1.1 | Business Process Management |
BPMN zu verstehen ist leichter, wenn Sie auch BPM verstehen. Also nehmen Sie sich doch kurz die Zeit dazu, dann verstehen Sie auch, warum die BPMN erfunden wurde.
Das Thema Business Process Management (BPM) wird von zahlreichen Autoren und Experten unterschiedlich definiert. Wir folgen der Definition der European Association of BPM (EABPM), die in der deutschen Fassung ihres Referenzwerkes „BPM Common Body of Knowledge“ [ Eur09] schreibt:
Die englische Bezeichnung „Business Process Management“ oder BPM wird synonym verwendet für Geschäftsprozessmanagement oder auch einfach Prozessmanagement. Als Prozess wird eine Reihe von festgelegten Tätigkeiten (Aktivitäten, Aufgaben) definiert, die von Menschen oder Maschinen ausgeführt werden, um ein oder mehrere Ziele zu erreichen. Letztlich geht es darum, einen Kundennutzen zu schaffen und damit auch für das Unternehmen Wert zu generieren.
Business Process Management (BPM) ist ein systematischer Ansatz, um sowohl automatisierte als auch nicht automatisierte Prozesse zu erfassen, zu gestalten, auszuführen, zu dokumentieren, zu messen, zu überwachen und zu steuern und damit nachhaltig die mit der Unternehmensstrategie abgestimmten Ziele zu erreichen. BPM umfasst die bewusste und zunehmend IT-unterstützte Bestimmung, Verbesserung, Innovation und Erhaltung von End-to-end-Prozessen.
Der Begriff „End-to-end-Prozess“ ist etwas irreführend, weil damit eigentlich „von Anfang bis Ende“ gemeint ist. Es geht also darum, nicht nur Prozessfragmente zu betrachten, sondern den Prozess als Ganzes zu verstehen und ihn entsprechend ganzheitlich zu bewerten und zu optimieren. Wir halten die Definition der EABPM auch deshalb für hilfreich, weil sie zunächst ganz explizit zwischen automatisierten und nicht automatisierten Prozessen unterscheidet, diese dann aber gleichermaßen in den Betrachtungshorizont von BPM rückt. Mit dieser Definition schaffen wir ein Grundsatzverständnis für BPM, das für die erfolgreiche Anwendung absolut notwendig ist: Es geht weder darum, Prozesse lediglich aus organisatorischer Perspektive zu verbessern, noch reicht es aus, sie allein durch neue IT zu unterstützen. Eine kombinierte Anwendung der Methoden aus beiden Bereichen ist notwendig und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der beiden Fraktionen unumgänglich.
Wann wird BPM angewandt? Als spezialisierte Berater haben wir in den meisten Fällen eine der folgenden drei Ausgangssituationen für ein BPM-Projekt erlebt:
1. Bestehende Prozesse sollen organisatorisch und/oder durch IT verbessert werden.
2. Bestehende Prozesse sollen dokumentiert werden.
3. Neue Prozesse sollen eingeführt werden.
Den ganz überwiegenden Anteil unserer Projekte stellt dabei der erste Fall und dort vor allem die Prozessverbesserung mithilfe von IT. Die Motivation für solche Projekte ist natürlich häufig eine Verbesserung der Effizienz, indem man beispielsweise Medienbrüche durch neue Softwareschnittstellen abbaut und somit das manuelle Abtippen von Formularen überflüssig macht. Aber auch eine IT-gestützte Überwachung und kennzahlenbasierte Auswertung laufender Prozesse, zum Beispiel im Rahmen des Rechnungseingangs oder der Bearbeitung von Kundenbeschwerden, gehört in dieses Segment.
Der zweite Fall, die reine Dokumentation von Prozessen, kommt in der Regel aus zwei Gründen vor: Erstens, damit sich die am Prozess beteiligten Mitarbeiter bei ihrer täglichen Arbeit orientieren können. Zweitens, weil die Dokumentation im Rahmen juristischer Anforderungen oder zur Erlangung einer bestimmten Zertifizierung, z. B. nach ISO 9000, erforderlich ist.
Den dritten und vergleichsweise seltenen Fall der Neueinführung von Prozessen erleben wir vor allem in Unternehmen, die sich auf veränderte Marktbedingungen einstellen und neue Vertriebskanäle erschließen wollen, oder auch im Rahmen der Platzierung neuer Produkte.
In der öffentlichen Diskussion werden außerdem gern die allgemeine Einführung von BPM und die grundsätzliche Erhöhung der Prozessorientierung des Unternehmens als Projektauslöser genannt. In der Praxis laufen tatsächlich einige Projekte, zumeist in größeren Unternehmen, offiziell unter dieser Flagge. Wenn man genau hinschaut, trifft auf solche Projekte aber stets eine der beiden folgenden Eigenschaften zu:
1. Entweder bezieht sich das Projekt im Kern doch wieder auf bestimmte Prozesse, die verbessert, dokumentiert oder neu eingeführt werden sollen. Das wird dann auch gern als „akuter Anlass“ bezeichnet.
2. Oder das Projekt dient tatsächlich der ganz allgemeinen, „strategischen“ BPM-Einführung. Dann stiftet es keinen direkten Nutzen, sondern wurde vermutlich im Rahmen der Profilierungsstrategie eines karrierebewussten Managers angestoßen.
Gerade die zweite Behauptung stößt nicht immer auf Gegenliebe, wie Sie sich denken können. Sie entspricht aber unserer Erfahrung, und wir vertreten sie vehement: BPM, Prozessmanagement oder wie auch immer man es nennen möchte, hat noch nie etwas gebracht, wenn es zum Selbstzweck eingeführt wurde.
Wir empfehlen deshalb immer ein Schritt-für-Schritt-Vorgehen, wenn BPM eingeführt wird. Jeder Schritt muss einen konkreten, messbaren Nutzen bringen, der den damit verbundenen Aufwand mehr als rechtfertigt. Ist dies geschehen, kann der nächste Schritt unternommen werden. Das bedeutet nicht, dass bei diesem Vorgehen zwangsläufig Insellösungen entstehen. Das Ergebnis eines jeden Schritts ist ein weiterer Beitrag zu einem großen Ganzen: der Prozessorientierung des Unternehmens. Damit dies gelingt, müssen Sie Ihre Schritte in die richtige Richtung lenken. Beim Wandern benutzen Sie dazu Karte und Kompass, bei der Einführung von BPM ein gutes Vorgehensmodell und Ihren gesunden Menschenverstand.
1.1.3 | Camunda-BPM-Kreislauf |
Vorgehensmodelle sind immer entweder zu trivial oder zu komplex. Wenn sie zu trivial sind, enthalten sie nur selbstverständliche Banalitäten und eignen sich bestenfalls für Marketingpräsentationen. Komplexe Vorgehensmodelle versuchen hingegen alle Eventualitäten vorwegzunehmen und nageln den Anwender auf einen Plan fest, der an dessen Realität meistens vorbeigeht.
Aber ganz ohne Modell fehlt uns die bereits erwähnte Karte, an der wir uns in unseren BPM-Projekten orientieren müssen. Wir haben uns deshalb das gängigste Vorgehensmodell für BPM angesehen, den einfachen BPM-Kreislauf, und diesen ausgehend von unserer Praxiserfahrung ein wenig weiterentwickelt. Das Ziel war ein relativ leichtgewichtiges Modell, das uns nicht zu sehr einengt, aber eben doch etwas realistischer ist als die bunten Kreisläufe in den diversen Marketingfolien, die man auf Konferenzen häufig sieht. Wir nennen es einfach den „Camunda-BPM-Kreislauf“ und Sie finden ihn in Abbildung 1.1.
Abbildung 1.1 Der Camunda-BPM-Kreislauf
Der Kreislauf ist zur Anwendung für separate Prozesse gedacht, er kann also für jeden Prozess einzeln durchlaufen werden und sich jeweils in unterschiedlichen aktuellen Stadien befinden. Ausgelöst wird er durch eine der beiden folgenden Ausgangssituationen:
Es soll ein existierender Prozess dokumentiert und/oder verbessert werden.
Es soll ein ganz neuer Prozess eingeführt werden.
Ein bereits existierender Prozess muss zunächst erhoben werden. In dieser Prozesserhebung wird der Prozess sauber von vor- bzw. nachgelagerten Prozessen abgegrenzt. Es wird ermittelt, welche Leistung dieser Prozess gegenüber welchem Kunden erbringt und welche Priorität er aus Sicht des Unternehmens besitzt. Die im Prozess auszuführenden Aufgaben sowie die am Prozess beteiligten Rollen und IT-Systeme werden mithilfe von Erhebungstechniken wie z. B.Workshops oder Einzelinterviews identifiziert.
Die Erkenntnisse der Prozesserhebung werden in einem IST-Prozessmodell dokumentiert. Diese Prozessdokumentation kann aus ganz unterschiedlichen Diagrammen und weiterführenden Beschreibungen zusammengesetzt werden, sie besteht also häufig nicht nur aus einem einzelnen Ablaufdiagramm.
Im Rahmen einer systematischen Untersuchung des IST-Prozesses werden die Ursachen für wahrgenommene Schwachstellen eingegrenzt und eindeutig identifiziert. Prozessanalysen werden entweder durchgeführt, weil ein erstmalig dokumentierter Prozess offenkundige Schwachstellen besitzt oder im Rahmen des kontinuierlichen Prozesscontrollings Schwachstellen erkannt wurden, die sich nicht allein durch kleinere Anpassungen beheben lassen.
Die in der Prozessanalyse erkannten Ursachen für Schwachstellen sind der Ausgangspunkt für eine erneute Prozesskonzeption. Hier können ggf. unterschiedliche Varianten mithilfe der Prozesssimulation evaluiert werden. Eine Prozesskonzeption findet auch dann statt, wenn ein Prozess neu eingeführt werden muss. In beiden Fällen ist das Ergebnis ein SOLL-Prozessmodell.
Die Umsetzung des SOLL-Prozessmodells in einen realen Prozess findet in der Regel sowohl...