STRESS: UNSER BEWÄHRTES NOTFALLPROGRAMM
Wenn wir uns stark überlastet oder sehr angespannt, also gestresst fühlen, läuft im Organismus eine überaus komplexe Reaktion ab. Dabei werden manche Körperfunktionen aktiviert und andere gedrosselt, damit wir schnell reagieren und uns schnell bewegen können. Ohne diese Stressreaktion gäbe es die Menschheit längst nicht mehr, denn die Natur hat uns damit ein bis heute sehr wirksames Programm zum Überleben geschenkt: Bei Gefahr können wir dadurch unsere gesamte Energie für das Weglaufen oder Kämpfen mobilisieren. Werden Sie beispielsweise unterwegs überfallen, analysiert Ihr Gehirn blitzschnell die Situation. Es entscheidet, ob sie gefährlich ist, und versetzt den Organismus in die Lage, loszurennen oder um sich zu schlagen. Für den Neandertaler waren solche Gefahren Teil des Alltags und die Stressreaktion des Organismus rettete ein ums andere Mal sein Leben.
In unserer heutigen zivilisierten Gesellschaft geraten wir kaum noch in solche tatsächlich lebensbedrohende Situationen. Aber es gibt stattdessen zahlreiche andere Auslöser für Stress, die unser Gehirn als so gefährlich einstuft, dass es die beiden auf > beschriebenen komplexen Reaktionsketten im Organismus auslöst. Solange das nicht ständig vorkommt, ist es nicht weiter schlimm. Zum Problem wird erst der Dauerstress.
WAS BEI STRESS IM KÖRPER PASSIERT
Um zu verstehen, warum Dauerbelastung und ständige Überforderung für uns bedrohlich sind und warum manche Maßnahmen besser gegen Stress und Überlastung wirken als andere, ist es wichtig, zu wissen, was im Körper passiert.
Stresssituationen wahrnehmen und bewerten
Bevor die Stressreaktion ausgelöst wird, müssen wir die Gefahr erst einmal wahrnehmen und als bedrohlich bewerten. Die Augen sehen einen Angreifer, die Ohren hören Geschrei, die Nase riecht Rauch, die Rezeptoren auf der Haut spüren Hitze: Solche und ähnliche Reize werden in neuronale Signale umgewandelt, die vom Nervensystem und vom Gehirn verstanden werden. Das passiert durch Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter. Neben Glutamat, Acetylcholin, Glycin, Dopamin und Serotonin gehören dazu auch Adrenalin und Noradrenalin. Beide werden auch als Stresshormone oder Alarmtransmitter bezeichnet, weil sie unsere Aufmerksamkeit und unsere Bereitschaft zur Aktivität erhöhen. Aber erst das Gehirn entscheidet, ob es sich um eine Gefahr handelt. Dabei spielt unsere Lernfähigkeit eine wichtige Rolle. Denken Sie an ein Kind, das unbedarft auf die heiße Herdplatte fasst, oder umgekehrt an die Person, die wegen einer Maus wegrennt. In beiden Fällen gilt es, die Gefahr anders einschätzen zu lernen.
Dass unser Gehirn unsere Erfahrungen abspeichert und auswertet, erklärt auch zwei wichtige Aspekte zum Thema Stress:
Je nach individueller Erfahrung nehmen Menschen die gleiche Situation als unterschiedlich belastend wahr.
Die Bewertung des Gehirns ist veränderbar. Das nutzen Verhaltenstherapie und alle geistigen, seelischen und spirituellen Ansätze zur Stressbewältigung.
STRESS MACHT »FIEBER«
Fieber ist eine normale Reaktion des Körpers auf eine Infektion, es hilft den Infekt zu bekämpfen. Es gibt aber auch psychogenes Fieber, ausgelöst durch Stress. Dann schwankt die Körpertemperatur meist zwischen 37,5 und 38 °C – nur selten liegt sie darüber. Puls- und Atemfrequenz sind meist nicht erhöht, die Gesichtshaut ist in der Regel blass und kühl. Dagegen können Sie aktiv werden: Suchen Sie nach allen Auslösern für Ihren Stress und beheben Sie sie.
Zwei Reaktionsketten aktivieren uns bei Stress
Im Gehirn löst vor allem das limbische System mit seinem Schaltzentrum, der Amygdala (Mandelkern), die Stressreaktion aus und koordiniert die komplexen Abläufe. Dabei ist es besonders für unbewusste Ängste zuständig. Für bewusste Reaktionen sorgt der Cortex, die Großhirnrinde. Jeder Gehirnbereich löst eine Reaktionskette aus:
Die Hypothalamus-Reaktionskette
Der Hypothalamus, Teil des limbischen Systems und die Verbindung zwischen Nerven- und Hormonsystem, schüttet CRH (corticotropin-releasing hormone) aus. Das wiederum regt die Hypophyse, die Hirnanhangdrüse, zur Ausschüttung von ACTH an (adrenocorticotropes Hormon, auch Corticotropin genannt). Dieses Hormon sorgt dafür, dass Glukokortikoide freigesetzt werden. Sie beeinflussen den Stoffwechsel und stellen vor allem die Energie für die bevorstehende körperliche Anstrengung bereit. Auch das Stresshormon Kortisol gehört zu den Glukokortikoiden. Es sorgt dafür, dass bei Gefahr keine überflüssige Energie ans Immunsystem geht. Dauert die Anspannung länger, fährt Kortisol unser Abwehrsystem auch länger herunter – ein Grund dafür, dass wir oft nach einer längeren Phase der Anspannung oder nach intensiver sportlicher Belastung Infektionskrankheiten wie eine Erkältung bekommen. Im Sport heißt dieser Effekt anschaulich Open-Window-Phänomen: Die Überlastung hat das Fenster für Krankheitserreger geöffnet.
Die Sympathikus-Reaktionskette
Die andere Reaktionskette geht vom Sympathikus aus, der als Teil unseres unbewussten Nervensystems den Körper aktionsfähig macht – bereit für Kampf oder Flucht. Zu diesem Zweck veranlasst er das Nebennierenmark, Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Die beiden Hormone sorgen dafür, dass unser Herz schneller und kräftiger schlägt, dass wir tiefer und schneller atmen und dass die Leber Glukose ins Blut abgibt. Auf diese Weise bekommen unsere Muskeln mehr Sauerstoff und mehr Energie für die bevorstehende Arbeit.
Gleichzeitig wird das Blut aus Bereichen abgezogen, die für die körperliche Aktivität in einer Notsituation unwichtig sind: Haut, Magen und Darm sowie das Gehirn. Das erklärt, warum wir trotz bester Vorbereitung bei Prüfungen oder wichtigen Gesprächen kalte Hände und Füße, ein flaues Gefühl im Magen oder sogar einen Blackout bekommen können.
Fit für den Ernstfall
Die beiden beschriebenen Stressreaktionen laufen parallel ab und machen uns fit für den Ernstfall, für einen Kampf oder eine Flucht. Dabei verbrauchen wir dann die Extraportion Energie und bauen die ausgeschütteten Stresshormone ab. Danach sind wir müde und unser Körper schaltet wieder in seinen »normalen Modus«: Das Gehirn und die Verdauung »springen wieder an«, sodass wir wieder klar denken können und die verbrauchte Energie in den Muskeln wieder aufgefüllt werden kann. Der Stress ist vorbei und alles ist gut!
So war es beim Neandertaler immer, so ist es aber bei uns nur noch selten. Denn uns moderne Menschen stressen ganz andere Dinge, wie der kritisierende Chef oder die Warum-Fragen unserer Kinder. Die erfordern keine körperliche Reaktion – und darin liegt das Problem, denn nichts baut Stress so effektiv ab wie körperliche Aktivität.
SYMPATHIKUS UND PARASYMPATHIKUS
Die meisten Reaktionen und Funktionen im Körper laufen ohne unser Zutun automatisch ab. Verantwortlich dafür ist das vegetative Nervensystem.
Ob wir uns anstrengen, uns ausruhen oder gestresst und genervt sind: In jeder Lebenslage regelt das vegetative Nervensystem, auch autonomes Nervensystem genannt, den Blutdruck, die Herzfrequenz, das Schwitzen, die Verdauung und auch die Sexualität. Für unser Gleichgewicht, unseren Rhythmus, unsere innere Balance ist also das Vegetativum von enorm großer Bedeutung. Es umfasst zwei Untersysteme mit völlig entgegengesetzten Funktionen, den sympathischen und den parasympathischen Teil. Gemeinsam bilden sie eine Einheit, die als perfektes Ganzes ausgezeichnet funktioniert – wenn wir nicht »dagegenarbeiten«. Die beiden Systeme sind immer bestrebt, ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen – ganz ähnlich wie zwei Kinder auf einer Wippe. Ist eine der Kräfte geschwächt oder instabil, kann das Benommenheit, Müdigkeit, Kopfschmerzen und auf lange Sicht chronische Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck mit den bekannten Komplikationen bedingen.
Der sympathische Teil ist zuständig für unsere unterbewussten »aktiven« Funktionen. Er besteht aus einer Reihe von Nervenfasern, die unter anderem mit unseren Hormonen wie Adrenalin zusammenhängen und deren Ausschüttung mitbestimmen. Der Sympathikus läuft bei Stress, Überlastung und zu wenig Regeneration auf Hochtouren. Er setzt »Nervenenergie« frei und bereitet uns auf die Herausforderungen vor mit einem Anstieg der Herzfrequenz, der Atmung, einer Reduktion der Verdauungssäfte. Die Durchblutung der Muskeln wird verstärkt und stellt uns auf »Kampf« ein – auch auf den Kampf gegen den Stress des Alltags übrigens.
Der parasympathische Teil ist unsere »gemütliche Seite«, denn er entspannt und beruhigt uns nach den Herausforderungen. Er sorgt für alle regenerativen Prozesse, senkt also auch die Herzfrequenz, beruhigt die Atmung, entspannt die Muskeln und setzt die Verdauung in Gang.
Bei chronischem Stress sind wir in den Fängen des Sympathikus und lassen eine parasympathische Aktivität kaum zu. Auch bei zu wenig Unterstützung (etwa fehlende Ruhepausen) für den Parasympathikus gleiten wir in die Dominanz des Sympathikus ab. Neben einem Zeitmanagement, in dem wir dem Parasympathikus mehr Zeit einräumen, können wir diesen auch durch gezielte entspannende und psychoregenerative Maßnahmen wie Entspannungstraining, moderates Ausdauertraining und »Cool-down« (siehe >) fördern.
Wenn das Gehirn überhitzt
Kennen Sie das? Sie wollen einen kühlen Kopf bewahren und vernünftig denken können. Doch durch Überhitzung verlieren wir uns in wirren Gedanken – und das ist jetzt nicht redensartlich gemeint, sondern ganz real auf die Körpertemperatur...