1.1 | Was ist ein Produktionssystem? |
Ein Produktionssystem hat Prinzipien, Standards, Methoden und Werkzeuge, die ein Unternehmen sowohl für die Organisation als auch für die Arbeits- und Produktionsweise zur Herstellung und Vermarktung seiner Produkte benötigt.
Das sicherlich bekannteste Produktionssystem ist das Toyota-Produktionssystem (auch TPS genannt), welches zwischenzeitlich weltweit von vielen Unternehmen kopiert oder in Anlehnung daran zu einem eigenen Produktionssystem umgewandelt wurde. Viele von Toyota entwickelte Prinzipien, Methoden und Werkzeuge sind Grundlage des Lean Managements. Das wesentliche Ziel des Lean Management ist es, Werte ohne Verschwendung zu schaffen. Dies gilt sowohl für die administrativen als auch die produktiven Unternehmensbereiche.
Ein umfassendes Produktionssystem muss von der Geschäftsleitung gewollt sein, entwickelt und auf das Unternehmen zugeschnitten und auf allen Führungsebenen vorgelebt werden. Eine Neuausrichtung eines Unternehmens erfordert eine koordinierte Vorgehensweise und vor allem Zeit, da die eigentliche Veränderung in den Köpfen aller Mitarbeiter stattfinden muss.
Ein wesentlicher Grundsatz war und ist, nicht das Toyota Produktionssystem zu kopieren, sondern wesentliche Elemente daraus zur Entwicklung eines eigenen, den Anforderungen Ihres Unternehmens angepassten Produktionssystems, zu verwenden.
1.2 | Mein Weg zum nachhaltigen Produktionssystem |
Am Anfang möchte ich ein paar Worte zu meinem beruflichen Werdegang sagen, damit Sie als Leser nachvollziehen können, welche Erfahrungen mich zum Schreiben des vorliegenden Buches „Produktionssysteme wettbewerbsfähig gestalten“ geführt haben.
Mitte der 1980er Jahre begann ich mein Studium an der damaligen Berufsakademie Stuttgart in der Fachrichtung Maschinenbau. Ein Studium an der Berufsakademie (heute: Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart) unterscheidet sich grundlegend von denen anderer Hochschulen. Zum einen ist die Studiendauer kompakte sechs Semester, zum anderen ist man während des Studiums in einem Unternehmen angestellt. Dort verbringt man in Blöcken drei der sechs Semester damit, alle Bereiche des Unternehmens zu durchlaufen und deren Abläufe kennenzulernen. So bekam ich also bereits am Anfang meiner Berufsausbildung, ohne dass ich mir dessen bewusst war, vermittelt, wie unzuverlässige Prozesse und Planungsstrategien für Produktionsabteilungen letztendlich zu hohen Lagerbeständen führen und trotzdem die Kundenanforderungen nicht oder nur mit langen Lieferzeiten erfüllt werden können. Trotz langer Lieferzeiten war nicht sichergestellt, dass alle Produkte fehlerfrei dem Kunden ausgeliefert wurden. Diese von mir akzeptierte und auch praktizierte Arbeitsweise hat mich dann nahezu unverändert bis ins 21. Jahrhundert begleitet.
Nach meinem Studium bekam ich die Chance, als Konstrukteur in meiner Ausbildungsfirma übernommen zu werden. Meine erste Aufgabe war die Auswahl und Einführung eines CAD/CAM-Systems zur computergestützten Konstruktion von Werkzeugen und Formen. Nach erfolgreicher Einführung und Schulung der Konstrukteure stand als nächste Aufgabe die Standardisierung von Bauteilen und Baugruppen für Schnittwerkzeuge an. Der Antrieb hierfür kam aus der Anforderung, die Kosten für die Werkzeugkonstruktion zu senken.
Zu diesem Zeitpunkt war ich das erste Mal mit abteilungsübergreifenden Abläufen konfrontiert und lernte schnell kennen, wie, statt Integration und Vereinfachung von Abläufen zu praktizieren, mehr auf die Abschottung von Abteilungen gesetzt wurde. Diese Erscheinung war im Wesentlichen eine Folge der mangelnden Zusammenarbeit bei abteilungsübergreifenden Veränderungen.
Mit fortschreitendem Standardisierungsgrad für die Konstruktion wurde im Werkzeugbau begonnen, diese Standardelemente und Baugruppen in einem Lager für Normteile einzulagern. Die Herstellung der Komponenten erfolgte in großen Losen und war völlig losgelöst von den tatsächlichen Mengenanforderungen.
In den folgenden Jahren wurde mir im Unternehmen immer umfangreichere Verantwortung übertragen. Ich bekam Einblick in viele Unternehmensvorgänge und Entscheidungen.
Somit erlebte ich direkt mit, wie der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens aufgrund fehlender Visionen, Strategien und Methoden zu keiner Zeit vorhersehbar war. Marktanteile gingen verloren, Neuprojekte konnten nur noch mit wenigen Kunden und hohem Aufwand realisiert werden. Die Folge daraus war ein ständiger Druck, die Kosten zu senken, was zunächst zu einem erheblichen Abbau von Personal führte. Dies hatte zur Folge, dass in gleichem Maße Know-how verloren ging. Anschließend wurden Produkte mit hohem Lohnkostenanteil in sogenannte „Billiglohnländer“ ohne das nötige Know-how verlagert. Folglich musste im deutschen Stammhaus weiteres Personal im Produktionsbereich abgebaut werden. Der neue Standort in Osteuropa konnte durch fehlendes Know-how die Kundenanforderungen nur bedingt erfüllen. Als Konsequenz daraus wurden dann qualifizierte Mitarbeiter des Stammhauses zur Unterstützung entsandt, um fehlendes Wissen und Erfahrung zu vermitteln. Diese Mitarbeiter und deren Wissen fehlten dann wiederum im Stammhaus, was dort direkt zu Lieferengpässen und Qualitätsproblemen führte. Nach langer Zeit, viel Aufwand und einer gehörigen Portion Imageschaden konnte die Situation an beiden Standorten stabilisiert werden.
Eine weitere Erkenntnis aus dieser Zeit war, dass ich in meiner Funktion als Technischer Leiter nur von einem Brandherd zum nächsten unterwegs war. Ich konnte mit meinen Mitarbeitern oftmals das Feuer löschen, jedoch nie sicherstellen, dass der Brandherd für alle Zeiten unschädlich gemacht werden konnte. Die Ursache hierfür ist in mangelhaften oder gar fehlender Nachhaltigkeit durch fehlende Prozessstandards zu finden, welche die Fertigung immer wieder in ungeplante Unterbrechungen, hohe Ausschuss- und Nacharbeitsraten und überschrittene Liefertermine zwang.
Eine große Gefahr besteht darin, dass man sich als Vorgesetzter und Mitarbeiter schnell an unzureichende bzw. fehlerhafte Abläufe gewöhnt, diese somit zum „Normalzustand“ werden. Ein konsequentes Handeln nach den sogenannten „Kostengesichtspunkten“, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, führt dann unausweichlich zu den oben beschriebenen Unternehmensentscheidungen.
Als Folge daraus stellte sich bei mir schleichend eine Unzufriedenheit ein, welche mir bis dahin nicht bekannt war.
In all den Jahren hatte ich mit enormen Verschwendungen zu tun, ohne sie selbst zu sehen oder zu erkennen. Ich stellte mir selbst oft die Frage, wie Veränderungen nachhaltig und erfolgreich mit geringstem möglichem Aufwand betrieben werden können.
Im Jahr 2004 hatte ich die Möglichkeit, an einer Zusatzqualifikation zum Lean Coach teilzunehmen. Ich lernte, Verschwendungen zu identifizieren und diese unter Anwendung bestimmter Tools, zumindest teilweise, abzustellen. Einen Zusammenhang zu einem all umfassenden Produktionssystem erkannte ich erst, als ich mich eingehender mit dem Toyota-Produktionssystem (TPS) befasste. Hier war zu erkennen, wie die Ergebnissituation eines Unternehmens nachhaltig verbessert werden kann. Ab diesem Zeitpunkt war ich in der Lage, nachhaltige Prozesse zu schaffen.
1.3.1 | Entscheidungsfindung und Maßnahmen |
Wer kennt das nicht:
Ein Kunde erhöht überraschend die Abnahmemenge eines Produktes. Die Geschäftsführung und Belegschaft sollten sich eigentlich darüber freuen, stellt dies doch eine ungeplante Umsatz- und Ergebnissteigerung in Aussicht, wären da nicht die Probleme instabiler Fertigungsprozesse und nicht nachhaltiger Prozessabläufe.
Es müssen also schnell einige Entscheidungen getroffen und Maßnahmen in Gang gesetzt werden:
Prüfung der Kapazität (Mitarbeiter, Maschine, Material)
Die Prüfung der Kapazität ergibt, dass durch häufigeres Umrüsten die Stillstandszeiten der benötigten Maschine, die zur Herstellung auch anderer Produkte verwendet wird, unnötig gesteigert werden. Somit entscheidet man sich für das Fertigen großer Lose, die nicht den Frequenzen der Lieferabrufe des Kunden entsprechen und somit zum ungeplanten Bestandsaufbau führen. Die zusätzliche Personalkapazität wird dadurch sichergestellt, dass eine befristete Vereinbarung zur zwei-schichtigen Samstagsarbeit zwischen den Betriebsparteien getroffen wird.
Maßnahmen zur Stabilisierung des Fertigungsprozesses
Da die Zeit drängt, entscheidet man sich, lediglich an zwei von acht identifizierten „Prozessbremsen“ Verbesserungen vorzunehmen. Die restlichen Verbesserungen werden nicht mehr durchgeführt und durch Einsatz von zusätzlichem Personal ausgeglichen. Dies hat zur Folge, dass die Plankosten überschritten und gleichzeitig die Maschinenkapazität über Plan beansprucht wird. Dies wiederum hat die Konsequenz, dass andere auf der Maschine zu fertigende Produkte verspätet gestartet und somit auch verspätet ausgeliefert werden. Während der Produktion stellt man dann fest, dass eine der zwei durchgeführten Verbesserungsmaßnahmen nicht den erhofften Erfolg erbringt.
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