1 Rahmenbedingungen der neurologischen Rehabilitation
Jürgen Herzog
1.1 Organisation und Strukturen
Die gesundheits- und gesellschaftspolitische Bedeutung der neurologischen Rehabilitation (NR) in Deutschland spiegelt sich u. a. in einer – auch im internationalen Vergleich – hohen Dichte professioneller Versorgungsstrukturen wider. Dieser erfreulichen Tatsache steht eine Reihe potenziell konfliktträchtiger Schnittstellenprobleme gegenüber, die durch die Komplexität in Aufbau, Finanzierung und sozialrechtlicher Zuordnung des Neurorehabilitationssystems bedingt sind. Für eine optimale Patientenversorgung sind deshalb Grundkenntnisse dieser Strukturen unerlässlich.
1.1.1 Einrichtungen
Historisch entwickelten sich zunächst indikationsspezifische Rehabilitationseinrichtungen außerhalb des Krankenhaussektors. Insbesondere mit dem Ausbau der akuten Schlaganfallbehandlung in Stroke Units erfolgte jedoch eine Verlagerung in Frührehabilitationskliniken mit dem Status von Akutkrankenhäusern. Diese Tradition rein stationärer Maßnahmen wurde seit den 1980er Jahren durch eine zunächst wachsende, nach Mittelkürzungen zuletzt wieder rückläufige Zahl teilstationärer Einrichtungen (Neurorehabilitative Tagesklinik) ergänzt. Als dritte Behandlungsoption stehen ambulante Therapieverfahren zur Verfügung. In der Regel handelt es sich dabei um Einzelleistungen selbstständiger Funktionstherapeuten. Zunehmend finden sich auch Rehabilitationszentren, in denen unterschiedliche therapeutische Professionen verschiedene ambulante Leistungen unter einem Dach anbieten.
1.1.2 Personelle Ausstattung
Neurologische Erkrankungen verursachen in der Regel Schädigungen mit Auswirkungen auf verschiedenartige Funktionsbereiche. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist ein Charakteristikum der Neurorehabilitation der multiprofessionelle Behandlungsansatz. Folgende Berufsgruppen sind (in alphabetischer Reihenfolge) typischerweise in den therapeutischen Prozess involviert:
- Ärzte (Neurologen, Internisten, Anästhesisten, Ärzte für physikalische Medizin und Rehabilitationswesen, Ärzte mit Zusatzbezeichnungen für physikalische Therapie, Geriatrie, Rehabilitationswesen, Sozialmedizin, Palliativmedizin etc.)
- Ergotherapeuten
- Masseure und med. Bademeister
- (Neuro-)Psychologen
- Pflegetherapeuten
- Physiotherapeuten
- Psychotherapeuten
- Sozialpädagogen
- Sprach- und Schlucktherapeuten
- Pflegetherapeuten und Fachpflegekräfte für Neurorehabilitation.
Weiterhin ist eine Vielzahl anderer Professionen beteiligt. Im stationären Bereich sollen hier exemplarisch Sozialpädagogen, Orthopädiemechaniker, Diätassistenten, Atmungs- und Urotherapeuten genannt werden. Im nachstationären Bereich kommt darüber hinaus Berufsberatern, rechtlichen Betreuern und den weiterbetreuenden Haus- und Fachärzten eine besondere Rolle zu.
1.1.3 Phasenmodell der Neurorehabilitation
Entlang des sich oft über viele Monate entwickelnden Rehabilitationsverlaufs ändern sich die Bedürfnisse und Fähigkeiten neurologisch Kranker zum Teil gravierend. Es lag deshalb nahe, den Verlauf in unterschiedliche Phasen einzuteilen, der die allmähliche Steigerung der Anforderungen an alle Patientengruppen abbildet. Im klinischen Versorgungsalltag hat sich seit Jahren das von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) vorgeschlagene Modell mit folgender Einteilung bewährt (BAR 1995, S. 5):
- Phase A: Akutbehandlungsphase
- Phase B: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen
- Phase C: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der die Patienten bereits in der Therapie mitarbeiten können, aber noch kurativmedizinisch und mit hohem pflegerischen Aufwand betreut werden müssen
- Phase D: Rehabilitationsphase nach Abschluss der Frühmobilisation
- Phase E: Behandlungs-/Rehabilitationsphase nach Abschluss einer intensiven medizinischen Rehabilitation – nachgehende Rehabilitationsleistungen und berufliche Rehabilitation
- Phase F: Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der dauerhaft unterstützende, betreuende und/oder zustandserhaltende Leistungen erforderlich sind.
Insbesondere für die Phasen B und C hat die BAR medizinische Parameter bzw. Patientencharakteristika als Eingangskriterien definiert, auf die an dieser Stelle aus Platzgründen verwiesen wird (BAR 1995, S. 9 und 12). Wiederholter Diskussionsgegenstand sind die Ein- bzw. Ausgangskriterien für diese Phasen, insbesondere in der Abgrenzung zwischen der Phase B und C. Erschwerend kommt hinzu, dass sich neurologische Verläufe oft nicht in allen relevanten Dimensionen gleichzeitig bessern, sodass bei einem Patienten gleichzeitig Ein- und Ausschlusskriterien für eine Phase vorliegen können (Platz et al. 2011). Gut operationalisierbare Kriterien (s. u.) liegen nicht für alle Patientengruppen gleichermaßen vor bzw. werden je nach Bundesland unterschiedlich bewertet.
1.1.4 Abgrenzung verschiedener Frührehabilitationsleistungen
Die gegenwärtige Versorgungslandschaft neurologisch Erkrankter in Deutschland und die soziodemografische Entwicklung bringen es mit sich, dass in der Rehabilitation Überlappungen mit verwandten Fachrichtungen bestehen, namentlich v. a. der Geriatrie und der Physikalischen Medizin. Diese Aspekte finden sich im Leistungskatalog des DRG-basierten Vergütungssystems in vier OPS-Ziffern wieder:
- »Neurochirurgisch-neurologische Frührehabilitation (Phase B)« (OPS 8-552)
- »Fachübergreifende Frührehabilitation« (OPS 8-559)
- »Physikalisch-medizinische Komplexbehandlung« (OPS 8-563)
- »Geriatrisch frührehabilitative Komplexbehandlung« (OPS 8-550).
Leider sind die Eingangskriterien im OPS-Katalog nicht oder nur unzureichend differenziert, sodass zwischen Kostenträgern, Zuweisern und Rehabilitationsmedizinern z. T. gravierend unterschiedliche Auslegungen bei der Zuordnung von Patienten zur jeweils adäquaten Rehabilitationseinrichtung bestehen. Im klinischen Alltag wird z. B. älteren Patienten zunehmend eine neurologische Rehabilitation vorenthalten und stattdessen eine geriatrische Rehabilitation bewilligt. Da aber hinsichtlich Zielausrichtung, Therapiedichte, fachlicher Qualifikation und medizinischer Ergebnisqualität relevante Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Facheinrichtungen bestehen, ist eine Klärung der Verantwortlichkeiten dringend erforderlich. Aus neurowissenschaftlicher Sicht stellt die indikationsspezifische Rehabilitation dabei das eindeutigste Differenzierungsmerkmal dar (s. u.).
1.2 Medizinische Voraussetzungen
1.2.1 Indikationen
Nach dem Prinzip der Indikationsspezifität stellen alle rehabilitationspflichtigen Erkrankungen, Verletzungen und vorausgegangene Operationen des zentralen und peripheren Nervensystems, neuromuskuläre Krankheiten und Myopathien primär eine Indikation zur NR dar. Die häufigsten Indikationsgruppen sind dabei:
- neurovaskuläre Erkrankungen (ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle, Subarachnoidalblutungen)
- Schädel-Hirn-Traumata
- neuromuskuläre Erkrankungen und Neuropathien
- spinale Läsionen
- Enzephalopathien (insbesondere nach globalen zerebralen Ischämien)
- entzündliche Erkrankungen
- Hirntumoren
- Parkinson-Syndrome.
Unabhängig von der zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung sollte die Rehabilitationsprognose positiv sein, d. h. die NR sollte die Erreichung medizinischer, pflegerischer oder sozialer Ziele ermöglichen. Die prognostische Einschätzung ist multidimensional und wird u. a. beeinflusst von
- natürlichem Verlauf und Therapierbarkeit der Grunderkrankung
- individuellem Störungsbild
- Komorbidität(en)
- biopsychosozialen Kontextfaktoren (z. B. Aktivitätsniveau vor der Erkrankung, soziale Integration, Ausbildungs- und Vermögensverhältnisse, Störungsbewusstsein und -akzeptanz etc.)
- Rehabilitationsmotivation.
In der neurologischen Frührehabilitation rechtfertigt nicht selten die Prognoseabschätzung schwerst Betroffener den stationären Aufenthalt per se. Es ist offensichtlich (und auch volkswirtschaftlich relevant), dass jede Überlegung zur NR eine Einzelfallentscheidung ist.
1.2.2 Kontraindikationen
Auch die Kontraindikationen (KI) zur NR ergeben sich aus der Prüfung des Einzelfalls. Absolute KI bestehen nach Ansicht des Autors lediglich bei Krankheitsbildern mit offensichtlich infauster Prognose (z. B. nach transtentorieller Herniation und Infarzierung großer Hirnareale, diffuse Metastasierung maligner Tumoren) sowie bei nachweislicher Erfüllung einer in der Patientenverfügung umschriebenen Konstellation, welche die...