. Den zweiten hat Herr Tanaka gerade gefüllt.
Flink steigt er jetzt von der Leiter, die zwei Säcke verstaut er sorgfältig auf einem mitgebrachten Handkarren. Er sucht sich eine neue Stelle, die Leiter wird versetzt, behände klettert er wieder nach oben. Der Baum schwankt etwas. Das nahende Gewitter bringt unberechenbare, böige Winde mit sich. Das stört Herrn Tanaka aber nicht. Die Unbill des Wetters nimmt er gelassen hin. Da hat er doch schon ganz andere Stürme im Laufe seines Lebens überstanden. Als Inselbewohner sind Stürme für ihn etwas ganz Alltägliches. Von weitem sieht Herr Tanaka aus wie 50 und von nahem auch nur wie 60. Man mag unwillkürlich denken: „Dieser ältere Herr ist aber noch fit, wie macht er das bloß?“
Herr Tanaka ist allerdings nicht 60, auch nicht 70, auch nicht 80. Er ist sage und schreibe 88. Seine wachen Augen und die Lachfalten des sonnengegerbten Gesichtes geben ihm etwas Jugendlich schalkhaftes und seine positive Ausstrahlung ist ansteckend. „Letztes Jahr habe ich an einem Tag noch drei Papayabäume abgeerntet“, sagt er. „Aber dieses Jahr bin ich ja schon etwas älter. Da lasse ich es etwas ruhiger angehen. Da genügen mir zwei Bäume pro Tag.“ Sagt’s und hat den nächsten Sack schon wieder gefüllt. „Halten Sie mal den Sack“, spannt er mich gleich ein und nur mühsam kann ich den Sack, nur auf halber Höhe der schwankenden Leiter stehend, erreichen. „Verdammt“, murmele ich in mich hinein, „der ist fast vier Jahrzehnte älter als du und macht dir noch locker etwas vor.“ Den Sack halte ich mit der linken Hand und klammere mich mit der rechten fest an die Leiter. Das Ganze schaukelt für mein Gefühl etwas zu stark, nach unten wage ich nicht zu sehen. Über mir steht Herr Tanaka und lacht. Er scheint sich köstlich zu amüsieren. Sein Hobby ist es offensichtlich, auf Bäume zu klettern.
Mir ist gar nicht nach Lachen zu Mute. Mehr schlecht als recht klettere ich mühsam mit leicht schlotternden Knien hinab. „15 Kilo sind ganz schön schwer“, denke ich und wuchte den Sack in den Handkarren. Ehe ich mich ausruhen kann, ist Herr Tanaka schon wieder unten und hat auch gleich einen Vorschlag für mich: „Wir beide schieben den Karren jetzt zurück zum Dorf“, meint er wie selbstverständlich. Die Säcke mit den Papayas liegen jetzt fein säuberlich verstaut in dem Handkarren. Jetzt sind etwa drei Kilometer über Stock und Stein zu bewältigen, auch kurze schlammige Stellen, die die Regenzeit hinterlassen hat. „Auf geht’s, bevor es dunkel wird“, sagt er. Gemeinsam drücken und schieben wir den Karren vorwärts. Ich schnaufe etwas, will mir aber nicht anmerken lassen, dass ich mich anstrengen muss, um mit ihm Schritt zu halten. Ich kann ja wohl jetzt nicht aufgeben, denn dann wäre die Blamage zu groß und alle Vorurteile gegenüber den schlappen Fremden, den „Gaijin“, wären wieder einmal bestätigt. Herr Tanaka sieht mich von Zeit zu Zeit aus den Augenwinkeln an. Er lächelt.
Ich habe auf Okinawa überraschend viele Männer und Frauen von der Art des Herrn Tanaka getroffen. Sie scheinen mit einer Art ansteckendem Optimismus und einer geradezu unverwüstlichen Gesundheit ausgestattet zu sein. Nichts scheint ihnen zu schwer, nichts zu mühsam. Viele sehen locker 30 Jahre jünger aus, als sie sind. Diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, davon handelt dieses Buch. Wir reisen dabei gemeinsam nach Japan, um im fernen Okinawa ein wenig Licht in dieses Mysterium zu bringen. Auch in Europa gibt es Menschen, die ein hohes Alter erreicht haben, dabei körperlich gesund und geistig fit sind und von denen wir eine Menge lernen können. Wir holen uns dort Ideen für ein besseres Leben im Alter, kurz für ein „gutes Alter“. Die Zahl der Lebensjahre ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung.
Es kommt nicht darauf an, wie alt man wird, sondern wie man alt wird.
Mir geht es nicht um Quantität, sondern um Qualität. Ich kenne Dreißigjährige, die körperlich und geistig vergreist sind. Auf der anderen Seite gibt es Siebzig- oder Achtzigjährige, die noch einen jugendlichen Eindruck machen und vor Lebenslust und Energie strotzen. Die sind interessant, die wollen wir uns näher ansehen.
Vor ein paar Monaten war ich auf einem Klassentreffen. Da sagte einer der anwesenden „Ehemaligen“ zu mir: „Weißt du was, guck’ dir doch mal diese Gestalten hier an: die einen sehen alt aus wie ihre eigenen Eltern. Ein paar wenige aber auch jung wie ihre eigenen Kinder.“ „Tatsächlich“, dachte ich. Nachdenklich geworden, ließ ich meine Blicke schweifen. „Er hat Recht“, dachte ich. Ein Riesenunterschied in Aussehen, Verhalten und Körpersprache. Die einen alt, fett, krummrückig, steif und mit einem unverkennbaren Anflug von Senilität. Ein paar aber auch schlank, drahtig, jugendlich, geistig agil und schlagfertig. Der Unterschied war unübersehbar, obwohl wir alle doch etwa im gleichen Alter waren. Ich erkannte die Brisanz der eben wie zufällig gemachten Beobachtung meines ehemaligen Klassenkameraden und musste an meine Erlebnisse in Okinawa denken. Da war es wieder, dieses Gefühl, dass es etwas im Leben der fitten älteren Menschen geben muss, was es zu entdecken und zu systematisieren gilt. Diese Frage elektrisierte mich und ließ mich nicht mehr los. Von da ab war mir klar: Das gute Alter ist möglich. Sicher nicht für jeden, aber vielleicht für viel mehr Menschen, als bisher angenommen.
Die alles entscheidende Frage lautet: Wie macht man das? Gibt es irgendwo den viel beschworenen Jungbrunnen? Hat die Pharmaindustrie in ihren geheimen Labors eine Wunderpille zusammengebraut oder bergen vielleicht die Schätze der Natur noch ein Geheimnis, das darauf wartet, entdeckt zu werden? Welche psychischen Charakteristika haben geistig und körperlich gesunde, energiegeladene ältere Menschen? Wie leben und wie lieben sie? Welche Lebensmittel essen sie? Wie haben sie sich Optimismus, Gesundheit, eine positive Ausstrahlung und persönliches Glück bewahrt? In welchen Regionen dieser Erde sind diese „Super-Alten“ anzutreffen und was können wir von denen lernen? Was würden die Menschen heute essen, wenn sie noch einmal jung wären? Würden sie mehr Sport treiben?
Alles Fragen, die in diesem Buch behandelt werden. Aus den Antworten können Sie auch für Ihr persönliches Leben entsprechende Schlüsse ziehen und die so gewonnenen Erkenntnisse umsetzen. Je jünger Sie sind, desto stärker werden Sie von diesem Buch profitieren, denn Sie können dann noch rechtzeitig gute Lebensgewohnheiten einüben und schlechte ändern, neue Weichen stellen und sich umorientieren. Doch all das ist auch im fortgeschrittenen Alter möglich. So ist es nie zu früh, aber auch nie zu spät. Vielleicht beginnt für viele die beste Zeit des Lebens erst im Alter. Vielleicht ist das „gute Alter“ ganz anders und die Reise dorthin spannender und angenehmer, als wir glauben. Reisen wir als Erstes in ein fernes Land im Osten Asiens.
1.1 Japan und Okinawa, magische Orte für Gesundheit, Glück und ein langes Leben?
Japan ist weit weg. Nur wenige Deutsche sind hierher gekommen, noch weniger haben Land und Leute und deren Lebensgewohnheiten studiert. Zu hoch scheint die Sprachbarriere: Der Durchschnittseuropäer sieht gleich nach seiner Ankunft am Flughafen in Tokio die ersten japanischen Schriftzeichen und ist schier am Verzweifeln. Nichts, aber auch gar nichts kann man lesen. Die japanischen Durchsagen sind natürlich auch nicht zu verstehen. Am Flughafen findet man zum Glück noch freundlich lächelnde Hostessen, die schicke Uniformen tragen, leidlich Englisch sprechen und dem verwirrten Europäer gerne weiterhelfen. Ein bisschen leichter wird es, wenn man glücklich seinen Koffer gefunden, ohne Probleme durch den Zoll gekommen und endlich im Bus sitzend auf dem Weg ins Hotel ist. Wer es schafft, dort auch noch sein reserviertes Zimmer zu bekommen, hat...