Maßvoll oder bedenklich?
Alkoholprobleme sind weit verbreitet und zeigen sich nicht immer nur in Form einer schweren Abhängigkeit. Aktiv hinzuschauen und nachzufragen, kann helfen, Schlimmeres zu verhindern.
Aus dem einen Bier hin und wieder wurden über Monate oder Jahre jeden Abend mehrere Flaschen nach der Arbeit, um den Ärger zu vergessen. Die Abende mit Kumpels enden jedes Mal in einem Vollrausch. Gemeinsame Hobbys oder Unternehmungen, mit denen Sie früher zusammen viel Zeit verbrachten, gibt es kaum noch. Wenn Ihr Ehemann, Ihre Freundin, Ihr Kollege oder Ihre Schwester Alkohol getrunken hat, fühlen Sie sich unwohl, und allzu oft sagen Sie dann lieber gar nichts, um Streit zu vermeiden. Manchmal schafft es der Betroffene nicht zur Arbeit, weil die Nachwirkungen des vorigen Abends zu schwer sind. Sie haben schon unendlich viele Versprechen gehört, dass sich jetzt wirklich etwas ändert, doch nichts ist geschehen. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen und vielleicht kommt Ihnen die eine oder andere Szene mehr als vertraut vor.
Vielleicht haben Sie bisher aber auch nur eine vage Vermutung, ein ungutes Gefühl, wenn Sie an den Alkoholkonsum denken, und haben das Thema noch nie angesprochen. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Noch immer sind Alkoholprobleme schambehaftet. Man möchte nicht, dass das Umfeld mitbekommt, dass ein Familienmitglied oder der beste Freund trinkt. Noch immer gilt ein Alkoholproblem als Willensschwäche. Doch die Ehefrau, den Sohn, die Schwester oder den Freund, die Kollegin kennt man doch gar nicht als „Schwächling“. Aus diesem Grund rechtfertigt man gerne den Alkoholkonsum eines nahestehenden Menschen. Man spielt herunter, vergleicht die Trinkmengen mit anderen, glaubt Beteuerungen des Betroffenen oder findet Ausreden anderen gegenüber.
Ob der Alkoholkonsum einer Person noch maßvoll oder schon bedenklich ist, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Ein recht guter und gleichzeitig pragmatischer Weg ist, auf das eigene Gefühl zu hören: Sie wundern sich über den Konsum Ihres Angehörigen? Sie machen sich Sorgen? Empfinden Sie die Konsumhäufigkeit, die Trinkmengen oder die Anlässe, aus denen Alkohol getrunken wird, als unangemessen? Sie stört das Konsumverhalten und Sie leiden darunter? Wenn Sie auch nur eine dieser Fragen mit „Ja“ beantwortet haben – und das ist sehr wahrscheinlich, wenn Sie dieses Buch gekauft haben –, dann ist der Alkoholkonsum dieser Person bedenklich. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Alkoholkonsum ein als „normal“ angesehenes, gesellschaftlich akzeptiertes Maß übersteigt (siehe S. 17 f).
Alkoholmissbrauch ist immer noch ein Tabuthema. Man redet nicht darüber, nicht innerhalb der Familie und erst recht nicht mit Außenstehenden. Dabei sind Alkoholprobleme weit verbreitet – in der eigenen Familie, bei Partnern, Eltern, Kindern oder Geschwistern, in befreundeten Familien, bei Nachbarn oder Kollegen. Und eine Lösung beginnt immer damit, darüber zu sprechen!
Wie Ihnen dieses Buch hilft
In diesem Buch stehen Sie als Angehöriger eines Menschen mit Alkoholproblem im Mittelpunkt. Es zeigt Ihnen, was Sie selbst tun können, um Ihre Situation zu verbessern.
Das Buch ist für jeden, der sich Sorgen oder Gedanken über den Alkoholkonsum eines nahestehenden Menschen macht. Sie können sich davon angesprochen fühlen, auch wenn bei Ihrem Angehörigen (noch) keine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert worden ist. Je früher Sie sich damit auseinandersetzen, wie Sie einer Alkoholkonsumstörung – so der medizinische Fachbegriff – in Ihrem nahen Umfeld begegnen können, desto besser sind die Chancen, dass der Betroffene einen Weg aus dem Konsum findet und dass es Ihnen selbst gelingt, gesund zu bleiben. Denn auch Sie leiden. Und vor allem dann, wenn der Alkoholmissbrauch Ihres Angehörigen bereits offensichtlich und sehr schwer ist, erhalten Sie hier Rat und Unterstützung.
Als Angehöriger sind Sie ebenfalls betroffen
Unter Alkoholproblemen leiden die Angehörigen häufig stärker als der Betroffene selbst. Zudem sind in der Regel im Umfeld eines Alkoholikers mehrere Angehörige belastet, sodass die Anzahl der mitleidenden Personen deutlich höher ist als die Zahl der Alkoholkranken.
Alkohol löst ein Verlangen nach Mehr aus. Die Grenzen zwischen unproblematischem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit sind fließend. Mit dem Alkoholkonsum steigt auch die Belastung der Angehörigen immer stärker an. Zudem ist es für Angehörige leider umso schwerer, eine Änderung beim Betroffenen zu erreichen, je größer dessen Alkoholproblem ist. Darum ist es gut, möglichst früh aktiv zu werden.
Dieser Ratgeber und die vorgestellten Hilfestellungen gelten, egal, ob Sie erwachsenes Kind oder Elternteil oder guter Freund oder Arbeitskollege sind. Weil aber häufig Ehe- oder Lebenspartner, und besonders häufig Partnerinnen betroffen sind, wird das Vorgehen beispielhaft an dieser Personengruppe durchgesprochen.
Der Ansatz dieses Ratgebers
Wie Sie vielleicht aus eigener Erfahrung wissen, bringt vieles von dem, was man fast automatisch macht, das Drohen, Schreien und Kontrollieren, nichts im Kampf gegen den Alkohol. Da Sie dieses Buch lesen, sind Sie dennoch weiterhin auf der Suche nach einem geeigneten Vorgehen, nach Tipps, was Sie tun können. Wahrscheinlich wird Sie der Ansatz, den dieses Buch verfolgt, überraschen. Denn die folgenden Kapitel beschäftigen sich vor allem mit Ihrer Situation als Angehöriger. Ihnen werden darin Wege aufgezeigt, wie Sie Ihren Fokus mehr auf sich richten können. Dieses Buch kann Ihnen helfen,
wenn Sie sich aufgrund der Alkoholproblematik hilflos fühlen,
wenn Sie Angst haben, dass sich der Betroffene durch das Trinken schwer schädigt,
wenn der Alkohol droht, Ihre Ehe oder Beziehung zum Betroffenen zu zerstören, oder
wenn der Alkoholkonsum des Betroffenen Auswirkungen auf Ihre Kinder hat.
Die Vorschläge und Tipps, die wir Ihnen dabei geben, basieren weitgehend auf einem erprobten, wissenschaftlich untersuchten und nachweislich Erfolg versprechenden Ansatz. Dieses Programm nennt sich CRAFT-Modell. CRAFT steht für „Community Reinforcement Ansatz: Das Familien-Training“. Es vermittelt Ihnen neue und hilfreiche Strategien im Umgang mit dem Betroffenen – und das in unterschiedlichen Lebenslagen. Die Wirksamkeit des Programms wurde in verschiedenen Untersuchungen belegt. Werden die einzelnen Teile vollständig durchgeführt, haben sich auch Betroffene in Behandlung begeben, die zuvor nicht dazu bereit waren.
Mindestens genauso wichtig ist aber, dass sich durch das Programm Ihre eigene Lebensqualität deutlich verbessert, und das unabhängig davon, ob sich der Betroffene letztendlich in Behandlung begibt oder nicht.
Trauen Sie sich, den Ihnen vertrauten Weg, der bisher keinen Erfolg gebracht hat, zu verlassen, und seien Sie offen dafür, neue Möglichkeiten der Interaktion mit dem Betroffenen zu erlernen.
Das CRAFT-Programm ist ein von einem Therapeuten oder Suchtberater mit CRAFT-Ausbildung angeleitetes Programm, das zehn bis zwölf Einheiten umfasst. Das Buch kann eine CRAFT-Therapie nicht ersetzen. Doch Sie bekommen einen Leitfaden mit Übungen, Vorgehensweisen und Beispielen an die Hand, mit deren Hilfe Sie verstehen werden, wie Sie mit der Situation besser zurechtkommen, gleichzeitig gesund bleiben und obendrein auf eine Verhaltensänderung des Betroffenen hinwirken können.
Analysieren Sie Ihre Situation
Je nachdem, ob Sie Partner oder Bruder, Mutter oder Kind eines trinkenden Menschen sind, nehmen auch Sie unterschiedliche Rollen ein.
Die Situation, in der Sie sich befinden, kann sehr unterschiedlich sein. Der Betroffene kann Ihr Partner sein. Es kann aber auch Ihr (erwachsenes) Kind, ein Elternteil, eine Schwester oder ein Bruder, ein guter Freund oder auch ein Kollege sein. Von Ihrer Nähe zu dem Betroffenen hängt teilweise ab, wie Sie agieren können, was Sie bewirken können und wie stark Sie selbst involviert sind. Eine Person, die täglich einen Trinker zu Hause hat, ist anderen Belastungen und Themen ausgesetzt als ein Arbeitskollege – und kann auch anders einwirken. Erstere Person bekommt das Ausmaß des Alkoholkonsums deutlich zu spüren. Leere Flaschen, zunehmende Unzuverlässigkeit, häufige Auseinandersetzungen, finanzielle Sorgen und Ängste, dass Außenstehende etwas merken könnten, oder aggressives Verhalten – all das kann auftreten. Ein Arbeitskollege hingegen wird eher mit der nachlassenden Leistung konfrontiert sein, die häufig zur Folge hat, dass Aufgaben des trinkenden Kollegen übernommen werden, sodass man selbst deutlich mehr Arbeit hat und dadurch zunehmend belastet wird.
Für Sie ist es in Ihrer Rolle...