1 Ursprünge und Entwicklungen der Psychoanalyse
Über die Psychoanalyse zu schreiben, ist nicht erst seit der innerpsychoanalytischen Pluralismusdebatte (Wallerstein 1992; Green 2005) schwierig geworden. Auch kann die lange Zeit gängige Unterteilung Pines (1988) in vier psychoanalytische »Psychologien« (Triebtheorie, Ichpsychologie, Selbstpsychologie und Objektbeziehungstheorie) nicht mehr alle Strömungen abbilden, die in der zeitgenössischen Psychoanalyse eine Rolle spielen (vgl. zu psychoanalytischen Schulen z. B. Mertens 2010; 2011). Im Weiteren beziehe ich mich auf die Freudsche Psychoanalyse und in der Darstellung von deren Entwicklung auf diejenigen Autoren, die eine zentrale Position hinsichtlich der Weiterführung einnehmen (und weniger auf diejenigen, die die Freudsche Theorie ergänzt haben, z. B. in Form der Narzissmustheorie Kohuts). Das ist zwar einerseits eine etwas künstliche Trennung, andererseits ermöglicht sie jedoch eine in diesem Zusammenhang nötige Akzentsetzung auf die Darstellung dessen, was aus den Freudschen Konzepten geworden ist. Und hier bieten sich diejenigen Autoren an, die meist in einer Linie mit Freud gesehen werde, etwa in einer Rede der Freud-Klein-(Bion-) Richtung, bei den sog. »contemporary Freudians« (unter denen Sandler als der wichtigste zu nennen ist) und schließlich diejenigen, die sich einer Re-Lektüre Freuds verschreiben (Lacan, Laplanche, Green), mit dem Ziel einer Fortführung (vgl. umfassender auch: Conci und Mertens 2016).
1.1 Freuds Psychoanalyse
Um »Freuds Psychoanalyse« soll es also gehen und damit ist nicht allein auf die folgende Darstellung der wissenschaftlichen und disziplinären Hintergründe und der konzeptuellen und behandlungstechnischen Entwicklung der Psychoanalyse durch Freud verwiesen, sondern auch auf die Verflechtung der Psychoanalyse mit Freuds Biografie und seiner Selbstanalyse (die ihn, nicht zuletzt über die Analyse seiner eigenen Träume oder die Reflexion der Bedeutung des Todes seines Vaters, in seiner Konzeptentwicklung beeinflusste). Dabei bleiben allerdings biografische Aspekte Freuds im engeren Sinn weitgehend außen vor (vertiefend dazu siehe z. B. Jones 1960; Schur 1972; Gay 1987; P. Schneider 1999).
Für die Diskussion der psychoanalytischen Grundkonzepte ab Abschnitt 2.1.2 ist auf die Arbeiten von Laplanche und Pontalis (1967), Zepf (2006a), Mertens (2014) oder Ermann (2015) zu verweisen.
1.1.1 Wurzeln
Medizin und Neuropathologie
Nachdem es zunächst Freuds Wunsch gewesen war, Jura zu studieren und Politiker zu werden (P. Schneider 1999, S. 27), entschied er sich dafür, 1873 in Wien ein Medizinstudium zu beginnen – und das, obwohl er als Kind »niemals ›Doktor‹ gespielt« hatte (Freud 1927a, S. 290)! Was die Ausrichtung des Medizinstudiums anging, war die Abgrenzung von der (Natur-)Philosophie besonders wichtig – dem gegenüber hatten Anatomie und Physiologie eine entscheidende Bedeutung. Auch die Darwinsche Evolutionstheorie dürfte im Hintergrund sehr spürbar gewesen sein. Das sog. »Manifest« der Helmholtz-Schule (ein Briefauszug Emil Du Bois-Reymonds), zu dessen Kreis Emil Brücke, einer der frühen Lehrer Freuds, an dessen physiologischem Institut er zwischen 1876 und 1882 arbeiten würde, gehörte, bezog sich auf das Programm, nur physikalisch-chemische Kräfte als im Organismus wirksam anzunehmen – und bisher unerklärte Phänomene durch die hinzugezogene Annahme »neue[r] Kräfte« zu erklären, »welche, von gleicher Dignität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent, stets nur auf abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind« (zit. n. P. Schneider 1999, S. 28).
Zwar sind Freuds zoologische Forschungen zu den Geschlechtsorganen von Aalen nicht ohne historische Kuriosität, wichtiger in seiner Studienzeit ist allerdings die Beschäftigung mit der Neurophysiologie im Labor Brückes. Der Aufenthalt dort ist aus einem weiteren Grund für die Entwicklung psychoanalytischen Denkens wichtig gewesen, nämlich dahingehend, dass Freud dort auf Josef Breuer traf, mit dem er 1895 die Studien über Hysterie veröffentlichen würde, so etwas wie den Gründungstext psychoanalytischen Arbeitens. Zuvor schloss Freud 1881 sein Studium mit der Promotion ab, 1885 folgte die Habilitation im Fach Neuropathologie (in den Jahren dazwischen hatte Freud zunächst in einer Abteilung für Innere Medizin und dann im hirnanatomischen Labor Theodor Meynerts gearbeitet und geforscht). Mit einer akademischen Laufbahn sah es aus verschiedenen Gründen (Freuds Judentum ist einer unter anderen gewesen) schlecht aus, auch deshalb, weil Freud im Anschluss an seine Heirat mit Martha Barnays in 1886 den Entschluss traf, seine Familie eher durch das Einkommen aus einer nervenärztlichen Praxis finanziell versorgen zu können. Dieser Schritt ist für die Entwicklung der Psychoanalyse nicht unerheblich gewesen, ging es doch in seinen Studien nun weniger um Anatomie und Physiologie, sondern um »Fälle« von Hysterie, die er erforschte.
Die Philosophie Franz Brentanos
Mit Freuds Studienbeginn entfiel die Philosophie als Pflichtfach im Wiener Medizinstudium, nichtsdestoweniger besuchte er drei Jahre lang die Vorlesungen Franz Brentanos, der einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Phänomenologie Husserls haben sollte. Husserl besuchte die selben Vorlesungen Brentanos wie Freud, zog daraus aber letztlich Folgerungen fürs Bewusstsein statt für das Unbewusste. Am 1894 nach Wien berufenen Brentano, den Freud offenbar sehr bewunderte, ist weiter entscheidend, dass er als ehemaliger Priester nicht nur die Philosophie, sondern mit der Theologie noch einen zweiten Zweig repräsentierte, der zur anatomischen, physikalisch-chemischen Ausrichtung des Wiener Medizinstudiums und dem Anliegen des jungen Freud in einem deutlichen Gegensatz stand. Brentano beschäftigte sich, verkürzt gesprochen, mit Bewusstseinsakten und thematisierte dabei die Intentionalität des Bewusstseins, wie sie später bei Husserl weiter ausgearbeitet werden würde. Gemeint ist damit im Wesentlichen, dass »Bewusstsein« (sofern man es nicht schlicht als das Gegenteil von Bewusstlosigkeit versteht, also nicht als bloße Vigilanz) nicht losgelöst von Bewusstseinsakten steht und damit immer Bewusstsein von etwas ist (vgl. z. B. Stegmüller 1975, Kap. 1; in der Relevanz für die Psychoanalyse besonders Schöpf 2014, S. 33ff.). Hier liegt im Übrigen auch die Ablehnung Brentanos gegenüber unbewusster Seelentätigkeit begründet: Einer Aktpsychologie in diesem Sinn muss es als ein Widerspruch erscheinen, dass es Unbewusstheit von etwas geben sollte. »Intentionalität« ist dabei nicht als auf physikalische Phänome gerichtet zu beschreiben (wie etwa die Wahrnehmung von etwas), auch wenn es sich auf etwas in der Welt richtet. Brentanos Lehre markiert dabei einen Überschneidungsbereich zwischen Psychologie und Philosophie – liest man dies als eine Abkehr von spekulativer Naturphilosophie oder Metaphysik, sind die Anreize, die es für Freud hatte, Brentano zu hören, leicht ersichtlich: die Empirie einer »deskriptiven Psychologie« und die naturwissenschaftliche Methode, sowie eine Diskreditierung von romantischer Naturphilosophie oder deutschem Idealismus. Der Einfluss Brentanos auf Freud ist lange Zeit unterschätzt worden (vgl. Gödde 2009, S. 93ff.).
Freuds ambivalente Haltung zur Psychologie
Einerseits kann also davon gesprochen werden, dass Freud über Brentano eine gewisse Art von Psychologie als Theorie des Psychischen nahegebracht wurde, d. h. der Gedanke einer methodisch naturwissenschaftlichen, empirischen Sicht darauf, dass auch eine Innenperspektive jenseits der Wahrnehmung erforschbar ist (Urteile z. B. oder andere Bewusstseinsakte). Ebenso hatten Helmholtz, Brücke und Du Bois-Reymond und anders auch Gustav Theodor Fechner, dessen Einfluss auf Freuds frühes Denken ebenso wenig übergangen werden sollte, Berührungspunkte mit der Psychologie. Die Psychologie als akademische Disziplin entwickelte sich zudem parallel zu Freuds Medizinstudium, deutlich etwa an der Begründung des Wundtschen Labors in Leipzig im Jahr 1879. Bereits 1872/73, zeitgleich also mit dem Beginn von Freuds Medizin-Studium in Wien, war Wundts Arbeit Grundzüge der Physiologischen Psychologie erschienen. Auch Theodor Lipps wurde ein Bezugspunkt Freuds und es war Stanley Hall, der ihn 1909 in die USA einlud.
Und auch wenn Freud sich zweifellos mit der Psyche beschäftigte, dem empirischen Grundgedanken der Psychologie nahe stand und in seinen Überlegungen einige wichtige Figuren in der Anfangszeit der akademischen Psychologie als...