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Psychoanalytische Forschung

Methoden und Kontroversen in Zeiten wissenschaftlicher Pluralität

AutorCord Benecke, Marianne Leuzinger-Bohleber, Stephan Hau
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl246 Seiten
ISBN9783170291522
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Als ein 'Junktim zwischen Heilen und Forschen' charakterisierte Freud die Forschung in der Psychoanalyse. Das analytische Verfahren sei das einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen gewahrt bleibe. Bis heute provoziert die 'Junktimforschung' Kontroversen zwischen der 'klinischen' Forschung, die in der analytischen Situation selbst stattfindet, und der 'extraklinischen' Forschung, die im Anschluss erfolgt - innerhalb und außerhalb der psychoanalytischen Community. Drei namhafte psychoanalytische Forscher stellen anhand eigener Studien und konzeptueller Überlegungen ihre Positionen zur Diskussion.

Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt a. M., lehrt Psychoanalyse an der Universität Kassel. Prof. Dr. Cord Benecke ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Kassel. Stephan Hau ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Stockholm. Bis 2005 war er am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. tätig.

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Leseprobe

2         Zur Vielfalt psychoanalytischer Forschung heute: Klinische und Extraklinische Forschung8


 

 

 

Wir können heute zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen psychoanalytischer Forschung unterscheiden, der klinischen und der extraklinischen Forschung. Unter der klinischen Forschung verstehen wir die genuin psychoanalytische Forschung in der psychoanalytischen Situation selbst. Ulrich Moser bezeichnete sie auch als on-line Forschung, während die extraklinische Forschung (off-line Forschung) nach den psychoanalytischen Sitzungen stattfindet und eine Vielzahl verschiedener Forschungsstrategien umfasst, wie gleich noch skizziert werden soll.

2.1        Klinische Forschung in der Psychoanalyse


Doch zuerst kurz zur klinischen Forschung: Sie findet in der Intimität der psychoanalytischen Situation statt und kann als spiralförmiger Erkenntnisprozess beschrieben werden, in dem – zusammen mit dem Analysanden – idiosynkratische Beobachtungen unbewusster Phantasien und Konflikte sukzessiv symbolisiert und auf verschiedenen Abstraktionsebenen schließlich in Worte gefasst werden, ein Verstehen, das daraufhin unsere Wahrnehmungsprozesse in folgenden klinischen Situationen unweigerlich prägt, auch wenn wir uns bemühen, in jede neue Sitzung mit

Abb. 2.1: Klinische und Extraklinische Forschung in der Psychoanalyse

der genuin psychoanalytischen Grundhaltung des »Nicht-Wissens« und der Unvoreingenommenheit9 einzutreten. Die Erkenntnisprozesse finden zuerst vor allem unbewusst und im Raum impliziter, privater Theorien statt. Nur ein kleiner Teil davon ist der bewussten Reflexion des Analytikers zugänglich (vgl. Working Party der European Psychoanalytical Federation von Bohleber, Canestri, Fonagy u. Denis, vgl. Bohleber, 2012).

Die in dieser klinischen Forschung gewonnenen Erkenntnisse werden innerhalb und außerhalb der psychoanalytischen Community kritisch zur Diskussion gestellt. In Übereinstimmung mit vielen heutigen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern ist für mich die klinische Forschung nach wie vor das Kernstück psychoanalytischer Forschung überhaupt. Sie ist mit einem charakteristischen psychoanalytischen Erfahrungsbegriff und damit verknüpften »Erkenntniswerten« verbunden (vgl. dazu u. a. Toulmin, 1977; Hampe, 2004, 2009). Die klinisch-psychoanalytische Forschung richtet sich auf das Verstehen unbewusster Sinngestalten, von persönlicher und biographischer Einmaligkeit, etwa auf die genaue Analyse des komplexen Ineinanderwirkens verschiedenster Determinanten in den Mikrowelten der Analysanden (Moser, 2009) und kann daher, wie erwähnt, als kritische Hermeneutik charakterisiert werden.

Die Professionalität des Analytikers ermöglicht ihm in einer Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit eigene Gegenübertragungsreaktionen, szenische Beobachtungen des »embodied Enactments« des Analysanden (siehe u. a. Argelander, 1967; Leuzinger-Bohleber & Pfeifer, 2002; Leuzinger-Bohleber, Henningsen & Pfeifer, 2008), auftretende Fehlleistungen und Fehlhandlungen, Träume etc. zum sukzessiven Verstehen der aktualisierten unbewussten Psychodynamik des Analysanden zu nutzen. Der typisch tastende, psychoanalytische Suchprozess nach »unbewussten Wahrheiten« kann nur zusammen mit dem Analysanden durchlaufen werden und gilt als eines der charakteristischen Merkmale der Psychoanalyse – etwa im Gegensatz zum Top-down-Vorgehen der Verhaltenstherapie. Wie dies Jonathan Lear (1995) eindrücklich ausführte, zeichnet sich daher die Psychoanalyse als das demokratischste heutiger Therapieverfahren10 aus. Verbunden damit ist das charakteristische »Wahrheitskriterium« psychoanalytischer Deutungen: Ob eine bestimmte Interpretation unbewusster Phantasien oder Konflikte »wahr« ist, kann nur zusammen mit dem Analysanden, beziehungsweise der gemeinsamen Beobachtung seiner (unbewussten und bewussten) Reaktionen auf eine Deutung beurteilt werden.11

Bekanntlich verdanken wir unserer spezifisch psychoanalytischen, klinisch-empirischen Forschungsmethode, den intensiven und minutiösen »Feldbeobachtungen« mit einzelnen Patienten in der analytischen Situation, den Großteil aller Erkenntnisse, die wir in den letzten 100 Jahren unserer Wissenschaftsgeschichte gewonnen haben – zum Beispiel auch zur Genese und Behandlung chronisch depressiver Patienten. Christina von Braun (2010) sieht zudem in der klinischen Forschung der Psychoanalyse die einzigartige Chance, die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen durch die ubiquitäre Verwertungsmentalität des globalen und »emotionalen Kapitalismus« (Illouz, 2006) im Unbewussten heutiger Menschen in der analytischen Beziehung zu erkennen und einer kritischen Reflexion zu erschließen, die nicht nur für das betroffene Individuum, sondern auch für eine Kulturanalyse hoch relevant sind.

Dennoch, damit keine Missverständnisse entstehen: Peter Fonagy hat wohl recht, wenn er darauf hinweist, dass nicht jeder Kliniker automatisch ein Forscher ist. Eine methodisch systematische Vorgehensweise, die – dank genauer Beschreibungen und einer Transparenz darauf beruhender Überlegungen – klinische Beobachtungen auch dem Verständnis und der Kritik eines Dritten zugänglich macht, ist eine Voraussetzung, dass diese Form des Erkenntnisgewinns nicht nur eine professionelle Kunst, sondern auch eine klinische Wissenschaft ist. Zwar verfügt die Psychoanalyse wie kaum eine andere klinische Disziplin über eine differenziert entwickelte Kultur der Inter- und Supervisionsgruppen, in denen – eng angelehnt an die psychoanalytische Praxis – über den klinischen Forschungs- und Erkenntnisprozess gemeinsam kritisch nachgedacht wird. Doch kann in dieser Hinsicht noch vieles verbessert werden. Viele Probleme sind wohl bekannt, beispielsweise die zufällige Auswahl von klinischen Vignetten, die theoretische Konzepte lediglich illustrieren, statt sie zu verifizieren und kritisch weiterzuentwickeln. Zudem werden oft noch zu wenig psychoanalytische Konzepte mit den Ergebnissen der extraklinischen Forschung kritisch in Verbindung gebracht, worauf weiter unten noch eingegangen wird.

Wir brauchen dringend gute klinische Forschung, nicht nur um in der Welt der Psychotherapien zu bestehen, sondern auch um unsere professionelle Behandlungskunst ständig weiterzuentwickeln (vgl. dazu auch Boesky, 2002, 2005; Chiesa, 2005; Colombo & Michels, 2007; Eagle, 1994; Haynal, 1993; Knoblauch, 2005; Lief, 1992; Mayer, 1996; Leuzinger-Bohleber, 2010a)12.

Derzeit arbeiten verschiedene Forschergruppen der IPA an einer Verbesserung der Qualität psychoanalytischer Falldarstellungen z. B. durch die Systematik des »Drei-Ebenen-Modells zur Untersuchung von Transformationsprozessen in Psychoanalysen bzw. psychoanalytischen Langzeittherapien« (Altmann, 2014). Darin wird die Methode der psychoanalytischen Expertenvalidierung angewandt, die in der DPV-Ergebnisstudie entwickelt und inzwischen in verschiedenen weiteren extraklinischen, psychoanalytischen Studien angewandt wurde (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr & Beutel, 2002, 2003, Leuzinger-Bohleber, 2011, Kap. 3)

Am IPA Kongress in Mexico City (August, 2011) stellte das Projektkomitee sein sogenanntes »Three-Level-Modell for Clinical Observation« zur Diskussion (siehe dazu Altmann, 2014). Es ist ein Modell, das verschiedenen Gruppen der IPA ermöglicht, Transformationsprozesse in Psychoanalysen und psychoanalytischen Langzeittherapien systematisch zu untersuchen. Je nach Fragestellung werden vom behandelnden Psychoanalytiker – in Absprache mit der Expertengruppe – zwei oder drei Transformationspunkte der Langzeittherapien herausgegriffen, die anhand von detaillierten Stundenprotokollen in einer Gruppe von Kollegen besprochen werden. Im Sinne der psychoanalytischen Expertenvalidierung werden die Transformationsprozesse konzeptualisiert und in narrativen Falldarstellungen zusammengefasst, die ebenfalls – bezogen auf die darin enthaltene »narrative Wahrheit« – in der Gruppe kritisch gegengelesen werden. Dadurch wird die Tradition der psychoanalytischen Falldarstellungen aufgenommen, aber systematisiert und intersubjektiv evaluiert (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, 2014).

2.2        Extraklinische Forschung in der Psychoanalyse


2.2.1     Psychoanalytische Konzeptforschung


Diese eben skizzierten neuen Formen der klinischen Forschung sind immer auch Teil einer psychoanalytischen Konzeptforschung, einem Forschungsfeld, das ebenfalls so alt ist wie die Psychoanalyse selbst. Die kreative Entwicklung und Weiterentwicklung von Konzepten zeichnete schon immer die innovativen Köpfe der Psychoanalyse aus und verleiht bis heute unserer...

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